30.08.2022

Ein hal­bes Jahr nach dem Aus­bruch des Krie­ges in der Ukrai­ne machen PRO ASYL und die Lan­des­flücht­lings­rä­te auf die Kriegs­flücht­lin­ge ohne ukrai­ni­schen Pass auf­merk­sam, die wegen neu­er Rege­lun­gen ab dem 1. Sep­tem­ber Gefahr lau­fen, in die Dul­dung zu fal­len und abge­scho­ben zu werden.

„Alle Men­schen, die vor dem Krieg in der Ukrai­ne geflo­hen sind, müs­sen gleich behan­delt wer­den: Sie müs­sen Schutz bekom­men und die Sicher­heit, sich in Deutsch­land eine Per­spek­ti­ve auf­bau­en zu kön­nen. Das gehört zu einem von der Bun­des­re­gie­rung ver­spro­che­nen Dis­kurs­wech­sel in der Asyl- und Migra­ti­ons­po­li­tik“, sagt Wieb­ke Judith, Team­lei­te­rin Recht & Advo­ca­cy bei PRO ASYL.

Sie sind vor den­sel­ben Bom­ben aus der Ukrai­ne geflo­hen – doch in Deutsch­land gel­ten für sie nicht die­sel­ben Rech­te: Schutz­su­chen­de mit und ohne ukrai­ni­sche Staats­bür­ger­schaft. Laut Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um haben 97 Pro­zent der aus der Ukrai­ne nach Deutsch­land geflo­he­nen Men­schen einen ukrai­ni­schen Pass. Somit haben cir­ca drei Pro­zent,  rund 29.000 Men­schen, bis­lang nicht die Sicher­heit des vor­rü­ber­ge­hen­den Schut­zes – und sol­len ihn nach dem Wil­len des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums auch wei­ter­hin nicht bekommen.

Bis zum 31. August dür­fen die­se mit Hil­fe einer Über­gangs­re­ge­lung noch ohne Visum und ohne einen Auf­ent­halts­ti­tel in Deutsch­land leben. Doch am 1. Sep­tem­ber wird ihr Sta­tus äußerst pre­kär: Wer sich dann län­ger als 90 Tage in Deutsch­land auf­ge­hal­ten und noch kei­ne Auf­ent­halts­er­laub­nis hat, wird aus­reis­pflich­tig und könn­te abge­scho­ben wer­den. Über einen recht­zei­ti­gen Antrag auf eine Auf­ent­halts­er­laub­nis kann zumin­dest zwi­schen­zeit­lich durch die ent­ste­hen­de Fik­ti­ons­wir­kung der Auf­ent­halt bis zur Ent­schei­dung über den Antrag legal bleiben.

Bun­des­land Ber­lin geht mit gutem Bei­spiel vor­an – aber aus­rei­chend ist das nicht

„Es ist uner­träg­lich, dass dem­nächst aus der Ukrai­ne nach Deutsch­land geflo­he­ne Men­schen abge­scho­ben wer­den könn­ten. Auch wenn sie den Pass eines ande­ren Lan­des haben, ist für vie­le der Krieg in der Ukrai­ne eine Kata­stro­phe, die Lebens­per­spek­ti­ven sind zer­stört. Deutsch­land soll­te ihnen mit einem dem tem­po­rä­ren Schutz ver­gleich­ba­ren Auf­ent­halts­recht end­lich Schutz und Sicher­heit geben“, sagt Tareq Alaows vom Flücht­lings­rat Ber­lin im Namen der Lan­des­flücht­lings­rä­te. Das hat­ten PRO ASYL und die Lan­des­flücht­lings­rä­te auch schon im Vor­feld der Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz im Juni 2022 von der Bun­des- und Lan­des­po­li­tik gefor­dert.

Das Bun­des­land Ber­lin geht einen ers­ten Schritt in die­se Rich­tung und erteilt zumin­dest allen stu­die­ren­den Dritt­staats­an­ge­hö­ri­gen aus der Ukrai­ne eine Fik­ti­ons­be­schei­ni­gung, mit der sie sich sechs Mona­te lang wei­ter­hin legal in Deutsch­land auf­hal­ten dür­fen. Doch das wird häu­fig nicht rei­chen, um die hohen Anfor­de­run­gen an eine Auf­ent­halts­er­laub­nis zu Stu­di­en­zwe­cken oder zur Erwerbs­tä­tig­keit zu erfül­len. „Die Initia­ti­ve aus Ber­lin ist zu begrü­ßen, jedoch wird das Pro­blem so nur um sechs Mona­te ver­scho­ben und nicht gelöst“, sagt Tareq Alaows. „Zudem reicht es nicht, dass ein­zel­ne Län­der aktiv wer­den. Das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um muss eine bun­des­ein­heit­li­che Lösung erar­bei­ten“, for­dert Wieb­ke Judith.

Das Min­des­te, das getan wer­den muss: Alle Betrof­fe­nen müs­sen eine Fik­ti­ons­be­schei­ni­gung bekom­men, die ein Jahr gül­tig ist, damit sie in die­sen zwölf Mona­ten die Chan­ce haben, die Vor­aus­set­zun­gen für eine Auf­ent­halts­er­laub­nis zu erfül­len. Das muss das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um an alle zustän­di­gen Lan­des- und Kom­mu­nal­be­hör­den kommunizieren.

Wenn Deutsch­land die­se Men­schen hal­ten könn­te, wäre das auch ein Bei­trag zum Kampf gegen den Fach­kräf­te- und Arbeits­kräf­te­man­gel, da vie­le aus die­ser Grup­pe sich um Arbeit, Aus­bil­dung oder Stu­di­um bemü­hen. Deutsch­land braucht jähr­lich cir­ca 400.000 Men­schen, um den Bedarf an Fach­kräf­ten zu decken. Es wäre also ein para­do­xer Schritt, Men­schen, die bereits hier sind, abzuschieben.

Zum Hin­ter­grund:

Die Grup­pe der Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne ohne ukrai­ni­schen Pass ist viel­fäl­tig. Es gibt Stu­die­ren­de – vie­le kurz vor dem Abschluss – zum Bei­spiel aus West- und Nord­afri­ka und der Tür­kei, denen das Stu­di­um in ihrem jewei­li­gen Her­kunfts­land aus poli­ti­schen oder sozio-öko­no­mi­schen Grün­den ver­wehrt ist. Zur Grup­pe gehö­ren zudem zum Bei­spiel Geschäfts­leu­te aus Viet­nam; Men­schen, die sich den repres­si­ven Regi­men in Minsk und Mos­kau ent­zo­gen haben; Arbeitnehmer*innen aus Usbe­ki­stan und ande­ren Anrai­ner­staa­ten. Hin­zu kom­men die de fac­to staa­ten­lo­sen Men­schen (unter ande­rem Ange­hö­ri­ge der Rom*nja Min­der­heit), die ihr gesam­tes Leben in der Ukrai­ne ver­bracht haben. Sie alle haben ihren Lebens­mit­tel­punkt mit dem Aus­bruch des Krie­ges in der Ukrai­ne verloren.

Dritt­staa­ten­an­ge­hö­ri­ge bekom­men nur unter den eng gefass­ten Vor­aus­set­zun­gen, dass sie nicht unter „siche­ren und dau­er­haf­ten Bedin­gun­gen“ in ihr Her­kunfts­land zurück­keh­ren kön­nen, einen Schutz­sta­tus inne­hat­ten oder in Fami­li­en­ein­heit mit ukrai­ni­schen Staatsbürger*innen leb­ten, eine Auf­ent­halts­er­laub­nis auf Grund­la­ge des EU-Beschlusses.

 

 

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