Afghanische Flüchtlinge sind in der Türkei schutzlos
PRO ASYL warnt vor dem morgigen EU-Gipfel eindringlich vor einem neuen EU-Türkei-Deal und den geplanten Zurückschiebungen aus der EU in die Türkei. Für Flüchtlinge gibt es in der Türkei weder Schutz noch Perspektiven – dies gilt insbesondere für afghanische Flüchtlinge. Afghanistan ist das Hauptherkunftsland von neuankommenden Schutzsuchenden in der Türkei, sie sind eine der größten Flüchtlingsgruppe in Griechenland.
Eine von PRO ASYL in Auftrag gegebene Studie zeigt deutlich, dass afghanische Schutzsuchende in der Türkei in einer verzweifelten Lage sind. Die meisten sind in die Illegalität gedrängt und leben in der ständigen Angst vor Inhaftierung und Abschiebung. Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat. »Wer das Gegenteil annimmt, schließt vor der Realität in der Türkei die Augen und Ohren«, warnt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. »Es darf keinen neuen Deal auf Kosten der Menschenrechte geben«. Tausende wurden und werden ohne Prüfung der Fluchtgründe, ohne Chance auf Schutz einfach so aus der Türkei nach Afghanistan abgeschoben.
Zur Situation von afghanischen Flüchtlingen in der Türkei
Afghanische Schutzsuchende erhalten keinen Schutz durch den türkischen Staat. Theoretisch können afghanische Schutzsuchende in der Türkei versuchen in das Resettlementprogramm der UN zu kommen. Praktisch gibt es kaum eine Chance.
Verfestigte Verwaltungspraktiken zwingen sie in ein Leben in Illegalität. Zu diesem Fazit kommt eine von der Stiftung PRO ASYL in Auftrag gegebene Kurzstudie. Basierend auf Interviews mit türkischen Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen und der Analyse von Berichten staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen wurden die Hauptprobleme von afghanischen Schutzsuchenden in der Türkei herausgearbeitet.
Mit System: Zugang zur Registrierung bleibt versperrt
Der mangelhafte Zugang zur Registrierung ist das zentrale Problem für Schutzsuchende in der Türkei. Ohne Registrierung und damit ohne Ausweis ist der Aufenthalt in der Türkei unrechtmäßig. Inhaftierung und Abschiebung sind jederzeit möglich. Die Schwierigkeit wird auch in der Statistik deutlich: Während 2019 über 200.000 Afghan*innen ohne gültige Dokumente aufgegriffen wurden, wurden lediglich 35.000 Anträge auf Schutz registriert.
Covid-19 verschärft die Situation
2020 hat sich die Problematik zugespitzt, in vielen Provinzen, etwa in Izmir und Konya, wurde die Registrierung vorläufig gestoppt. Zusätzlich verschärfte eine weitere Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie die Situation: Zur Nachverfolgung von Infektionsketten wurde der sogenannte HES Code eingeführt. Er ist zwingend etwa für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs oder beim Betreten öffentlicher Gebäude – wie dem PDMM – vorzuweisen. Für die Ausstellung des Codes wird ein Ausweisdokument benötigt. Schutzsuchende ohne Registrierung und damit ohne Ausweis brauchen einen HES Code, um Zugang zum PDMM und damit zur Registrierung zu erhalten. Ohne jedoch einen HES-Code zu haben, bleibt der Zugang zum PDMM versperrt.
Die Lage von Menschen ohne Registrierung
Die meisten Geflüchteten versuchen in den urbanen Zentren der Türkei zu überleben. Seit einer Gesetzesverschärfung 2019 wird die Vermietung von Wohnraum an Personen ohne Dokumente sanktioniert. Für nichtregistrierte Geflüchtete ohne Reisepapiere besteht ständig die Gefahr der Inhaftierung.
Blackbox Abschiebehaft
Anwält*innen und NGO-Mitarbeiter*innen berichten, dass afghanische Geflüchtete in Abschiebehaft dazu gedrängt werden, die Dokumente zur »freiwilligen Rückkehr« zu unterschreiben. Laut UNHCR, dem eine Überwachungsfunktion bei der freiwilligen Ausreise zukommt, fanden im Zeitraum Anfang Januar bis Ende August 2020 8.900 freiwillige Ausreisen statt. NGOs bezweifeln, dass die Ausreisen aus der Abschiebehaft als »freiwillig« anzusehen sind. Auch das Ausmaß bleibt unklar. NGOs wagen keine Schätzungen und von staatlicher Seite liegen keine Statistiken vor.
Ähnlich wie die EU setzt auch die Türkei auf verstärkte Kooperation mit Drittstaaten, um Abschiebezahlen zu erhöhen. Insbesondere seit 2018 werden die Beziehungen zu Afghanistan in dem Bereich intensiviert. Zwar berichten Anwält*innen, das 2020 Abschiebungen aufgrund der Pandemie offiziell eingestellt wurden, jedoch wurden in den ersten sieben Monaten 2020 6.000 Abschiebungen nach Afghanistan aus der Türkei registriert. Laut Berichten sind besonders alleinstehende afghanische Männer von Abschiebungen aus Izmir, Van, Gaziantep, Adana und Kayseri betroffen gewesen. Die afghanische NGO AMASO spricht für das Gesamtjahr 2020 von fast 12.000 afghanischen Geflüchteten, die aus der Türkei in das Bürgerkriegsland abgeschoben wurden.