01.10.2020

Bilanz zum Tag des Flücht­lings am 2. Okto­ber 2020

Anläss­lich des bun­des­wei­ten Tags des Flücht­lings am mor­gi­gen 2. Okto­ber zieht PRO ASYL auf der Grund­la­ge der Halb­jah­res­sta­tis­tik 2020 ernüch­tert Bilanz: Die Flücht­lings­zah­len welt­weit stei­gen, Krieg, Gewalt und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Län­dern wie Syri­en oder Afgha­ni­stan bestehen seit Jah­ren fort, doch in Deutsch­land ist gemes­sen an den Asyl­zu­gangs­zah­len von die­sen erschüt­tern­den Zustän­den wenig zu spüren.

Im ers­ten Halb­jahr 2020 ging die Zahl der Asyl­su­chen­den erneut deut­lich zurück: Mit gera­de mal 47.300 Asy­l­erst­an­trä­gen wur­den bis Mit­te des Jah­res  im Ver­gleich zum Vor­jah­res­zeit­raum über 35% weni­ger Anträ­ge regis­triert (Quel­le: BAMF). Da mehr als ein Vier­tel die­ser Anträ­ge für hier gebo­re­ne Kin­der gestellt wur­de, lag der rea­le Zuzug neu­er Asyl­su­chen­der im ers­ten Halb­jahr bei nur rund 35.000. Gerin­ge­re Zugangs­zah­len gab es hier­zu­lan­de zuletzt 2012.

In Deutsch­land sind erheb­li­che huma­ni­tä­re Auf­nah­me­ka­pa­zi­tä­ten frei. Deutsch­land wäre in der Lage zu einer groß­zü­gi­gen Auf­nah­me aus Moria. Zahl­rei­che Kom­mu­nen und Bun­des­län­der haben Auf­nah­me­be­reit­schaft signa­li­siert, wer­den jedoch von der Bun­des­re­gie­rung, vor allem von Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer aus­ge­bremst. Des­sen auf Kos­ten der Men­schen­rech­te gebets­müh­len­ar­tig wie­der­hol­ter Ver­weis auf eine euro­päi­sche Lösung ist schä­big. Das Ein­zi­ge, wor­auf Euro­pa sich zuse­hends zu eini­gen scheint ist, den Weg zum Recht auf Asyl zu ver­sper­ren. Kein Land nimmt in nen­nens­wer­ter Anzahl Men­schen von den grie­chi­schen Inseln auf – auch nicht Deutsch­land. Tau­sen­de wer­den ihrem Schick­sal ohne Per­spek­ti­ve überlassen.

PRO ASYL erneu­ert die For­de­rung nach Auf­nah­me aller Schutz­su­chen­den von den grie­chi­schen Inseln, vor allem in Deutsch­land. Es ist beschä­mend und inak­zep­ta­bel, dass Euro­pa immer mehr die Gren­zen  dicht macht und selbst mini­ma­le huma­ni­tä­re Spiel­räu­me ver­sperrt werden.

Zu den Halb­jah­res­zah­len 2020 im Einzelnen

Die Haupt­her­kunfts­län­der in Deutsch­land waren auch in der ers­ten Jah­res­hälf­te 2020 Syri­en, Irak, Afgha­ni­stan, Tür­kei und Iran, wobei allein Syri­en mehr als 28% der Erst­an­trä­ge neu ein­ge­reis­ter Asyl­su­chen­der ausmachte.

Obwohl sich die Lage in den Haupt­her­kunfts­län­dern kaum bes­sert, erteilt das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) neu ein­rei­sen­den Asyl­su­chen­den immer sel­te­ner Flücht­lings­schutz. Zwar machen Flücht­lings­an­er­ken­nun­gen in der offi­zi­el­len Sta­tis­tik  mit 19.700 mehr als dop­pelt so viel wie die Gewäh­rung sub­si­diä­ren inter­na­tio­na­len Schut­zes (9.100) aus. Aller­dings sind fast 15.500 davon auf das so genann­te Fami­li­en­asyl zurück­zu­füh­ren, ins­be­son­de­re weil sich der Sta­tus von hier gebo­re­nen Kin­dern aner­kann­ter Flücht­lin­ge vom Sta­tus ihrer Eltern ablei­tet.  Auch über den Fami­li­en­nach­zug nach Deutsch­land ein­ge­reis­te Men­schen (z.B. Ehegatt*innen), die trotz Auf­ent­halts­ti­tel zur Sta­tus­klä­rung Fami­li­en­asyl bean­tra­gen, fin­den sich dar­un­ter (Quel­le:  BT-Druck­sa­che 19/22023).

Bei Syri­en wird dies beson­ders deut­lich: Nur rund 3% sind eigen­stän­di­ge GFK-Aner­ken­nun­gen, 97% sind abge­lei­tet. Auch Men­schen aus Eri­trea – die wie Syrer*innen bis zur Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs für sub­si­di­är Geschütz­te zu fast 100% als Flücht­lin­ge aner­kannt wur­den – sind in glei­chem Maße von die­ser Pra­xis betrof­fen.  Auch bei ihnen  lei­ten sich 97% der Flücht­lings­an­er­ken­nun­gen von aner­kann­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen ab. Das heißt: Neu Ein­ge­reis­te erhal­ten i.d.R. maxi­mal den sub­si­diä­ren Schutz, wodurch sie kei­nen Rechts­an­spruch auf Fami­li­en­nach­zug haben und noch län­ger auf ihre Ange­hö­ri­gen war­ten müs­sen, als die oft­mals schon vie­le Jah­re war­ten­den Men­schen mit Flücht­lings­an­er­ken­nung. Auch Geflüch­te­te aus dem Irak (94% der Flücht­lings­an­er­ken­nun­gen sind abge­lei­tet) und aus Afgha­ni­stan (72%) sind über­pro­por­tio­nal stark von die­ser Pra­xis betroffen.

BAMF lehnt tau­send­fach zu Unrecht ab

Ableh­nungs­be­schei­de des Bun­des­amts wer­den zu Tau­sen­den durch die Ver­wal­tungs­ge­rich­te kor­ri­giert – ohne dass die Behör­de dar­aus Leh­ren für ihre Ent­schei­dungs­pra­xis zieht. Nach­dem die Auf­he­bungs­quo­te bei inhalt­li­chen Über­prü­fun­gen der BAMF-Beschei­de durch die Gerich­te in den letz­ten Jah­ren gesun­ken ist, stieg sie im lau­fen­den Jahr wie­der auf 30% an. Das bedeu­tet, dass fast ein Drit­tel der inhalt­lich über­prüf­ten BAMF-Beschei­de rechts­wid­rig waren. Beson­ders hoch war die Feh­ler­quo­te bei Afgha­ni­stan: Hier hoben die Gerich­te mit 55% mehr als jede zwei­te Ent­schei­dung auf.

Ent­schei­dun­gen zu Soma­lia wur­den in fast der Hälf­te aller Fäl­le (48%) auf­ge­ho­ben, zum Iran in 40% der Fäl­le, Eben­falls sehr hohe gericht­li­che Auf­he­bungs­quo­ten wei­sen Eri­trea (39%), die Tür­kei, der Irak (je 28%) und Syri­en (27%) auf – auch vor Gericht erfolg­rei­che Syrer*innen erhiel­ten in fast der Hälf­te der inhalt­lich geprüf­ten Fäl­le (46%) die Aner­ken­nung als Flüchtling.

Ange­sichts immer noch fast 230.000 anhän­gi­gen Asyl­kla­ge­ver­fah­ren dau­ern Gerichts­ver­fah­ren im Durch­schnitt 22 Mona­te, also annä­hernd zwei Jah­re, in man­chen Fäl­len sogar weit dar­über. Eine uner­träg­lich lan­ge Zeit, in denen die Betrof­fe­nen in Unsi­cher­heit leben müs­sen, ihre Zukunft nicht pla­nen kön­nen und von den Ange­hö­ri­gen getrennt sind, sofern die­se im Her­kunfts­land ver­blei­ben mussten.

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