01.08.2022

Gute Nach­richt für zer­ris­se­ne Fami­li­en: Der Euro­päi­sche Gerichts­hof hat heu­te der euro­pa­rechts­wid­ri­gen Pra­xis deut­scher Behör­den, einem voll­jäh­rig gewor­de­nen Kind die Zusam­men­füh­rung mit den Eltern zu ver­weh­ren, eine kla­re Absa­ge erteilt. Ent­schei­dend für das Recht auf Fami­li­en­nach­zug sei, dass das Kind min­der­jäh­rig war, als der Asyl­an­trag gestellt wurde.

In gleich zwei heu­te ergan­ge­nen Urtei­len gegen Deutsch­land stellt der Euro­päi­schen Gerichts­hofs in Luxem­burg (EuGH) unmiss­ver­ständ­lich fest, dass die bis­he­ri­ge deut­sche Pra­xis beim Fami­li­en­nach­zug von bzw. zu Kin­dern „weder mit den Zie­len der Richt­li­nie betref­fend das Recht auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung noch mit den Anfor­de­run­gen im Ein­klang stün­de, die sich aus der Char­ta der Grund­rech­te der Euro­päi­schen Uni­on ergeben“.

Für Deutsch­land bedeu­tet dies eine 180-Grad-Wen­de, denn bis­lang ver­wei­gert das Aus­wär­ti­ge Amt trotz eines gleich­lau­ten­den Urteils des EuGH von 2018 die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung, sobald die Kin­der voll­jäh­rig gewor­den sind – obwohl dies zum Bei­spiel an den lan­gen Asyl­ver­fah­ren oder den lan­gen Ver­fah­ren zum Fami­li­en­nach­zug liegt. Nach die­ser Logik büßen die Fami­li­en dafür, dass die deut­sche Büro­kra­tie so lang­sam arbei­tet. Damit ist nun Schluss: Laut dem EuGH kann der Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug für Flücht­lin­ge durch die ein­tre­ten­de Voll­jäh­rig­keit der Kin­der nicht ver­lo­ren gehen.

„Vie­le durch die Flucht zer­ris­se­nen Fami­li­en kön­nen nach den Urtei­len auf­at­men: ihr Anspruch auf Fami­li­en­nach­zug besteht wei­ter, auch wenn ein Kind voll­jäh­rig wird. Es ist aber ein Skan­dal, dass Deutsch­land die­se Fami­li­en vier wei­te­re Jah­re hin­ge­hal­ten hat, obwohl die Rechts­la­ge bereits nach dem Urteil des EuGHs von 2018 ein­deu­tig war. Den Fami­li­en wur­de so wert­vol­le Zeit geraubt. Die neue Bun­des­re­gie­rung muss dies jetzt zügig gesetz­lich anpas­sen und auch wei­te­re not­wen­di­ge Schrit­te zur Beschleu­ni­gung des Fami­li­en­nach­zugs gehen. Denn ange­sichts der wei­ter­hin zähen Ver­fah­ren zum Fami­li­en­nach­zug wird für vie­le in Deutsch­land aner­kann­te Flücht­lin­ge die Fra­ge offen blei­ben, wann sie ihre engs­ten Ange­hö­ri­gen in die Arme schlie­ßen kön­nen“, so Wieb­ke Judith, Team­lei­tung Recht & Advo­ca­cy bei PRO ASYL.

Die Urtei­le bezie­hen sich auf zwei Fall­kon­stel­la­tio­nen: In einem Fall geht es um die Situa­ti­on, wenn Eltern zu ihrem in Deutsch­land leben­den Kind nach­zie­hen möch­ten, das hier eine Flücht­lings­an­er­ken­nung erhal­ten hat. In dem ande­ren Fall geht es um den Nach­zug von Kin­dern zu ihren in Deutsch­land leben­den und als Flücht­ling aner­kann­ten Eltern.

Bis­he­ri­ge deut­sche Rechtsauffassung

Die deut­sche Regie­rung ver­tritt bis­lang die Auf­fas­sung, dass es beim Fami­li­en­nach­zug auf den Zeit­punkt ankommt, zu dem das nach­zie­hen­de Fami­li­en­mit­glied den Visum­an­trag gestellt hat oder zu dem das Visum erteilt wur­de. Ist das Kind zu die­sem Zeit­punkt bereits 18 Jah­re oder älter, wur­de ihm das Recht abge­spro­chen, zu sei­nen Eltern ein­zu­rei­sen, oder den Eltern das Recht abge­spro­chen, zu ihrem Kind einzureisen.

Die­se Rechts­auf­fas­sung nahm in den letz­ten Jah­ren unzäh­li­gen Fami­li­en die Mög­lich­keit in Deutsch­land zusam­men zu leben, obwohl bei min­des­tens einem Fami­li­en­mit­glied eine Flücht­lings­an­er­ken­nung vor­lag. Und das meist unver­schul­det, denn häu­fig wer­den die Kin­der wäh­rend der lan­gen Visa­ver­fah­ren und zum Teil der sich anschlie­ßen­den Kla­ge­ver­fah­ren voll­jäh­rig. Davon betrof­fe­ne Fami­li­en, die ohne­hin durch die lan­gen Ver­fah­ren lit­ten, wur­den oben­drein damit bestraft, dass ihnen dann auch noch das Recht auf Fami­li­en­le­ben genom­men wird.

Außer­dem öff­ne­te die­se Rechts­aus­le­gung Tür und Tor für Ungleich­be­hand­lung: Wenn eine Behör­de einen Antrag schnel­ler bear­bei­tet und einen ande­ren schlicht ein­fach lie­gen lässt, hat sie die Macht dar­über zu ent­schei­den, dass die eine Fami­lie zusam­men­le­ben darf, wäh­rend einer ande­ren Fami­lie die­ses Recht vor­ent­hal­ten wird. Für die Betrof­fe­nen blieb daher bis­her völ­lig unvor­her­seh­bar, ob sie das Recht auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung in Anspruch neh­men kön­nen, was die Rechts­si­cher­heit beein­träch­tig­te. Das sieht auch der EuGH in sei­nen Urtei­len heu­te so und fügt außer­dem an: „Die zustän­di­gen natio­na­len Behör­den und Gerich­te hät­ten dann näm­lich kei­ne Ver­an­las­sung, die Anträ­ge der Eltern Min­der­jäh­ri­ger mit der Dring­lich­keit, die gebo­ten ist, um der Schutz­be­dürf­tig­keit der Min­der­jäh­ri­gen Rech­nung zu tra­gen, vor­ran­gig zu bear­bei­ten, und könn­ten somit in einer Wei­se han­deln, die das Recht auf Fami­li­en­le­ben sowohl eines Eltern­teils mit sei­nem min­der­jäh­ri­gen Kind als auch des Kin­des mit einem Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen gefähr­den würde.“

Eigent­lich hat­te der EuGH bereits im April 2018 anhand eines Falls aus den Nie­der­lan­den, bei dem es um den Nach­zug eines Kin­des zu einem als Flücht­ling aner­kann­ten Vater ging, bereits deut­lich gemacht, dass es auf den Zeit­punkt der Asyl­an­trags­stel­lung des aner­kann­ten Flücht­lings ankommt. Urtei­le des EuGHs gel­ten ver­bind­lich für alle Mit­glied­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on und geben vor, wie Uni­ons­recht aus­zu­le­gen ist. Die deut­sche Regie­rung igno­rier­te die­ses Urteil aber bis­lang und behaup­te­te, die Rechts­la­ge in den Nie­der­lan­den sei mit der in Deutsch­land nicht zu vergleichen.

Zu den Urteilen

In dem Urteil zu der Rechts­sa­che 279/20 geht es um eine jun­ge Syre­rin, die zu ihrem Vater zie­hen möch­te. Als der Vater sei­nen Asyl­an­trag in Deutsch­land stell­te, war sie noch 17 Jah­re alt, als ihm die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuer­kannt wur­de und er den Antrag auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung end­lich stel­len konn­te, war sie bereits 18 Jah­re alt.

Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt leg­te den Fall dem EuGH vor, mit der Fra­ge, ob es nach der EU-Richt­li­nie beim Kin­der­nach­zug zu Flücht­lin­gen für die Min­der­jäh­rig­keit des nach­zugs­wil­li­gen Kin­des auf den Zeit­punkt der Asyl­an­trag­stel­lung des Flücht­lings (hier also des Vaters) ankommt. Zudem woll­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt vom EuGH wis­sen, wel­che Anfor­de­run­gen an das Bestehen von tat­säch­li­chen fami­liä­ren Bin­dun­gen zwi­schen dem inzwi­schen voll­jäh­rig gewor­de­nen Kind und dem Flücht­ling zu stel­len sind. Die Schluss­an­trä­ge des Gene­ral­an­walt Coll­ins vom 16.12.2021 hat­ten bereits mut­ma­chen­de Signa­le für eine Stär­kung des Rechts auf Fami­li­en­nach­zug gege­ben. Heu­te ist die Klä­ge­rin 23 Jah­re alt und war­tet seit dem Tod ihrer Mut­ter in der Tür­kei auf den Fami­li­en­nach­zug zu ihrem Vater.

In der Ent­schei­dung zu den ver­bun­de­nen Rechts­sa­chen C‑273/20 und C‑355/20 geht es um syri­sche Kin­der, die als unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge nach Deutsch­land kamen und hier als Flücht­lin­ge aner­kannt wur­den. Die dar­auf­hin gestell­ten Visa-Anträ­ge der Eltern zur Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung wur­den abge­lehnt, weil die Kin­der zwi­schen­zeit­lich voll­jäh­rig gewor­den waren. Unter Beru­fung auf die o.g. EuGH-Ent­schei­dung im Jahr 2018 ver­pflich­te­te das ange­ru­fe­ne Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin mit Urtei­len vom 01. Febru­ar 2019 sowie vom 30. Janu­ar 2019 die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land jeweils zur Ertei­lung der bean­trag­ten Visa an die Eltern. Gegen die­se Ent­schei­dun­gen leg­te die Bun­des­re­pu­blik Sprung­re­vi­si­on zum Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt ein, das dem EuGH die­se Kon­stel­la­ti­on noch ein­mal vor­leg­te. Heu­te sind die Kläger*innen 23 Jah­re alt und war­ten wei­ter­hin auf ihre Eltern.

 

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