20.06.2016

Pres­se­mit­tei­lung von PRO ASYL und Säch­si­scher Flücht­lings­rat e.V.

Aus­län­der­be­hör­den, Jus­tiz und Lan­des­re­gie­rung scheint eines zu ver­bin­den: der Wil­le zur Abschie­bung um fast jeden Preis

Kaum irgend­wo wird der­zeit so bru­tal abge­scho­ben wie in Sach­sen. Fäl­le aus April und Mai bele­gen: Die Behör­den neh­men Fami­li­en­tren­nun­gen dabei in Kauf. Ernst­haf­te gesund­heit­li­che Pro­ble­me von Abzu­schie­ben­den wer­den igno­riert und die Betrof­fe­nen im Vor­feld aus­ge­trickst. Säch­si­sche Gerich­te sekun­die­ren der Lan­des­re­gie­rung und bil­li­gen im Nach­hin­ein Ver­stö­ße gegen Arti­kel 6 des Grund­ge­set­zes (Schutz der Fami­lie) sowie die UN-Kinderrechtskonvention.

Fall 1: Abschie­bung trotz schwe­rer Erkran­kung reißt Fami­lie auseinander

Knapp zwei Wochen nach der Tren­nung sei­ner Fami­lie fasst Sami Bekir den Umgang von säch­si­schen Behör­den und der Jus­tiz mit sei­ner Fami­lie zusam­men: „Erst habe ich der Aus­län­der­be­hör­de ver­traut. Dort ver­spra­chen sie mir, mir einen Pass für Staa­ten­lo­se aus­zu­stel­len und sie mach­ten Azbi­je (Bekirs Lebens­ge­fähr­tin und Mut­ter gemein­sa­mer Kin­der) Hoff­nun­gen, ihre Erkran­kun­gen unter­su­chen zu las­sen und zu berück­sich­ti­gen. Statt­des­sen wur­de Azbi­je mit den drei Jüngs­ten nach Maze­do­ni­en abge­scho­ben. Dann ver­trau­te ich auf das Ver­wal­tungs­ge­richt und dass es unse­ren Fall prü­fen wür­de. Die­se Hoff­nung platz­te aber schon nach 24 Stun­den.“ Heu­te weiß Sami Bekir, dass die Ver­spre­chun­gen der Aus­län­der­be­hör­de ein Trick waren. Die Abschie­bung wur­de hin­ter den Kulis­sen min­des­tens seit dem 2. Febru­ar 2016 vor­be­rei­tet. Umso plötz­li­cher traf sie die Fami­lie in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai. Um zwei Uhr mor­gens ste­hen etwa 20 Beamt*innen vor der Woh­nungs­tür der Fami­lie von Sami Bekir und Azbi­je Kam­bero­vik. Sie kün­di­gen an, Frau Kam­bero­vik nun abzu­schie­ben, die Mut­ter nimmt die drei jüngs­ten Kin­der mit, um 11.50 Uhr lan­den die vier in Mazedonien.

Um einen effi­zi­en­ten Ablauf zu gewäh­ren, schre­cken säch­si­sche Poli­zei­be­hör­den auch nicht vor der Gefähr­dung von Men­schen­le­ben zurück. Bekir hat­te die mit der Abschie­bung befass­ten Polizeibeamt*innen gebe­ten, wegen einer Herz­krank­heit sei­ner Frau und der Belas­tung in der Stress­si­tua­ti­on noch vor dem Flug eine ärzt­li­che Unter­su­chung für sie zu ver­an­las­sen. Dies wur­de zuge­sagt, aller­dings: Frau Kam­bero­vik hat in den letz­ten Stun­den in Deutsch­land kei­nen Arzt mehr zu Gesicht bekom­men, nicht ein­mal für eine letz­te Unter­su­chung zur Flug­fä­hig­keit. Eine Kom­mu­ni­ka­ti­on­s­pan­ne? Wohl kaum.

Ver­wal­tungs­ge­richt nimmt sei­ne Kon­troll­funk­ti­on nicht wahr

Nach deut­schem Recht kön­nen schwer­wie­gen­de Erkran­kun­gen ein Hin­der­nis für den Voll­zug einer Abschie­bung sein. Jeden­falls muss dies geprüft wer­den. Was die abschie­ben­de Behör­de unter­las­sen hat, will auch das von Samir Bekir ange­ru­fe­ne Ver­wal­tungs­ge­richt (VG) Dres­den nicht zur Kennt­nis neh­men bzw. ein­for­dern. Einen ent­spre­chen­den Antrag lehn­te das VG Dres­den inner­halb von 24 Stun­den nach Ein­gang ab. Der samt Begrün­dung 100 Sei­ten star­ke Antrag kann in die­sem Zeit­raum wohl kaum ernst­haft geprüft wor­den sein. Es wirkt zynisch, wenn in der Begrün­dung der ableh­nen­den Ent­schei­dung argu­men­tiert wird, dass die Erkran­kun­gen von Frau Kam­bero­vik kei­ne Rei­se­un­fä­hig­keit zur Fol­ge gehabt hät­ten. Schließ­lich bewei­se die voll­zo­ge­ne Abschie­bung dies. Das blo­ße Über­le­ben des Flu­ges wird zum Maß­stab. Damit stützt das Gericht die Hal­tung der Behör­den, die einen Herz­in­farkt der Mut­ter in Kauf genom­men hätten.

Bekirs Staa­ten­lo­sig­keit, ein wesent­li­cher Grund für die lang­jäh­ri­ge Flucht­ge­schich­te der Fami­lie, wird igno­riert. Die Fami­lie kön­ne ja in Maze­do­ni­en gemein­sam leben. Dort aller­dings wur­de die Fami­lie 1999 Opfer eines Brand­an­schlags auf ihr Haus, zwei der Kin­der erlit­ten schwers­te Ver­bren­nun­gen. Die Fami­lie flieht zunächst nach Bos­ni­en. Es folg­ten Flucht, Abschie­bun­gen und Fami­li­en­tren­nun­gen – alles Kon­se­quen­zen des Unwil­lens Bos­ni­ens wie Maze­do­ni­ens, sich der Fami­lie anzu­neh­men und ihr einen lega­len Dau­er­auf­ent­halt zu ver­schaf­fen. Bei­de Staa­ten begrün­de­ten dies in der Ver­gan­gen­heit immer wie­der mit der Staa­ten­lo­sig­keit Bekirs. 2009 ent­schloss sich die Fami­lie, nach Deutsch­land zu flie­hen und stell­te einen Asyl­an­trag. Dem ableh­nen­den Bescheid des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge folg­te die Ein­le­gung von Rechts­mit­teln sowie ein Antrag auf Aus­stel­lung einer Auf­ent­halts­er­laub­nis aus huma­ni­tä­ren Grün­den (§ 25V Auf­enthG). Auch letz­te­rer wur­de von den Behör­den abge­lehnt und befin­det sich seit nun­mehr 5 Jah­ren im Wider­spruchs­ver­fah­ren am VG Dres­den. Ohne eine Ent­schei­dung wur­de die Fami­lie nach 7 Jah­ren Auf­ent­halt wie­der bru­tal durch eine Abschie­bung auseinandergerissen.

Das VG Dres­den woll­te sich erneut weder mit den kon­kre­ten Umstän­den der Abschie­bung noch den gesund­heits­be­ding­ten Abschie­bungs­hin­der­nis­sen befas­sen, die Odys­see der staa­ten­lo­sen Fami­lie blieb ohne­hin außen vor. Der grund­ge­setz­lich ver­an­ker­te Schutz der Fami­lie bleibt eben­so auf der Stre­cke wie der Schutz der Gesund­heit und der kör­per­li­chen Unversehrtheit.

Abschie­bun­gen bei Nacht und Nebel ohne Ankün­di­gung des kon­kre­ten Ter­mins neh­men auch außer­halb Sach­sens zu. Die jüngs­ten Asyl­pa­ke­te legen die­se Pra­xis den Behör­den nah. In Sach­sen schei­nen jedoch häu­fi­ger Abschie­bun­gen voll­zo­gen zu wer­den, bei denen Fami­li­en getrennt werden.

Fall 2: Abschie­bung trennt Min­der­jäh­ri­gen von Mut­ter und Bruder

Ein wei­te­rer Fall ereig­ne­te sich bereits im April in Grim­ma. Am 5. April 2016 wird Frau D. gemein­sam mit ihrem ältes­ten Sohn in den „siche­ren“ Dritt­staat Polen abge­scho­ben. Als am Nach­mit­tag der jüngs­te Sohn nach Hau­se kommt, sind Mut­ter und 16-jäh­ri­ger Bru­der bereits ver­schwun­den. Nicht nur im Hin­blick auf die Fami­li­en­tren­nung ähnelt sich das Mus­ter. D. war in psy­cho­the­ra­peu­ti­scher Behand­lung, ihr Fach­arzt hat aus­drück­lich von einer Abschie­bung abge­ra­ten. Die­se medi­zi­nisch fun­dier­te Emp­feh­lung wur­de hier schlicht igno­riert. Obwohl der Poli­zei der Auf­ent­halts­ort des Soh­nes am Mor­gen des 5. Juni nicht bekannt war und so eine Inob­hut­nah­me des zurück­ge­las­se­nen 13-jäh­ri­gen Soh­nes durch das Jugend­amt nicht gewähr­leis­tet wer­den konn­te, voll­zog sie die Abschie­bung von Frau D. und ihrem älte­ren Sohn. Das Jugend­amt konn­te nur noch eine Ver­miss­ten­an­zei­ge auf­ge­ben. Es ent­steht der Ein­druck: In Sach­sen ver­ste­hen sich Aus­län­der­be­hör­den und Poli­zei im trau­ten Ein­ver­neh­men mit der Lan­des­re­gie­rung ledig­lich als Eines: Vollzugsgehilfen.

Der Säch­si­sche Flücht­lings­rat kri­ti­siert die ver­schärf­ten Abschie­bungs­prak­ti­ken: „Innen­mi­nis­ter Ulb­ig scheint momen­tan nur ein Ziel zu ver­fol­gen: hohe Abschie­be­zah­len ver­kün­den zu kön­nen, um sich so gegen­über AfD und Pegi­da als hand­lungs­fä­hi­ger Poli­ti­ker zu pro­fi­lie­ren“, so Patrick Irm­er. Neben den genann­ten Grup­pen hat aller­dings der Rechts­staat in Sach­sen inzwi­schen zwei wei­te­re Geg­ner: Regie­rung und einen Teil der Gerichte.

Kon­takt:

Patrick Irm­er
Säch­si­scher Flücht­lings­rat e.V.
Tel.: 0351 874 517 10
E‑Mail: irmer@sfrev.de

Dr. Andel­ka Krizanovic
Pres­se­stel­le PRO ASYL
Tel.: 069 24 23 14 30
E‑Mail: presse@proasyl.de

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