11.02.2021
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Foto: Demonstration im Sudan 2007. picture alliance / ASSOCIATED PRESS | SAYYID AZIM

Strukturelle Hürden verhindern, dass Genitalverstümmelung als Schutzgrund anerkannt wird

Gast­bei­trag von Lena Ron­te und Kolleg*innen

Bei dem The­ma weib­li­che Geni­tal­ver­stüm­me­lung herrscht in der deut­schen Bericht­erstat­tung und bei Politiker*innen Einig­keit: Sie ist zu ver­ur­tei­len und zu bekämp­fen, die Betrof­fe­nen brau­chen Unter­stüt­zung und Schutz. Die­se war­men Wor­te, die auch zu dem dies­jäh­ri­gen Inter­na­tio­na­len Tag gegen weib­li­che Geni­tal­ver­stüm­me­lung am 06.02.21 zu hören waren, wider­spre­chen der unzu­rei­chen­den Wür­di­gung von Geni­tal­ver­stüm­me­lung im Asyl­ver­fah­ren. Es müs­sen Taten fol­gen – zumal die Zahl der Betrof­fe­nen auch in Deutsch­land steigt.

Im Hei­mat­land geni­tal­ver­stüm­melt wor­den zu sein bedeu­tet näm­lich kei­nes­wegs, in Deutsch­land Schutz zu erhal­ten. Die betrof­fe­nen Frau­en schei­tern in ihren Asyl­ver­fah­ren häu­fig bereits dar­an, dass ihnen ohne fach­kun­di­ge Bera­tung über­haupt nicht bewusst ist, dass erlit­te­ne oder dro­hen­de FGM (eng­li­sche Abkür­zung für fema­le geni­tal muti­la­ti­on), ein Asyl­grund sein kann, wes­we­gen sie die­se bei der Anhö­rung zu ihren Flucht­grün­den oft­mals nicht erwähnen.

Auch Scham, Ver­un­si­che­rung und Auf­re­gung kön­nen Grün­de sein, dass FGM von den Schutz­su­chen­den selbst nicht ange­spro­chen wird und somit die­se Bedro­hung kei­nen Ein­gang in das Asyl­ver­fah­ren findet.

Keine Asylerkennung bei bereits erfolgter FGM

Dies gilt nicht nur für bereits ver­stüm­mel­te Frau­en, son­dern auch für noch unver­sehr­te, aber damit bedroh­te Frau­en, oder für die mit ihnen ein­ge­reis­ten oder hier gebo­re­nen, noch unver­sehr­ten Töch­ter. Selbst bei einem Her­kunfts­land wie Soma­lia, das wei­ter­hin eine Prä­va­lenz der Gen­ti­al­ver­stüm­me­lung von 98% auf­weist, gelingt es dem Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) oft­mals nicht, das The­ma FGM kon­se­quent offen­siv anzu­spre­chen, um den Mäd­chen und Frau­en den erfor­der­li­chen Schutz zukom­men zu lassen.

Hin­zu kommt, dass das BAMF in den meis­ten Fäl­len nur eine dro­hen­de FGM als Asyl­grund aner­kennt, nicht eine bereits erlit­te­ne. Ist eine Frau bereits ver­stüm­melt, erhält sie oft kei­nen Schutz­sta­tus, weil nach Auf­fas­sung des Bun­des­am­tes die asyl­re­le­van­te Ver­fol­gung bereits erfolgt sei und die FGM nach einer jeden­falls in der Regel ange­nom­me­nen Ver­mu­tung nun »kei­ne dau­er­haf­te, immer wie­der akut wer­den­de Bedro­hung dar­stellt« (BAMF, S. 173).

Folgeerkrankungen & drohende Zweitbeschneidungen spielen keine Rolle im Asylverfahren

Fol­ge­er­kran­kun­gen, Trau­ma­ti­sie­run­gen und die Tat­sa­che, dass die­se Frau­en aus Her­kunfts­län­dern stam­men, in denen eine andau­ern­de oder sich wie­der­ho­len­de frau­en­spe­zi­fi­sche Ver­fol­gung nicht aus­ge­schlos­sen wer­den kann (eigent­lich Anknüp­fungs­merk­mal für eine Flücht­lings­an­er­ken­nung), spie­len dann allen­falls noch im Rah­men der Prü­fung von Abschie­be­ver­bo­ten eine Rol­le – dem schwächs­ten Schutz im Asylverfahren.

Gemäß Ein­schät­zun­gen des UNHCR in sei­ner »Gui­dance Note on Refu­gee Claims rela­ting to Fema­le Geni­tal Muti­la­ti­on« stellt weib­li­che Geni­tal­ver­stüm­me­lung aber eine Form geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt dar, die sowohl psy­chi­sches wie phy­si­sches Lei­den zur Fol­ge hat und einer asyl­re­le­van­ten Ver­fol­gung gleich­kommt (UNHCR, S.4). Dies betrifft nicht nur die­je­ni­gen Frau­en und Mäd­chen, die vor einer noch bevor­ste­hen­den Geni­tal­ver­stüm­me­lung flüch­ten, son­dern auch die­je­ni­gen, an denen die Ver­stüm­me­lung bereits vor­ge­nom­men wurde.

Die Geni­tal­ver­stüm­me­lung hat für die betrof­fe­nen Mäd­chen und Frau­en oft lebens­lan­ge schä­di­gen­de Kon­se­quen­zen und nicht sel­ten lau­fen sie Gefahr, im Lau­fe ihres Lebens wei­te­ren For­men der Beschnei­dung unter­wor­fen zu wer­den, etwa vor einem Ehe­schluss oder nach einer Geburt (UNHCR, S. 5). In die­sem Zusam­men­hang ver­weist das UNHCR auf die Pra­xis der soge­nann­ten Rein­fi­bu­lie­rung: ein Ver­fah­ren, bei dem der Zustand der Infi­bu­lie­rung (Ver­schluss der Vagi­na, bis auf ein klei­nes Loch, nach Beschnei­dung der äuße­ren und inne­ren Scham­lip­pen, Beschnei­dungs­form Typ III) nach einer Geburt wie­der­her­ge­stellt wird, indem die für die Geburt geöff­ne­te Naht anschlie­ßend wie­der ver­schlos­sen wird.

Frau­en und Mäd­chen, die bereits FGM erlit­ten haben, haben bei der aktu­el­len Ent­schei­dungs­pra­xis des BAMF über­haupt nur dann eine Chan­ce, wenn sie nach­wei­sen kön­nen, dass es sich um eine Typ-III-WHO Beschnei­dung han­delt und ihnen des­halb eine De- oder Rein­fi­bu­la­ti­on droht. Auch hier­nach wird jedoch regel­haft nicht offen­siv gefragt. Zudem dro­hen auch vie­len Frau­en und Mäd­chen, die zuvor Typ‑I oder Typ-II-Beschnei­dun­gen erlit­ten haben, regel­haft Zweit­be­schnei­dun­gen. Die­se sind oft bru­ta­le Aus­wei­tun­gen der initi­al meist im Baby­al­ter vor­ge­nom­me­nen FGM-Typen Ia (Ent­fer­nung der Kli­to­ris­vor­haut) oder Ib (zusätz­lich noch Ent­fer­nung der äuße­ren Kli­to­ris) – meist als »Hoch­zeits­vor­be­rei­tung« von halb­wüch­si­gen Mäd­chen, manch­mal auch als ange­ord­ne­te Dis­zi­pli­nie­rungs- und/oder Sub­or­di­na­ti­ons­maß­nah­me sei­tens des Zwangs­ehe­man­nes, Vaters, Onkels etc.

Attestpflicht sorgt für neue Hürden

Das BAMF nimmt sich einen akti­ven Umgang mit FGM in sei­ner Dienst­an­wei­sung aus dem Jahr 2019 zwar vor, Nach­fra­gen zu FGM und auch zum Grad bzw. zu einer erneut dro­hen­den FGM sei­en aber immer noch die Aus­nah­me und nicht die Regel.

Wird den­noch danach gefragt, wer­de nach einer dro­hen­den erneu­ten Ver­stüm­me­lung und nicht nach einer erneu­ten Öff­nung- und Ver­schlie­ßung des Schei­den­ein­gangs gefragt, was wie­der zu Miss­ver­ständ­nis­sen füh­ren kön­ne. Frau­en ver­nei­nen näm­lich eine dro­hen­de erneu­te Beschnei­dung, da bei der De- und Rein­fi­bu­la­ti­on nur sel­ten wei­te­res Gewe­be weg­ge­schnit­ten wird. Der soma­li­sche Begriff des Beschnei­dens und der des sog. Ein­nä­hens unter­schei­den sich voneinander.

Kann eine Frau ihre erlit­te­ne oder dro­hen­de FGM trotz der beschrie­be­nen Hür­den im Asyl­ver­fah­ren the­ma­ti­sie­ren, muss sie den Zustand ihrer Vagi­na (oder den ihrer Toch­ter) durch ein ärzt­li­ches Attest in der Regel inner­halb einer vor­ge­ge­be­nen Frist meist von weni­gen Wochen nachweisen.

Hier ent­steht ein wei­te­res Pro­blem: Die betrof­fe­nen Frau­en und Mäd­chen haben in die­sem Sta­di­um des Ver­fah­rens in einer Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung kei­nen aus­rei­chen­den Kran­ken­ver­si­che­rungs­schutz, um einen Fach­arzt oder eine Fach­ärz­tin außer­halb der Unter­brin­gungs­ein­rich­tung auf­su­chen zu kön­nen – ganz abge­se­hen von den War­te­zei­ten. Im schlimms­ten Fall lehnt das Bun­des­amt, wenn das Attest nicht inner­halb der Frist ein­ge­reicht wur­de, den Schutz­an­trag ab.

Fehlende Fachkenntnis bei Ärzt*innen

Hin­zu kommt, dass es in vie­len Regio­nen kaum Ärzt*innen gibt, die in der Lage sind, die unter­schied­li­chen Beschnei­dungs­ty­pen zu erken­nen und von­ein­an­der zu unter­schei­den. FGM ist nicht Teil der ärzt­li­chen oder gynä­ko­lo­gi­schen Aus­bil­dung. Nur Ärz­tin­nen und Ärz­te, die sich ent­spre­chend fort­ge­bil­det haben und die hin­rei­chen­de Erfah­run­gen sam­meln konn­ten, sind über­haupt in der Lage aus­sa­ge­kräf­ti­ge Attes­te aus­zu­stel­len. Ein gro­ßer Teil der erstell­ten Attes­te von will­kür­lich auf­ge­such­ten Gynäkolog*innen ist falsch oder ungenau.

Häu­fig braucht es eine erneu­te Unter­su­chung durch einen fach­kun­di­gen Arzt oder Ärz­tin, bis klar ist, dass die betrof­fe­ne Per­son Typ-III beschnit­ten wurden.

Bei die­sen Wegen, bis zur fach­ärzt­lich attes­tier­ten Fest­stel­lung des eige­nen Ver­stüm­me­lungs­gra­des, sind Frau­en und Mäd­chen oft auf Beglei­tung und Unter­stüt­zung durch NGOs, Ver­bän­de, und Dolmetscher*innen ange­wie­sen. Die­se Unterstützer*innenstruktur aber ist viel zu wenig aus­ge­baut und unter­fi­nan­ziert, häu­fig basiert sie auf Ehrenamt.

Ohne Unterstützung kaum eine Chance

Ohne Unter­stüt­zung haben die Frau­en kei­ne Chan­ce auf adäqua­te Behand­lung und sach­kun­di­ge Attes­tie­rung des Grads der Beschnei­dung – ein für das BAMF als wesent­lich erach­te­tes Kri­te­ri­um. Im schlimms­ten Fall wird der Asyl­an­trag auf Grund­la­ge eines schlicht­weg falsch dia­gnos­ti­zier­ten Attes­tes abge­lehnt. Oder das spä­ter ein­ge­reich­te »kor­ri­gie­ren­de« Attest, wird vom BAMF nicht mehr akzeptiert.

Dies wider­spricht dem sei­tens der Bun­des- und Lan­des­re­gie­run­gen aus­ge­ru­fe­nem Kampf gegen FGM, die betrof­fe­ne Frau­en und Mäd­chen mit die­ser Ver­wal­tungs­pra­xis im Stich lässt.

Ein wei­te­res Pro­blem stel­len die lang­wie­ri­gen Fami­li­en­nach­zugs­ver­fah­ren dar, bei denen die aku­te Bedro­hung bei Mäd­chen, Opfer von FGM zu wer­den, häu­fig unbe­ach­tet gelas­sen wer­de. Es wäre ein Leich­tes, für Mäd­chen, die einen gesetz­li­chen Anspruch auf Ein­rei­se haben, ein beschleu­nig­tes Ver­fah­ren zu gewähr­leis­ten und sie so vor der Ver­stüm­me­lung zu bewah­ren. Statt­des­sen müs­sen hier die bis zu 2–4 Jah­re lang war­ten­den Eltern hilf­los den Hand­lun­gen ihrer Ver­wand­ten, in deren Obhut sich die Mäd­chen befin­den, zuse­hen. Ver­an­las­sen die­se in die­ser Zeit die FGM, kom­men die Mäd­chen schließ­lich schwer trau­ma­ti­siert und geschä­digt in Deutsch­land an – oder sie ver­schwin­den vor­her und wer­den einer Zwangs­ver­hei­ra­tung unterworfen.

Schutzmaßnahmen umsetzen!

Es ist sicher rich­tig und not­wen­dig, den Schutz der Frau­en und Mäd­chen vor der Pra­xis der FGM welt­weit ein­zu­for­dern. Glaub­wür­dig wird das aber erst, wenn die Schutz­maß­nah­men, die in der unmit­tel­ba­ren Ver­ant­wor­tung deut­scher Behör­den lie­gen und die sehr ein­fach und wir­kungs­voll umge­setzt wer­den könn­ten, auch rea­li­siert wer­den, namentlich:

- eine kon­se­quen­te Aner­ken­nung der erlit­te­nen und dro­hen­den FGM und deren auch psy­chi­schen und sozia­len Fol­gen als geschlechts­spe­zi­fi­sche Ver­fol­gung durch das BAMF,

- die Sicher­stel­lung von Ange­bo­ten spe­zi­fi­scher qua­li­fi­zier­ter Rechts­be­ra­tung und fach­me­di­zi­ni­scher Betreu­ung schon vor einer per­sön­li­chen Anhö­rung der betrof­fe­nen Frau­en und Mädchen,

- ein beschleu­nig­tes Ver­fah­ren beim Fami­li­en­nach­zug durch die zustän­di­gen deut­schen Bot­schaf­ten und Aus­län­der­be­hör­den immer dann, wenn Mäd­chen und Frau­en wäh­rend des War­tens auf ihr Visum von FGM-Über­grif­fen bedroht sind,

- aus­rei­chen­de Bera­tungs- und The­ra­pie­an­ge­bo­te für betrof­fe­ne Frau­en und Mäd­chen zur Behand­lung der phy­si­schen und psy­chi­schen Fol­gen der erlit­te­nen FGM ein­schließ­lich einer Auf­klä­rung über die medi­zi­ni­schen Optio­nen für eine Rekon­struk­ti­on und gege­be­nen­falls auch die kon­kre­te Unter­stüt­zung die­ser Behandlung.

Die­ser Text stellt eine über­ar­bei­te­te Ver­si­on eines Offe­nen Brie­fes der Rechts­an­wäl­tin Lena Ron­te und Kolleg*innen vom 08.02.2021 dar.