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Weibliche Genitalverstümmelung ist ein Asylgrund!

Strukturelle Hürden verhindern, dass Genitalverstümmelung als Schutzgrund anerkannt wird
Gastbeitrag von Lena Ronte und Kolleg*innen
Bei dem Thema weibliche Genitalverstümmelung herrscht in der deutschen Berichterstattung und bei Politiker*innen Einigkeit: Sie ist zu verurteilen und zu bekämpfen, die Betroffenen brauchen Unterstützung und Schutz. Diese warmen Worte, die auch zu dem diesjährigen Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung am 06.02.21 zu hören waren, widersprechen der unzureichenden Würdigung von Genitalverstümmelung im Asylverfahren. Es müssen Taten folgen – zumal die Zahl der Betroffenen auch in Deutschland steigt.
Im Heimatland genitalverstümmelt worden zu sein bedeutet nämlich keineswegs, in Deutschland Schutz zu erhalten. Die betroffenen Frauen scheitern in ihren Asylverfahren häufig bereits daran, dass ihnen ohne fachkundige Beratung überhaupt nicht bewusst ist, dass erlittene oder drohende FGM (englische Abkürzung für female genital mutilation), ein Asylgrund sein kann, weswegen sie diese bei der Anhörung zu ihren Fluchtgründen oftmals nicht erwähnen.
Auch Scham, Verunsicherung und Aufregung können Gründe sein, dass FGM von den Schutzsuchenden selbst nicht angesprochen wird und somit diese Bedrohung keinen Eingang in das Asylverfahren findet.
Keine Asylerkennung bei bereits erfolgter FGM
Dies gilt nicht nur für bereits verstümmelte Frauen, sondern auch für noch unversehrte, aber damit bedrohte Frauen, oder für die mit ihnen eingereisten oder hier geborenen, noch unversehrten Töchter. Selbst bei einem Herkunftsland wie Somalia, das weiterhin eine Prävalenz der Gentialverstümmelung von 98% aufweist, gelingt es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oftmals nicht, das Thema FGM konsequent offensiv anzusprechen, um den Mädchen und Frauen den erforderlichen Schutz zukommen zu lassen.
Hinzu kommt, dass das BAMF in den meisten Fällen nur eine drohende FGM als Asylgrund anerkennt, nicht eine bereits erlittene. Ist eine Frau bereits verstümmelt, erhält sie oft keinen Schutzstatus, weil nach Auffassung des Bundesamtes die asylrelevante Verfolgung bereits erfolgt sei und die FGM nach einer jedenfalls in der Regel angenommenen Vermutung nun »keine dauerhafte, immer wieder akut werdende Bedrohung darstellt« (BAMF, S. 173).
Folgeerkrankungen & drohende Zweitbeschneidungen spielen keine Rolle im Asylverfahren
Folgeerkrankungen, Traumatisierungen und die Tatsache, dass diese Frauen aus Herkunftsländern stammen, in denen eine andauernde oder sich wiederholende frauenspezifische Verfolgung nicht ausgeschlossen werden kann (eigentlich Anknüpfungsmerkmal für eine Flüchtlingsanerkennung), spielen dann allenfalls noch im Rahmen der Prüfung von Abschiebeverboten eine Rolle – dem schwächsten Schutz im Asylverfahren.
Gemäß Einschätzungen des UNHCR in seiner »Guidance Note on Refugee Claims relating to Female Genital Mutilation« stellt weibliche Genitalverstümmelung aber eine Form geschlechtsspezifischer Gewalt dar, die sowohl psychisches wie physisches Leiden zur Folge hat und einer asylrelevanten Verfolgung gleichkommt (UNHCR, S.4). Dies betrifft nicht nur diejenigen Frauen und Mädchen, die vor einer noch bevorstehenden Genitalverstümmelung flüchten, sondern auch diejenigen, an denen die Verstümmelung bereits vorgenommen wurde.
Die Genitalverstümmelung hat für die betroffenen Mädchen und Frauen oft lebenslange schädigende Konsequenzen und nicht selten laufen sie Gefahr, im Laufe ihres Lebens weiteren Formen der Beschneidung unterworfen zu werden, etwa vor einem Eheschluss oder nach einer Geburt (UNHCR, S. 5). In diesem Zusammenhang verweist das UNHCR auf die Praxis der sogenannten Reinfibulierung: ein Verfahren, bei dem der Zustand der Infibulierung (Verschluss der Vagina, bis auf ein kleines Loch, nach Beschneidung der äußeren und inneren Schamlippen, Beschneidungsform Typ III) nach einer Geburt wiederhergestellt wird, indem die für die Geburt geöffnete Naht anschließend wieder verschlossen wird.
Frauen und Mädchen, die bereits FGM erlitten haben, haben bei der aktuellen Entscheidungspraxis des BAMF überhaupt nur dann eine Chance, wenn sie nachweisen können, dass es sich um eine Typ-III-WHO Beschneidung handelt und ihnen deshalb eine De- oder Reinfibulation droht. Auch hiernach wird jedoch regelhaft nicht offensiv gefragt. Zudem drohen auch vielen Frauen und Mädchen, die zuvor Typ‑I oder Typ-II-Beschneidungen erlitten haben, regelhaft Zweitbeschneidungen. Diese sind oft brutale Ausweitungen der initial meist im Babyalter vorgenommenen FGM-Typen Ia (Entfernung der Klitorisvorhaut) oder Ib (zusätzlich noch Entfernung der äußeren Klitoris) – meist als »Hochzeitsvorbereitung« von halbwüchsigen Mädchen, manchmal auch als angeordnete Disziplinierungs- und/oder Subordinationsmaßnahme seitens des Zwangsehemannes, Vaters, Onkels etc.
Attestpflicht sorgt für neue Hürden
Das BAMF nimmt sich einen aktiven Umgang mit FGM in seiner Dienstanweisung aus dem Jahr 2019 zwar vor, Nachfragen zu FGM und auch zum Grad bzw. zu einer erneut drohenden FGM seien aber immer noch die Ausnahme und nicht die Regel.
Wird dennoch danach gefragt, werde nach einer drohenden erneuten Verstümmelung und nicht nach einer erneuten Öffnung- und Verschließung des Scheideneingangs gefragt, was wieder zu Missverständnissen führen könne. Frauen verneinen nämlich eine drohende erneute Beschneidung, da bei der De- und Reinfibulation nur selten weiteres Gewebe weggeschnitten wird. Der somalische Begriff des Beschneidens und der des sog. Einnähens unterscheiden sich voneinander.
Kann eine Frau ihre erlittene oder drohende FGM trotz der beschriebenen Hürden im Asylverfahren thematisieren, muss sie den Zustand ihrer Vagina (oder den ihrer Tochter) durch ein ärztliches Attest in der Regel innerhalb einer vorgegebenen Frist meist von wenigen Wochen nachweisen.
Hier entsteht ein weiteres Problem: Die betroffenen Frauen und Mädchen haben in diesem Stadium des Verfahrens in einer Erstaufnahmeeinrichtung keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz, um einen Facharzt oder eine Fachärztin außerhalb der Unterbringungseinrichtung aufsuchen zu können – ganz abgesehen von den Wartezeiten. Im schlimmsten Fall lehnt das Bundesamt, wenn das Attest nicht innerhalb der Frist eingereicht wurde, den Schutzantrag ab.
Fehlende Fachkenntnis bei Ärzt*innen
Hinzu kommt, dass es in vielen Regionen kaum Ärzt*innen gibt, die in der Lage sind, die unterschiedlichen Beschneidungstypen zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. FGM ist nicht Teil der ärztlichen oder gynäkologischen Ausbildung. Nur Ärztinnen und Ärzte, die sich entsprechend fortgebildet haben und die hinreichende Erfahrungen sammeln konnten, sind überhaupt in der Lage aussagekräftige Atteste auszustellen. Ein großer Teil der erstellten Atteste von willkürlich aufgesuchten Gynäkolog*innen ist falsch oder ungenau.
Häufig braucht es eine erneute Untersuchung durch einen fachkundigen Arzt oder Ärztin, bis klar ist, dass die betroffene Person Typ-III beschnitten wurden.
Bei diesen Wegen, bis zur fachärztlich attestierten Feststellung des eigenen Verstümmelungsgrades, sind Frauen und Mädchen oft auf Begleitung und Unterstützung durch NGOs, Verbände, und Dolmetscher*innen angewiesen. Diese Unterstützer*innenstruktur aber ist viel zu wenig ausgebaut und unterfinanziert, häufig basiert sie auf Ehrenamt.
Ohne Unterstützung kaum eine Chance
Ohne Unterstützung haben die Frauen keine Chance auf adäquate Behandlung und sachkundige Attestierung des Grads der Beschneidung – ein für das BAMF als wesentlich erachtetes Kriterium. Im schlimmsten Fall wird der Asylantrag auf Grundlage eines schlichtweg falsch diagnostizierten Attestes abgelehnt. Oder das später eingereichte »korrigierende« Attest, wird vom BAMF nicht mehr akzeptiert.
Dies widerspricht dem seitens der Bundes- und Landesregierungen ausgerufenem Kampf gegen FGM, die betroffene Frauen und Mädchen mit dieser Verwaltungspraxis im Stich lässt.
Ein weiteres Problem stellen die langwierigen Familiennachzugsverfahren dar, bei denen die akute Bedrohung bei Mädchen, Opfer von FGM zu werden, häufig unbeachtet gelassen werde. Es wäre ein Leichtes, für Mädchen, die einen gesetzlichen Anspruch auf Einreise haben, ein beschleunigtes Verfahren zu gewährleisten und sie so vor der Verstümmelung zu bewahren. Stattdessen müssen hier die bis zu 2–4 Jahre lang wartenden Eltern hilflos den Handlungen ihrer Verwandten, in deren Obhut sich die Mädchen befinden, zusehen. Veranlassen diese in dieser Zeit die FGM, kommen die Mädchen schließlich schwer traumatisiert und geschädigt in Deutschland an – oder sie verschwinden vorher und werden einer Zwangsverheiratung unterworfen.
Schutzmaßnahmen umsetzen!
Es ist sicher richtig und notwendig, den Schutz der Frauen und Mädchen vor der Praxis der FGM weltweit einzufordern. Glaubwürdig wird das aber erst, wenn die Schutzmaßnahmen, die in der unmittelbaren Verantwortung deutscher Behörden liegen und die sehr einfach und wirkungsvoll umgesetzt werden könnten, auch realisiert werden, namentlich:
- eine konsequente Anerkennung der erlittenen und drohenden FGM und deren auch psychischen und sozialen Folgen als geschlechtsspezifische Verfolgung durch das BAMF,
- die Sicherstellung von Angeboten spezifischer qualifizierter Rechtsberatung und fachmedizinischer Betreuung schon vor einer persönlichen Anhörung der betroffenen Frauen und Mädchen,
- ein beschleunigtes Verfahren beim Familiennachzug durch die zuständigen deutschen Botschaften und Ausländerbehörden immer dann, wenn Mädchen und Frauen während des Wartens auf ihr Visum von FGM-Übergriffen bedroht sind,
- ausreichende Beratungs- und Therapieangebote für betroffene Frauen und Mädchen zur Behandlung der physischen und psychischen Folgen der erlittenen FGM einschließlich einer Aufklärung über die medizinischen Optionen für eine Rekonstruktion und gegebenenfalls auch die konkrete Unterstützung dieser Behandlung.
Dieser Text stellt eine überarbeitete Version eines Offenen Briefes der Rechtsanwältin Lena Ronte und Kolleg*innen vom 08.02.2021 dar.