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»Unsere Unterschiede sind unsere Stärken«

Seit zehn Jahren lebt Nour Al Zoubi in Deutschland – ein Jahrzehnt voller Herausforderungen, Begegnungen und persönlicher Entwicklungen. Sie ist studierte Sozialarbeiterin und arbeitet seit über einem Jahr beim Flüchtlingsrat Thüringen.
Erzähle uns von deinem ersten Eindruck in Deutschland vor zehn Jahren.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich schon zehn Jahre hier bin. Ich bin über die Familienzusammenführung nach Thüringen gekommen, direkt nach Gera. Mich hat die Landschaft in Thüringen überrascht – sie ist wunderschön – und die grünen Flächen in den Innenstädten. Ich traue mich zwar nicht immer allein in die schöne Landschaft, aber ich liebe sie.
Negativ ist mir sofort die Kälte zwischen den Menschen aufgefallen. Ich empfinde die Gesellschaft hier oft sehr distanziert gegenüber Menschen, die neu hier ankommen.
Was verbindest du mit dem Begriff Heimat?
Syrien ist für mich warme Sonne, laute Stimmen, eine schöne Kindheit mit meiner Familie. Viele Verwandte. Es riecht nach Jasmin. Aber der zweite Teil meiner Kindheit ist von Flucht geprägt. Wenn ich jetzt an Syrien denke, rieche ich den Geruch von Blut. Jeden Tag wurden und werden Menschen in Syrien getötet. Aber wenn ich mich an das Haus meiner Kindheit denke, rieche ich auch Olivenseife und Olivenbäume.
Deutschland riecht für mich nach Regen auf Gras und nach feuchtem Boden. Auch das riecht für mich mittlerweile nach Heimat. Ich finde es toll, dass ich so viele interkulturelle Begegnungen in Deutschland habe und als Frau an meiner eigenen Karriere arbeiten kann. Meistens fühle ich mich in Deutschland zu Hause.
Aber… ?
Aber manchmal frage ich mich, ob mich die deutsche Politik jemals als Teil dieses Landes sehen wird. Oder werde ich für immer die geflüchtete, muslimische, syrische Frau sein? Die Bürokratie macht es uns schwer und die Politik missbraucht uns migrantische und muslimische Menschen als Sündenböcke für gescheiterte Sozialpolitik. Sie richtet sich gezielt gegen Geflüchtete und muslimisch gelesene Menschen. Das ist unmenschlich. Menschen, die nicht muslimisch gelesen werden, haben es leichter.
Persönlich fühle ich mich stabil, weil ich in Deutschland bleiben kann. Ich finde es toll, dass ich so viele interkulturelle Begegnungen in Deutschland habe und als Frau an meiner eigenen Karriere arbeiten kann. Aber ich bin auch wütend und traurig über die politische Situation momentan. Ich bin politisch aktiv geworden, obwohl ich das nicht vorhatte, weil ich nicht in eine Opferrolle gedrängt werden wollte, sondern selbst mitreden möchte.
Erzähl uns von deinem politischen Engagement.
Seit meinem Ankommen in Deutschland habe ich versucht, mich zu engagieren. Zu Beginn in Initiativen in Thüringen, später in Bochum mit dem Zeitungsprojekt »Neu in Deutschland«. Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt. Außerdem war ich engagiert bei der Caritas für geflüchtete Menschen und nach meiner Rückkehr nach Gera habe ich das Zeitungsprojekt »Neu in Gera« gegründet, ein Schwesterprojekt des ersten Zeitungsprojekts. Das bekam ganz tolle Resonanz. Ich bin außerdem ehrenamtlich tätig im Begleitausschuss von »Demokratie leben« in Gera.
Gab es einen Moment, in dem dir klar wurde: »Jetzt gehöre ich hierher«?
Viel hängt für mich mit meiner Einbürgerung zusammen. Mein Kind und ich wurden am Internationalen Frauentag 2022 eingebürgert. Ein riesiger Schritt für mich. Ein Gefühl, hierher zu gehören und ein großes Erbe, dass ich meinem Kind und meinen zukünftigen Kindern mitgeben kann.
Wie ist es dir gelungen, anzukommen?
Meine Familie und mein Mann haben mir sehr geholfen, in Deutschland Fuß zu fassen. Aber auch die vielen mutigen Menschen in Organisationen, die Ehrenamtlichen, die Menschen in der Zivilgesellschaft, die für Menschenrechte und Demokratie einstehen. Sie gaben und geben mir immer noch Hoffnung und das Gefühl, nicht allein zu sein. Zum Beispiel die solidarischen Tauschaktionen der Bezahlkarten-Initiativen: Egal, wie rassistisch die Politik agiert, die Zivilgesellschaft findet Lösungen.
Ich erinnere mich an so viele tolle Begegnungen mit Menschen aus Initiativen, aus Organisationen der Zivilgesellschaft. Das waren für mich sichere Räume. Entsetzt haben mich meine Begegnungen mit Politikern aus verschiedenen Parteien. Ich habe sie oft gefragt, was Integration für sie bedeutet. Ihre Antworten waren alle sehr bürokratisch und unpersönlich: Arbeit, Steuern zahlen, anpassen und so weiter. Aber was ist mit den Menschen, die nicht arbeiten? Und was heißt anpassen? Ich komme nicht von hier, ich liebe meine braunen Augen und meinen Hijab und ich gehöre hierher. Unsere Unterschiede sind unsere Stärke.
Ich bin stolz, dass ich geschafft habe, stabil und menschlich zu bleiben. Trotz der ganzen Konflikte zwischen allen möglichen Teilen der Gesellschaften in Deutschland und in Syrien und der Radikalisierung überall. Ich setze mich weiter für Frieden und Lösungen ein. Ich habe dadurch auch Freundschaften verloren. Aber ich gehe meinen Weg weiter, gemeinsam mit denjenigen, die sich für Menschlichkeit einsetzen.
Was möchtest du der Politik und der Gesellschaft in Deutschland zurufen?
Es wäre so viel einfacher gewesen, mir hier ein neues Leben aufzubauen, wenn die Regierung und die Politiker uns als normale Menschen gesehen hätten. So viele Menschen kämpfen um ein Bleiberecht, einen Arbeitsplatz, um die Einbürgerung, um Anerkennung. Die Anstrengungen von geflüchteten Menschen werden nicht anerkannt und nicht gesehen.
Den Menschen da draußen möchte ich zurufen: Bitte informiert euch nicht nur einseitig über deutsche Nachrichten über das Weltgeschehen. Reflektiert und informiert euch. Seht geflüchtete Menschen nicht als Zahlen oder als Gefahr, sondern als Menschen. An die Aktiven: Bleibt aktiv! An die Unentschlossenen: Werdet aktiv und engagiert euch!
(nb)