17.08.2025
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Foto: privat

Seit zehn Jahren lebt Nour Al Zoubi in Deutschland – ein Jahrzehnt voller Herausforderungen, Begegnungen und persönlicher Entwicklungen. Sie ist studierte Sozialarbeiterin und arbeitet seit über einem Jahr beim Flüchtlingsrat Thüringen.

Erzähle uns von deinem ersten Eindruck in Deutschland vor zehn Jahren.

Ich kann mir gar nicht vor­stel­len, dass ich schon zehn Jah­re hier bin. Ich bin über die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung nach Thü­rin­gen gekom­men, direkt nach Gera. Mich hat die Land­schaft in Thü­rin­gen über­rascht – sie ist wun­der­schön – und die grü­nen Flä­chen in den Innen­städ­ten. Ich traue mich zwar nicht immer allein in die schö­ne Land­schaft, aber ich lie­be sie.

Nega­tiv ist mir sofort die Käl­te zwi­schen den Men­schen auf­ge­fal­len. Ich emp­fin­de die Gesell­schaft hier oft sehr distan­ziert gegen­über Men­schen, die neu hier ankommen.

Was verbindest du mit dem Begriff Heimat?

Syri­en ist für mich war­me Son­ne, lau­te Stim­men, eine schö­ne Kind­heit mit mei­ner Fami­lie. Vie­le Ver­wand­te. Es riecht nach Jas­min. Aber der zwei­te Teil mei­ner Kind­heit ist von Flucht geprägt. Wenn ich jetzt an Syri­en den­ke, rie­che ich den Geruch von Blut. Jeden Tag wur­den und wer­den Men­schen in Syri­en getö­tet. Aber wenn ich mich an das Haus mei­ner Kind­heit den­ke, rie­che ich auch Oli­ven­sei­fe und Olivenbäume.

Deutsch­land riecht für mich nach Regen auf Gras und nach feuch­tem Boden. Auch das riecht für mich mitt­ler­wei­le nach Hei­mat. Ich fin­de es toll, dass ich so vie­le inter­kul­tu­rel­le Begeg­nun­gen in Deutsch­land habe und als Frau an mei­ner eige­nen Kar­rie­re arbei­ten kann. Meis­tens füh­le ich mich in Deutsch­land zu Hause.

Aber… ?

Aber manch­mal fra­ge ich mich, ob mich die deut­sche Poli­tik jemals als Teil die­ses Lan­des sehen wird. Oder wer­de ich für immer die geflüch­te­te, mus­li­mi­sche, syri­sche Frau sein? Die Büro­kra­tie macht es uns schwer und die Poli­tik miss­braucht uns migran­ti­sche und mus­li­mi­sche Men­schen als Sün­den­bö­cke für geschei­ter­te Sozi­al­po­li­tik. Sie rich­tet sich gezielt gegen Geflüch­te­te und mus­li­misch gele­se­ne Men­schen. Das ist unmensch­lich. Men­schen, die nicht mus­li­misch gele­sen wer­den, haben es leichter.

Per­sön­lich füh­le ich mich sta­bil, weil ich in Deutsch­land blei­ben kann. Ich fin­de es toll, dass ich so vie­le inter­kul­tu­rel­le Begeg­nun­gen in Deutsch­land habe und als Frau an mei­ner eige­nen Kar­rie­re arbei­ten kann. Aber ich bin auch wütend und trau­rig über die poli­ti­sche Situa­ti­on momen­tan. Ich bin poli­tisch aktiv gewor­den, obwohl ich das nicht vor­hat­te, weil ich nicht in eine Opfer­rol­le gedrängt wer­den woll­te, son­dern selbst mit­re­den möchte.

Erzähl uns von deinem politischen Engagement.

Seit mei­nem Ankom­men in Deutsch­land habe ich ver­sucht, mich zu enga­gie­ren. Zu Beginn in Initia­ti­ven in Thü­rin­gen, spä­ter in Bochum mit dem Zei­tungs­pro­jekt »Neu in Deutsch­land«. Ich habe wun­der­ba­re Men­schen ken­nen­ge­lernt. Außer­dem war ich enga­giert bei der Cari­tas für geflüch­te­te Men­schen und nach mei­ner Rück­kehr nach Gera habe ich das Zei­tungs­pro­jekt »Neu in Gera« gegrün­det, ein Schwes­ter­pro­jekt des ers­ten Zei­tungs­pro­jekts. Das bekam ganz tol­le Reso­nanz. Ich bin außer­dem ehren­amt­lich tätig im Begleit­aus­schuss von »Demo­kra­tie leben« in Gera.

Gab es einen Moment, in dem dir klar wurde: »Jetzt gehöre ich hierher«?

Viel hängt für mich mit mei­ner Ein­bür­ge­rung zusam­men. Mein Kind und ich wur­den am Inter­na­tio­na­len Frau­en­tag 2022 ein­ge­bür­gert. Ein rie­si­ger Schritt für mich. Ein Gefühl, hier­her zu gehö­ren und ein gro­ßes Erbe, dass ich mei­nem Kind und mei­nen zukünf­ti­gen Kin­dern mit­ge­ben kann.

Wie ist es dir gelungen, anzukommen?

Mei­ne Fami­lie und mein Mann haben mir sehr gehol­fen, in Deutsch­land Fuß zu fas­sen. Aber auch die vie­len muti­gen Men­schen in Orga­ni­sa­tio­nen, die Ehren­amt­li­chen, die Men­schen in der Zivil­ge­sell­schaft, die für Men­schen­rech­te und Demo­kra­tie ein­ste­hen. Sie gaben und geben mir immer noch Hoff­nung und das Gefühl, nicht allein zu sein. Zum Bei­spiel die soli­da­ri­schen Tausch­ak­tio­nen der Bezahl­kar­ten-Initia­ti­ven: Egal, wie ras­sis­tisch die Poli­tik agiert, die Zivil­ge­sell­schaft fin­det Lösungen.

Ich erin­ne­re mich an so vie­le tol­le Begeg­nun­gen mit Men­schen aus Initia­ti­ven, aus Orga­ni­sa­tio­nen der Zivil­ge­sell­schaft. Das waren für mich siche­re Räu­me. Ent­setzt haben mich mei­ne Begeg­nun­gen mit Poli­ti­kern aus ver­schie­de­nen Par­tei­en. Ich habe sie oft gefragt, was Inte­gra­ti­on für sie bedeu­tet. Ihre Ant­wor­ten waren alle sehr büro­kra­tisch und unper­sön­lich: Arbeit, Steu­ern zah­len, anpas­sen und so wei­ter. Aber was ist mit den Men­schen, die nicht arbei­ten? Und was heißt anpas­sen? Ich kom­me nicht von hier, ich lie­be mei­ne brau­nen Augen und mei­nen Hijab und ich gehö­re hier­her. Unse­re Unter­schie­de sind unse­re Stärke.

Ich bin stolz, dass ich geschafft habe, sta­bil und mensch­lich zu blei­ben. Trotz der gan­zen Kon­flik­te zwi­schen allen mög­li­chen Tei­len der Gesell­schaf­ten in Deutsch­land und in Syri­en und der Radi­ka­li­sie­rung über­all. Ich set­ze mich wei­ter für Frie­den und Lösun­gen ein. Ich habe dadurch auch Freund­schaf­ten ver­lo­ren. Aber ich gehe mei­nen Weg wei­ter, gemein­sam mit den­je­ni­gen, die sich für Mensch­lich­keit einsetzen.

Was möchtest du der Politik und der Gesellschaft in Deutschland zurufen?

Es wäre so viel ein­fa­cher gewe­sen, mir hier ein neu­es Leben auf­zu­bau­en, wenn die Regie­rung und die Poli­ti­ker uns als nor­ma­le Men­schen gese­hen hät­ten. So vie­le Men­schen kämp­fen um ein Blei­be­recht, einen Arbeits­platz, um die Ein­bür­ge­rung, um Aner­ken­nung. Die Anstren­gun­gen von geflüch­te­ten Men­schen wer­den nicht aner­kannt und nicht gesehen.

Den Men­schen da drau­ßen möch­te ich zuru­fen: Bit­te infor­miert euch nicht nur ein­sei­tig über deut­sche Nach­rich­ten über das Welt­ge­sche­hen. Reflek­tiert und infor­miert euch. Seht geflüch­te­te Men­schen nicht als Zah­len oder als Gefahr, son­dern als Men­schen. An die Akti­ven: Bleibt aktiv! An die Unent­schlos­se­nen: Wer­det aktiv und enga­giert euch!

(nb)