21.10.2025
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Geflohene Personen in der tunesischen Wüste, Foto: RTL Aktuell

Der EU-Tunesien Deal wurde vor zwei Jahren unterzeichnet. Seitdem wird die Entrechtung von Schutzsuchenden und denen, die ihnen helfen, immer stärker, berichtet Romdhane Ben Amor, Sprecher von »Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte« (FTDES). Deutschland trage Mitverantwortung für massive Menschenrechtsverletzungen.

Trotz schar­fer Kri­tik von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen hat die EU-Kom­mis­si­on am 16. Juli 2023 mit Tune­si­en einen Deal zur Ver­hin­de­rung von Flucht über das Mit­tel­meer unter­zeich­net, nach­dem dort im Som­mer beson­ders vie­le Boo­te ableg­ten. Was pas­sier­te danach? 

Am sel­ben Tag, an dem die tune­si­sche Regie­rung Fotos mit offen­sicht­lich zufrie­de­nen EU-Vertreter*innen ver­öf­fent­lich­te, schob der tune­si­sche Staat mas­sen­haft Migrant*innen ab und setz­te sie an der Gren­ze zu Liby­en und Alge­ri­en in der Wüs­te aus. Uns erreich­ten Bil­der von Men­schen, die dort an Hun­ger und Durst starben.

Ste­hen die­se bei­den Ereig­nis­se, die Unter­zeich­nung des Abkom­mens und die Aus­set­zun­gen in der Wüs­te, für Sie in einem direk­ten Zusammenhang?

Natür­lich. Durch den EU-Tune­si­en-Deal ist Tune­si­en zu einem Frei­luft­ge­fäng­nis für Schutz­su­chen­de gewor­den. Denn mit dem Abkom­men hat die Euro­päi­sche Uni­on Prä­si­dent Kais Sai­ed grü­nes Licht gege­ben, die Abfahr­ten von Flücht­lings­boo­ten von der tune­si­schen Küs­te mit allen Mit­teln zu stop­pen und so zu ver­hin­dern, dass die Men­schen nach Euro­pa kom­men. Die tune­si­sche Küs­ten­wa­che fängt Flie­hen­de auf dem Mit­tel­meer ein, oft sehr gewalt­voll. Teil­wei­se ist sie dabei auch selbst für Schiffs­un­glü­cke ver­ant­wort­lich. Aber sie wol­len die Flücht­lin­ge auch nicht im Land behal­ten: Seit der Unter­zeich­nung set­zen die tune­si­schen Behör­den Schutz­su­chen­de sys­te­ma­tisch an der Gren­ze zu Alge­ri­en und Liby­en in der Wüs­te aus.

Der tune­si­sche Prä­si­dent Kais Sai­ed hat­te im Febru­ar 2023, also weni­ge Mona­te vor Unter­zeich­nung des Deals, eine ras­sis­ti­sche Rede gehal­ten. In die­ser hat er vor einem angeb­lich geplan­ten »Bevöl­ke­rungs­aus­tausch« gewarnt, also Migrant*innen als Bedro­hung für die demo­gra­fi­sche Zusam­men­set­zung der tune­si­schen Bevöl­ke­rung dar­ge­stellt. Auf die Ver­brei­tung die­ser Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung folg­ten Hetz­jag­den auf Flücht­lin­ge und Migrant*innen. Wie ist die Situa­ti­on in Tune­si­en heute?

Der Ras­sis­mus ein­zel­ner Tei­le der Bevöl­ke­rung hat sich inzwi­schen zu einem staat­lich ver­an­ker­ten Ras­sis­mus ent­wi­ckelt – man kann in Tune­si­en von einer inof­fi­zi­el­len Form der Apart­heid spre­chen. Die Repres­sio­nen gegen Migrant*innen haben seit der Rede Sai­eds zuge­nom­men. Das betrifft übri­gens nicht nur Geflüch­te­te, son­dern auch Schwar­ze Tunesier*innen.

Men­schen aus Sub­sa­ha­ra-Afri­ka wer­den in Tune­si­en sozi­al und recht­lich stark aus­ge­grenzt und erle­ben oft­mals schwe­re Not und Gewalt. Seit April 2024 gibt es kei­ne Mög­lich­keit mehr, einen Antrag auf inter­na­tio­na­len Schutz zu stel­len oder Schutz zu erfah­ren. Zudem bedroht und bestraft der Staat inzwi­schen Bürger*innen, die Migrant*innen eine Woh­nung geben, sie beschäf­ti­gen oder trans­por­tie­ren. Wer nach Tune­si­en flieht, kann hier also weder arbei­ten noch sich frei bewe­gen, kei­ne Woh­nung mie­ten und nicht ins Kran­ken­haus gehen.

»man kann in Tune­si­en von einer inof­fi­zi­el­len Form der Apart­heid sprechen«

Tat­säch­lich ver­su­chen nun weni­ger Schutz­su­chen­de, Tune­si­en über das Mit­tel­meer Rich­tung Euro­pa zu ver­las­sen. Im Jahr 2025 kamen bis­her knapp 4.000 Schutz­su­chen­de mit klei­nen Boo­ten aus Tune­si­en in Euro­pa an, wäh­rend es aus Liby­en fast 48.000 waren – Liby­en hat Tune­si­en als Haupt­ab­fahrts­ort für Geflüch­te­te also längst wie­der abge­löst. Politiker*innen wie die EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en erklä­ren des­halb immer wie­der, dass der Deal gut funk­tio­nie­re – zurecht? 

Die Euro­pä­er sind bereit, alles zu tun, um die Abfahr­ten aus Tune­si­en zu ver­rin­gern. Dabei bewer­ten sie die Fra­ge, ob das Abkom­men »erfolg­reich« ist, nur anhand eines Kri­te­ri­ums: der Zahl der Ankünf­te in Euro­pa. Doch sie ver­schlie­ßen die Augen vor den vie­len Toten, Ver­miss­ten und den zahl­rei­chen Dra­men, die sich vor der tune­si­schen Küs­te, an der Gren­ze zu Alge­ri­en und Liby­en und in den Lagern abspie­len. Das Abkom­men hat die logis­ti­schen und finan­zi­el­len Mit­tel für die­se Repres­si­on geliefert.

Allein im Jahr 2024 gab es min­des­tens 621 Tote und Ver­miss­te vor der tune­si­schen Küs­te, 2023 waren es min­des­tens 1313 Men­schen.

Eine beson­de­re Rol­le spielt dabei die soge­nann­te tune­si­sche Nationalgarde…

Laut Berich­ten von Migrant*innen und unse­ren eige­nen Doku­men­ta­tio­nen trägt die tune­si­sche Natio­nal­gar­de die größ­te Ver­ant­wor­tung für die Ver­let­zung der Men­schen­rech­te Schutz­su­chen­der – für Push­backs und Gewalt vor der tune­si­schen Küs­te, um Flie­hen­de abzu­fan­gen eben­so wie für die Aus­set­zun­gen in der Wüs­te. Die EU finan­ziert die Natio­nal­gar­de dafür mit und rüs­tet sie aus.

Auch Deutsch­land unter­stützt die tune­si­sche Natio­nal­gar­de und die Grenz­po­li­zei seit 2015 mit Mil­lio­nen aus deut­schem Steu­er­geld – für Auf­rüs­tung und Aus­bil­dung, etwa durch die deut­sche Bundespolizei. 

Genau, aktu­ell ist die deut­sche Bun­des­re­gie­rung zudem an einem Pro­jekt zum Auf­bau eines Aus­bil­dungs­zen­trums für die Natio­nal­gar­de betei­ligt. Deutsch­land soll­te die Zusam­men­ar­beit sofort auf­kün­di­gen, da Tune­si­en Men­schen­rech­te ein­deu­tig nicht respektiert.

Vie­le Schutz­su­chen­de har­ren in pro­vi­so­ri­schen, infor­mel­len Camps in Oli­ven­hai­nen rund um Sfax aus, über die viel­fach berich­tet wur­de. Wie ist die Lage vor Ort?

Die Lebens­be­din­gun­gen in den Oli­ven­hai­nen sind extrem pre­kär: Es gibt kein Was­ser, kaum Essen und kei­ne medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung. Die Men­schen sind Son­ne, Wind und Käl­te schutz­los aus­ge­setzt, dar­un­ter Babys und ande­re ver­letz­li­che Men­schen. Seit Febru­ar 2025 zer­stört der tune­si­sche Staat die Camps regel­mä­ßig mit Bull­do­zern und ver­treibt die Men­schen, ohne ihnen eine Alter­na­ti­ve anzu­bie­ten. Die Migrant*innen ver­su­chen, zu über­le­ben, indem sie sich kol­lek­tiv orga­ni­sie­ren – doch das wird erneut gegen sie verwendet.

Inwie­fern?

Die Schutz­su­chen­den haben etwa kol­lek­ti­ve medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und Kin­der­be­treu­ung in den Oli­ven­hai­nen orga­ni­siert. Die Regie­rung hat dar­auf­hin die Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung ver­brei­tet, hier exis­tie­re ein »Staat im Staa­te«. Mit der Rea­li­tät hat das nichts zu tun, es wur­de aber als Begrün­dung für die Räu­mun­gen angeführt.

Wie geht es für die Men­schen wei­ter, nach­dem sie aus den Oli­ven­hai­nen ver­trie­ben wurden?

Vie­le sehen sich gezwun­gen, wei­ter zu flie­hen. Man­che gehen nach Liby­en, man­che wer­den von den tune­si­schen Behör­den abge­scho­ben. Aber sehr vie­le sit­zen ein­fach in Tune­si­en fest und wis­sen nicht weiter.

Die EU-Kom­mis­si­on will Tune­si­en als siche­res Her­kunfts­land ein­stu­fen, im April 2025 hat sie eine Lis­te mit angeb­lich siche­ren Her­kunfts­län­dern vor­ge­legt. Was hältst du davon, ist Tune­si­en wirk­lich »sicher«?

Wir hal­ten Tune­si­en nicht für ein siche­res Land, weder für Migrant*innen noch für Tunesier*innen. Von der Ver­fol­gung von Migrant*innen habe ich bereits aus­führ­lich gespro­chen. Aber auch für Tunesier*innen ist das Land nicht sicher: Der Rechts­staat wird zuneh­mend abge­baut. Wir leben in einem auto­ri­tä­ren Regime, das neue Geset­ze wie bei­spiels­wei­se das Gesetz 54 erlas­sen hat, das vor allem für die Unter­drü­ckung von Oppo­si­tio­nel­len genutzt wird. Indem die EU den tune­si­schen Sicher­heits­ap­pa­rat etwa im Rah­men des EU-Tune­si­en-Deals finan­zi­ell unter­stützt, sta­bi­li­siert sie die­se auto­ri­tä­re Wen­de in Tune­si­en noch.

»Alle, die sich kri­tisch gegen­über der aktu­el­len Regie­rung äußern, sind in Gefahr. «

Mit wel­chen Folgen?

Alle, die sich kri­tisch gegen­über der aktu­el­len Regie­rung äußern, sind in Gefahr. Oppo­si­tio­nel­le, Gewerkschaftler*innen, Journalist*innen, Akteur*innen der Zivil­ge­sell­schaft sowie Kritiker*innen des Regimes sind bedroht, vie­le sit­zen bereits im Gefäng­nis. Es gibt Repres­sio­nen gegen Min­der­hei­ten, Ver­ei­ne wer­den drang­sa­liert oder direkt aufgelöst.

Wie wirkt sich die­se Repres­si­on auf Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen und ins­be­son­de­re auf Per­so­nen aus, die soli­da­risch mit Geflüch­te­ten sind? 

Prä­si­dent Sai­ed hat es nicht nur auf Migrant*innen abge­se­hen, son­dern auch auf unab­hän­gi­ge Orga­ni­sa­tio­nen, die sich für die Rech­te von Migrant*innen und Schutz­su­chen­den ein­set­zen. Die Kri­mi­na­li­sie­rung hat zuerst Orga­ni­sa­tio­nen getrof­fen, die Migrant*innen ganz prak­tisch vor Ort unter­stüt­zen, etwa durch Lebens­mit­tel­aus­ga­be oder Rechts­be­ra­tung. Das war eine bewuss­te Ent­schei­dung der Poli­tik mit dem Ziel, Schutz­su­chen­de mög­lichst vul­nerabel zurückzulassen.

Eini­ge Mit­ar­bei­ten­de die­ser Orga­ni­sa­tio­nen, etwa Abdel­razak Kari­mi vom Tune­si­schen Flücht­lings­rat, Yadh Bous­sel­mi von Terre d’Asile Tuni­sie oder Saa­dia Mes­bah von M’nemty sit­zen seit über 14 Mona­ten im Gefäng­nis – ohne Ankla­ge. Ihr ein­zi­ges Ver­bre­chen: Dass sie sich soli­da­risch gezeigt haben. Ich bin nicht opti­mis­tisch, was den Fort­gang ihrer Ver­fah­ren angeht. Denn alle poli­tisch moti­vier­ten Ver­fah­ren in Tune­si­en enden mit lan­gen Gefäng­nis­stra­fen. Es gibt kei­ne fai­ren Verfahren.

Wie rechts­fer­tigt die Regie­rung die­se repres­si­ven Maßnahmen?

In media­len Kam­pa­gnen wer­den Orga­ni­sa­tio­nen der Zivil­ge­sell­schaft zunächst als »Ver­rä­ter«, »Agen­ten von Kolo­nia­lis­ten« und »Kor­rup­te« stig­ma­ti­siert oder der Geld­wä­sche beschul­digt. Teil­wei­se wird behaup­tet, man sei Teil von Schleu­ser­netz­wer­ken. Ins­ge­samt ist die gan­ze Debat­te rund um Migra­ti­on stark auf den Sicher­heits­aspekt ver­engt, das heißt, Migra­ti­on wird als Bedro­hung beschrie­ben und in die Nähe von Ter­ro­ris­mus gerückt, womit repres­si­ve Maß­nah­men legi­ti­miert wer­den sollen.

Die­se sys­te­ma­ti­sche Repres­si­on ist Aus­druck der auto­ri­tä­ren Wen­de Tune­si­ens – sie bewirkt, dass die Hand­lungs­spiel­räu­me der Zivil­ge­sell­schaft wei­ter schrumpfen.

Wie schätzt du das Ver­hält­nis zwi­schen Staat und Jus­tiz all­ge­mein ein?

Die Jus­tiz in Tune­si­en ist nicht mehr unab­hän­gig, son­dern wird mitt­ler­wei­le vom Staat gelenkt. Es gibt kei­ne Garan­tie für fai­re und unab­hän­gi­ge Ver­fah­ren, kei­ne Gewähr­leis­tung für die Durch­set­zung des Geset­zes. Der Abbau des Rechts­staats ist auch einer der Grün­de, war­um vie­le jun­ge Tunesier*innen das Land ver­las­sen haben. Soll­te die EU Tune­si­en als »siche­res Land« ein­stu­fen, wäre das ein wei­te­res grü­nes Licht für die Unter­drü­ckung der Tunesier*innen, die dem Regime kri­tisch gegenüberstehen.

Seid auch ihr mit eurer Arbeit beim Tune­si­schen Forum für wirt­schaft­li­che und sozia­le Rech­te (FTDES) von den Repres­sio­nen betroffen? 

Lei­der ja. Es fing an mit media­len Kam­pa­gnen und Bedro­hun­gen. Mitt­ler­wei­le sind wir in der zwei­ten Pha­se der Repres­si­on ange­kom­men: Die Behör­den ermit­teln gegen unse­re Orga­ni­sa­ti­on unter dem Vor­wand angeb­li­cher steu­er­li­cher und finan­zi­el­ler Unre­gel­mä­ßig­kei­ten. Wir wer­den sehen, was dar­aus folgt. Mitarbeiter*innen von uns könn­ten ver­haf­tet und ein­ge­sperrt wer­den. Oder unse­re Kon­ten wer­den ein­ge­fro­ren, die Büros womög­lich geschlos­sen – in sol­chen Fäl­len sagen die Behör­den in der Regel, das sei nur vor­über­ge­hend, solan­ge die fina­le Ent­schei­dung der Jus­tiz aus­ste­he. Aber bis es so weit ist, bin­det das intern natür­lich viel Zeit, Ener­gie und Geld und lähmt unse­re Arbeit. Das ist eine Tak­tik, die wir auch schon bei ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen gese­hen haben.

(hk)

Romdha­ne Ben Amor ist Spre­cher des Tune­si­schen Forums für wirt­schaft­li­che und sozia­le Rech­te (FTDES). Die Orga­ni­sa­ti­on wur­de 2011, nach der tune­si­schen Revo­lu­ti­on gegrün­det. Die Orga­ni­sa­ti­on arbei­tet zu wirt­schaft­li­chen, sozia­len und öko­lo­gi­schen Fra­gen und setzt sich für eine men­schen­rechts­kon­for­me Migra­ti­ons­po­li­tik ein.