News
Türkei: Wie der »Ausnahmezustand« politisch instrumentalisiert wird
Die türkische Regierung hat den Ausnahmezustand ausgerufen und verkündet, die Europäische Menschenrechtskonvention vorübergehend auszusetzen. Doch eine vollständige Aussetzung ist nicht möglich. Vielmehr droht die Gefahr, den „Ausnahmezustand“ zur Legitimation sachfremder Ziele zu verwenden. In der Pflicht zur Kritik steht auch die Bundesregierung.
Der gescheiterte Militärputsch hat in der Türkei zu einer Kaskade an Repressionen seitens des AKP-Regimes geführt. Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, Inhaftierungen, die Androhung der Todesstrafe – anscheinend hat die Regierung von Präsident Erdoğan nur nach einem Grund gesucht, den autoritären Staatsumbau voranzutreiben.
Aufgeschreckt hat viele die Meldung, die Türkei wolle die EMRK zeitweilig aussetzen. Erdoğan verteidigte das Vorgehen mit Hinweis auf Frankreich, das bereits seit November 2015 und voraussichtlich bis Januar 2017 Teile der EMKR ausgesetzt hat. Doch der Vergleich hinkt – und verweist dennoch auf die problematische Handhabung von Regierungen, Ausnahmeregime zum Normalfall werden zu lassen.
Kriterien zur Aussetzung der EMRK
Tatsächlich sieht Art. 15 EMRK die Möglichkeit vor im Falle des Kriegs oder eines anderen öffentlichen Notstands, Maßnahmen zu treffen, die von Verpflichtungen der EMRK abweichen. Einschränkend ist aber zu beachten, dass die Maßnahmen nur getroffen werden dürfen, solange die Lage dies unbedingt erfordert. Das heißt die Maßnahmen müssen im direkten Zusammenhang mit dem öffentlichen Notstand stehen und darüber hinaus verhältnismäßig sein – sie sind damit weiterhin der gerichtlichen Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zugänglich. Ebenfalls nicht ausgesetzt werden dürfen Art. 2 (Schutz des Lebens), Art. 3 (Verbot der Folter) und Art. 7 (Keine Strafe ohne Gesetz). Ausgenommen ist deshalb auch die bereits öffentlich verkündete Idee der türkischen Regierung, erneut die Todesstrafe einzuführen. Interessant hierbei ist der ausführliche Factsheet den der EGMR just diese Woche online gestellt hat und eine Übersicht über bisherige Urteile des Gerichts zu Ausnahmesituationen enthält. Offenbar will Straßburg schonmal ein Signal nach Ankara schicken, was möglich ist und was nicht.
Ausnahmezustand in Frankreich
Die AKP-Regierung rechtfertigte ihr Vorgehen auch unter Hinweis auf den ausgerufenen Ausnahmezustand in Frankreich. Das Schweizer Menschenrechtsportal zeigt in einer Analyse der dort ergriffenen Maßnahmen jedoch, dass der Vergleich vielmehr die Probleme des Ausnahmerechts zeigt. So wurden z.B. Demonstrationen rund um den Pariser Klimagipfel verboten, obschon diese mit dem Zweck des Notstands – Terrorismus zu verhindern – nicht in einem sachlichen Zusammenhang stehen. Auch präventive Strafmaßnahmen wurden verhängt. Das Schweizer Menschenrechtsportal konstatiert daher: „In Anbetracht des gefährlichen Abdriftens, der systematischen Missbräuche und dem Wunsch von Regierung und Parlament, diesen Zustand zu verlängern, sehen wir aber Grund zur Beunruhigung. In Zeiten, in denen die Emotionen kurzerhand das Recht übertrumpfen, kommt dem EGMR eine immer wichtigere Rolle als Bollwerk des Menschenrechtsschutzes in Europa zu.“
Die Verkündung des Ausnahmezustands hat oft – das zeigt das Beispiel Frankreich – vor allem ein Ziel: Den Ausnahmezustand zu normalisieren, grundrechtswidrige Eingriffe mit Legitimation zu verleihen und en passent politische Opposition mundtot zu machen, indem Versammlungen verboten werden. Auch Staaten in der EU werden dann schnell zum Vorbild und zur Legitimation für das Handeln autoritärer Staaten.
Türkei: Umbau der Staatsapparate
Dennoch ist die Lage in der Türkei anders zu bewerten als in Frankreich. Wie der Türkei-Korrespondent Deniz Yücel (Die WELT) feststellt wird sich unter dem Normalzustand von Machthaber Erdoğan der neue „Ausnahmezustand in der Türkei schon anstrengen müssen, um überhaupt aufzufallen.“ Denn der autoritäre Staatsumbau untergräbt schon jetzt massiv die demokratische Gewaltenteilung. Bevor überhaupt ein Ausnahmezustand ausgerufen wurde, wurde durch Entlassungen von (Verfassungs-)Richtern die Möglichkeit minimiert, dass die exekutiven Maßnahmen einer ernsthaften juristischen Kontrolle zugeführt werden. Durch die Zerschlagung unabhängiger akademischer Strukturen sowie Teilen der Presse wird die Zivilgesellschaft massiv eingeschüchtert und mundtot gemacht. Die gesamten Maßnahmen der vergangenen Tage zeigen, dass es beim derzeitigen „Putsch nach dem Putsch“ nicht um die Folgewirkungen des militärischen Aufbegehrens geht, sondern der gesamte Staatsapparat auf Linie gebracht werden soll. Mit dem kritischen Verfassungsrechtler Günter Frankenberg (Universität Frankfurt) könnte man diese „Normalisierung des Ausnahmezustands“ als „Verrechtlichung der ausnahmerechtlichen Argumentationsfiguren durch ihre Aufnahme in das Normalrecht“ fassen, wodurch sie in den „Mantel normativer Normalität gehüllt, verstetigt und veralltäglicht werden.“ Dieser Prozess begleite und fördere eine Transformation des Rechtsstaates zum Sicherheitsstaat.
Kritik und Konsequenzen durch die Bundesregierung sind nötig
Die Kommentierung der Vorfälle in der Türkei durch die deutsche Bundesregierung ist bislang verhaltend bis abwartend. Doch was wirklich nötig ist, sind ernsthafte Konsequenzen. Hierzu gehört eine klare Ablehnung des autoritären Staatsumbaus. Anzudenken ist auch die Einräumung von humanitären Aufenthaltstiteln für Personen aus der Türkei, die sich in Deutschland befinden und z.B. mit Rückreiseaufforderungen bedroht sind. Die Bundesregierung hat hierbei nach § 25 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz einen gewissen Ermessensspielraum. Darüber hinaus muss die derzeitige Situation aber Konsequenzen für die EU-Flüchtlingspolitik haben: Der EU-Türkei Deal und die Absicht, die Türkei als „sicheren Herkunftsstaat“ einzustufen sind nichts anderes als außenpolitische Schützenhilfe für das Erdoğan-Regime. Der Deal und die Absicht der Einstufung müssen sofort beendet werden. Nur dann ist die außenpolitische Kritik der Bundesregierung gegenüber der Türkei tatsächlich glaubwürdig.