13.11.2025
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Das Generalkonsulat in München Foto: Afghanisches Generalkonsulat

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten den Taliban den Weg in die afghanischen Auslandvertretungen geöffnet. Das bringt Afghan*innen in Gefahr, weil sie sich bei Passangelegenheiten dem Unrechtsregime aussetzen müssen. Deutsche Behörden sollten stattdessen Ersatzpapiere ausstellen.

»Für vie­le afgha­ni­sche Migran­ten stellt die­se Prä­senz eine ernst­haf­te Bedro­hung dar. (…) Die Anwe­sen­heit von Ver­tre­tern einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung (…) ist zutiefst beun­ru­hi­gend. Sie ver­ur­sacht Angst, Frus­tra­ti­on und eine ernst­haf­te Bedro­hung der Mei­nungs­frei­heit und des zivil­ge­sell­schaft­li­chen Enga­ge­ments afgha­ni­scher Migran­ten. (…) Ich fürch­te [auch] wel­che Infor­ma­tio­nen sie über [afgha­ni­sche] Per­so­nen in Deutsch­land sammeln.«

Die­se Nach­richt erreich­te PRO ASYL von einem nach Deutsch­land eva­ku­ier­ten Afgha­nen, der wie vie­le ande­re Afghan*innen erschro­cken und besorgt ist, seit­dem Tali­ban-Ver­tre­ter die zwei afgha­ni­schen Kon­su­la­te und die Bot­schaft in Deutsch­land über­neh­men. Seit dem 10. Novem­ber 2025 hat  ein Talib auch im Kon­su­lat in Bonn das Sagen, in dem Daten und Doku­men­te von Tau­sen­den Afghan*innen aus ganz Euro­pa lagern (mehr dazu wei­ter unten). Alle afgha­ni­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen in Deutsch­land ste­hen nun unter dem Ein­fluss der Taliban.

Afghanische Vertretungen entzogen sich zunächst der Taliban-Kontrolle

Das war zunächst anders. Nach­dem die Tali­ban im August 2021 die Kon­trol­le über ganz Afgha­ni­stan erlangt hat­ten, erkann­ten weder Deutsch­land noch ande­re Län­der das Regime als legi­ti­me Regie­rung an.

Diplo­ma­ten und Botschaftsmitarbeiter*innen, die noch von der Isla­mi­schen Repu­blik Afgha­ni­stan ein­ge­setzt wor­den waren, waren wei­ter unter der repu­bli­ka­ni­schen Flag­ge ihres Lan­des tätig und wei­ger­ten sich, mit dem neu­en Regime in Kabul zu koope­rie­ren – tole­riert von der Bun­des­re­pu­blik. Sie übten dabei auch kon­su­la­ri­sche Dienst­leis­tun­gen wie die Aus­stel­lung von Geburts­ur­kun­den, Pass­ver­län­ge­run­gen und – in engen Gren­zen – auch die Aus­stel­lung neu­er Natio­nal­päs­se aus. Eben­so ver­hielt sich das afgha­ni­sche Bot­schafts­per­so­nal auch in ande­ren west­li­chen Län­dern. Eine Aus­nah­me bil­de­te in Deutsch­land das Gene­ral­kon­su­lat in Mün­chen, das früh­zei­tig mit den Tali­ban zusammenarbeitete.

Druck aus Afghanistan und Deutschland

Doch die Tali­ban wol­len die Kon­trol­le über sämt­li­che Aus­lands­ver­tre­tun­gen. Im Juli 2024 teil­ten die Tali­ban den Gast­ge­ber­staa­ten afgha­ni­scher Aus­lands­ver­tre­tun­gen mit, dass sie ab sofort nur noch Doku­men­te aner­ken­nen wer­den, die von mit Tali­ban koope­rie­ren­den Aus­lands­ver­tre­tun­gen aus­ge­stellt wur­den. Das ist vor allem für ein Anlie­gen der vor­he­ri­gen und der aktu­el­len Bun­des­re­gie­rung ein Pro­blem: Abschie­bun­gen nach Afghanistan.

Die Ampel-Regie­rung dräng­te Afgha­ni­stans Bot­schaf­ter in Ber­lin, Yama Yari, und den dama­li­gen Gene­ral­kon­sul in Bonn, Said Lutful­lah Sadat, die beharr­lich die Koope­ra­ti­on mit den Tali­ban ver­wei­ger­ten, zum Rück­tritt. Am 18. Novem­ber 2024 schließ­lich gaben die bei­den Diplo­ma­ten nach, nach­dem ihnen zuvor durch die Bun­des­re­gie­rung mit der kom­plet­ten Schlie­ßung der Aus­lands­ver­tre­tun­gen gedroht wor­den war. Sadat schrieb, laut Medi­en­be­rich­ten, in einer Erklä­rung, dass er auf­grund »poli­ti­scher Posi­tio­nen eini­ger Län­der, beson­ders der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und der Euro­päi­schen Uni­on« sowie »poli­ti­scher Erwä­gun­gen und Beschrän­kun­gen des Gast­ge­ber­lan­des« nicht mehr sei­ne »poli­ti­sche Unab­hän­gig­keit« wah­ren könne.

Auf Anfra­ge der taz erklär­te das Aus­wär­ti­ge Amt sei­ner­zeit, dass »die bei­den Lei­ter der afgha­ni­schen Ver­tre­tun­gen in Ber­lin und Bonn durch den Ent­sen­de­staat abbe­ru­fen« wor­den sei­en. Dies sei »aus völ­ker­recht­li­cher Sicht bin­dend«. Des­halb habe die Bun­des­re­gie­rung hier­auf eine »ange­mes­se­ne Frist« zur Räu­mung der Aus­lands­ver­tre­tun­gen gesetzt.

Bundesregierung will um jeden Preis abschieben

Am 22. Juli 2025 – und damit kurz nach der zwei­ten Abschie­bung aus Deutsch­land nach Kabul und der ers­ten unter der neu­en Regie­rung – wur­de bekannt, dass die Tali­ban erst­mals seit ihrer erneu­ten Macht­über­nah­me ihr eige­nes Kon­su­lar­per­so­nal nach Deutsch­land ent­sandt hat­ten. Zwei ihrer Ver­tre­ter nah­men nach der Ertei­lung von Diplo­ma­ten­vi­sa und ihrer Ein­rei­se nach Deutsch­land in der Bot­schaft in Ber­lin und am 10. Novem­ber 2025 im Kon­su­lat in Bonn die Arbeit auf. Damit ste­hen nun sämt­li­che afgha­ni­sche Aus­lands­ver­tre­tun­gen in Deutsch­land unter der Kon­trol­le der Tali­ban. Das Aus­wär­ti­ge Amt beteu­ert, dass sie bis­her nicht offi­zi­ell bestellt wur­den. Doch in der Pra­xis ändert das wenig.

 

Obwohl afgha­ni­sche Diplo­ma­ten und Menschenrechtsaktivist*innen genau davor gewarnt hat­ten, ließ die deut­sche Bun­des­re­gie­rung die Tali­ban-Ver­tre­ter ein­rei­sen und ver­lieh ihnen den Diplo­ma­ten-Sta­tus. Der Grund, wie Innen­mi­nis­ter Alex­an­der Dob­rindt in einem Inter­view ein­räum­te: Sie sol­len Abschie­bun­gen afgha­ni­scher Straf­tä­ter unter­stüt­zen. Auch hier zeigt sich das aktu­el­le Mot­to der Bun­des­re­gie­rung: Abschie­bun­gen um jeden Preis.

Taliban-Übernahme des Generalkonsulats in Bonn

Wegen die­ser vom Tali­ban-Regime ent­sand­ten Diplo­ma­ten leg­ten am 1. Okto­ber 2025 der zu die­ser Zeit täti­ge Gene­ral­kon­sul der Vor­gän­ger­re­gie­rung, Hamid Nan­gi­a­l­ay Kabi­ri, und die 22 Mit­ar­bei­ten­den des Bon­ner Kon­su­lats geschlos­sen die Arbeit nie­der. Einer der Tali­ban-Ver­tre­ter hat nun die Füh­rung des Gene­ral­kon­su­lats in Bonn über­nom­men.  Kabi­ri hin­ge­gen hat in Deutsch­land Asyl bean­tragt.

Beson­ders bri­sant an der Über­nah­me die­ses Kon­su­lats ist, dass es über eine gro­ße Daten­samm­lung ande­rer afgha­ni­scher Bot­schaf­ten und Kon­su­la­te, auch in Euro­pa, Kana­da und Aus­tra­li­en, ver­fügt, die noch nicht von der Tali­ban gelei­tet wer­den. Die­se Bot­schaf­ten und Kon­su­la­te sind Anlauf­stel­len für Afghan*innen, die von den Tali­ban ver­folgt wer­den, zur Beschaf­fung von afgha­ni­schen Doku­men­ten und Päs­sen. Und die­se wol­len unter kei­nen Umstän­den wie­der mit ihren Ver­fol­gern in Kon­takt treten.

Soll­ten die Tali­ban-Ver­tre­ter nun Zugang zu die­sen Daten haben, bedeu­tet dies unter Umstän­den, dass sie Infor­ma­tio­nen zum Ver­bleib geflüch­te­ter Oppo­si­tio­nel­ler und Regimegegner*innen haben. Dass kann auch Ange­hö­ri­ge die­ser Per­so­nen in Afgha­ni­stan in exis­ten­ti­el­le Gefahr bringen.

Auswirkungen auf die afghanische Diaspora

In der afgha­ni­schen Com­mu­ni­ty in Deutsch­land haben die­se Ent­wick­lung gro­ße Sor­gen aus­ge­löst. Denn vie­le sind auf die Aus­lands­ver­tre­tun­gen ihres Her­kunfts­staa­tes ange­wie­sen, wenn es bei­spiels­wei­se um die Klä­rung ihrer Iden­ti­tät oder um die Aus­stel­lung oder Ver­län­ge­rung von Natio­nal­päs­sen geht.

Eine ers­te zwin­gen­de Aus­nah­me bil­den hier jene als Flücht­lin­ge nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on Aner­kann­ten (GFK-Flücht­lin­ge), die vor staat­li­cher Ver­fol­gung geflo­hen sind. Für sie gilt, dass sie nicht zum Kon­takt mit dem Staat auf­ge­for­dert wer­den dür­fen, der sie bedroht. Daher dür­fen sie auch nicht zum Gang zu einer mit Tali­ban besetz­ten bezie­hungs­wei­se koope­rie­ren­den Aus­lands­ver­tre­tung genö­tigt wer­den. Mit­hin darf ihnen auch die Beschaf­fung eines afgha­ni­schen Natio­nal­pas­ses nicht abver­langt wer­den. Im Gegen­teil gilt eine sol­che Beschaf­fung sogar als Para­de­bei­spiel eines »Unter den Schutz des Her­kunfts­staa­tes stel­len« im Sin­ne des § 73 Absatz 1 Num­mer 1 Asyl­ge­setz (AsylG), was zum Wider­ruf der Flücht­lings­ei­gen­schaft füh­ren kann.

Die Pass­be­schaf­fung ist für sie aber unmit­tel­bar nach der Aner­ken­nung nicht nötig, da aner­kann­te Flücht­lin­ge einen vom aner­ken­nen­den Staat aus­ge­stell­ten »Rei­se­aus­weis für Flücht­lin­ge« erhal­ten, der zu Rei­sen in all jene Staa­ten berech­tigt, wel­che die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on aner­kannt haben – mit einer Aus­nah­me: in den eige­nen Her­kunfts­staat, in dem staat­li­che Ver­fol­gung droht.

Mit dem Rei­se­aus­weis für Flücht­lin­ge ist aber die Iden­ti­tät nicht unbe­dingt geklärt. Denn beru­hen die Anga­ben allein von der als Flücht­ling aner­kann­ten Per­son und wur­den wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens nicht durch Doku­men­te aus dem Her­kunfts­staat belegt, wird der Pass mit fol­gen­dem Hin­weis ver­se­hen: »Die Per­so­nen­da­ten beru­hen auf den eige­nen Anga­ben des Antragstellers.«

Bei der Bean­tra­gung einer Nie­der­las­sungs­er­laub­nis oder einer Ein­bür­ge­rung sind aber auch aner­kann­te Flücht­lin­ge gezwun­gen, ihre Iden­ti­tät und Staats­an­ge­hö­rig­keit zu klä­ren. Auch wenn aner­kann­te Flücht­lin­ge bei­spiels­wei­se hei­ra­ten wol­len, wer­den afgha­ni­sche Doku­men­te benö­tigt. Haben die Per­so­nen die­se nicht mit auf die Flucht nach Deutsch­land genom­men, sie ver­lo­ren oder kön­nen sie nicht über Ver­wand­te in Afgha­ni­stan beschaf­fen, bleibt auch ihnen nur der Weg über die afgha­ni­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen in Deutschland.

Nicht so ein­deu­tig wie für Flücht­lin­ge stellt sich die Situa­ti­on für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te dar. Einen Rei­se­aus­weis für Flücht­lin­ge, der den GFK-Flücht­lin­gen vor­be­hal­ten ist, kön­nen sie nicht erhal­ten. Wenn sie ein deut­sches Pass­ersatz­pa­pier erhal­ten wol­len, kommt für sie nur der »Rei­se­aus­weis für Aus­län­der« nach den §§ 5 und 6 der Auf­ent­halts­ver­ord­nung (Auf­enthV) in Fra­ge. Vor­aus­set­zung für des­sen Ertei­lung ist, dass die antrag­stel­len­de Per­son kei­nen Natio­nal­pass besitzt und die­sen auch nicht auf zumut­ba­re Wei­se erlan­gen kann (§ 5 Auf­enthV).

Man­che Ver­wal­tungs­ge­rich­te mei­nen, dass aus der Nicht­zu­er­ken­nung der Flücht­lings­ei­gen­schaft im Asyl­ver­fah­ren bereits geschlos­sen wer­den kön­ne, dass sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten die Pass­be­schaf­fung ohne das Hin­zu­tre­ten beson­de­rer Umstän­de grund­sätz­lich zumut­bar sei, da nicht von einer indi­vi­du­el­len Ver­fol­gung aus­ge­gan­gen wird. Die Aus­stel­lung eines Rei­se­aus­wei­ses für Aus­län­der durch die Aus­län­der­be­hör­de wür­de sonst der Ent­schei­dung des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge wider­spre­chen, denn sonst hät­te die Behör­de die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuge­spro­chen (so etwa VG Müns­ter, Urteil vom 23.06.2022, 3 K 823/20).

Hier­bei wird aber ver­kannt, dass hier zwei Behör­den ganz unter­schied­li­che Zustän­dig­kei­ten inne­ha­ben bezie­hungs­wei­se aus­üben: Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) muss sich im Asyl­ver­fah­ren mit einer Ver­fol­gung und dem Zusam­men­hang von Ver­fol­gung und Ver­fol­gungs­grund aus­ein­an­der­set­zen; die Aus­län­der­be­hör­de hin­ge­gen mit der Fra­ge, wel­che Hand­lun­gen einer Per­son zur Beschaf­fung eines Pas­ses zuge­mu­tet wer­den kann.

Der Fach­an­walt für Migra­ti­ons­recht Mat­thi­as Leh­nert hat im Auf­trag von PRO ASYL im März 2024 ein Gut­ach­ten erstellt, wel­ches sich unter ande­rem mit der Fra­ge aus­ein­an­der­setzt, unter wel­chen Umstän­den sub­si­di­är Geschütz­ten die Pass­be­schaf­fung unzu­mut­bar ist. Er kommt dar­in zusam­men­ge­fasst zu dem Ergeb­nis, dass jeden­falls dann, wenn die Bedro­hungs­si­tua­ti­on sub­si­di­är Geschütz­ter »im mate­ri­el­len Kern« mit jener von aner­kann­ten Flücht­lin­gen ver­gleich­bar ist, weil hier wie dort eine Men­schen­rechts­ver­let­zung im Raum ste­hen, die von Sei­ten staat­li­cher Behör­den droht oder von die­sen began­gen wur­de, eine Unzu­mut­bar­keit der Pass­be­schaf­fung zu kon­sta­tie­ren ist.

Für Per­so­nen, die unter­halb des Flücht­lings­sta­tus und des sub­si­diä­ren Schut­zes ein natio­na­les Abschie­bungs­ver­bot erhal­ten, ergibt sich aus dem Gut­ach­ten eben­falls eine Vor­aus­set­zung zur Aus­stel­lung eines »Rei­se­aus­wei­ses für Aus­län­der«. Dem­nach sei von einer Unzu­mut­bar­keit der Pass­be­schaf­fung aus­zu­ge­hen, wenn sich die kon­kre­ten Gefah­ren für Leib, Leben oder Frei­heit, die nach den Fest­stel­lun­gen des BAMF bei einer Rück­kehr droh­ten, sich bereits ver­wirk­li­chen wür­den, wenn die Per­son in des­sen kon­su­la­ri­scher Ver­tre­tung in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land die Aus­stel­lung eines Pas­ses bean­tra­gen würde.

 

Unzumutbarkeit der Passbeschaffung für Afghan*innen

Die größ­te Grup­pe der Aner­ken­nun­gen afgha­ni­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger liegt nach aktu­el­len Zah­len bei der Zuer­ken­nung der Flücht­lings­ei­gen­schaft (etwa 50 Pro­zent der Schutz­su­chen­den). Bei ihnen stellt sich – wie oben dar­ge­stellt – das Pro­blem einer erzwun­ge­nen Kon­takt­auf­nah­me zu afgha­ni­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen zum Bei­spiel vor Bean­tra­gung einer Nie­der­las­sungs­er­laub­nis oder dem Ein­bür­ge­rungs­ver­fah­ren schon von Geset­zes wegen nicht.

Ein Vier­tel der Schutz­su­chen­den, die kleins­te Grup­pe, sind sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te, bei denen es dar­auf ankommt, ob der dro­hen­de ernst­haf­te Scha­den von staat­li­chen Insti­tu­tio­nen ausgeht.

Per­so­nen mit Abschie­bungs­ver­bot stel­len mit etwa einem Drit­tel der Schutz­su­chen­den die zweit­größ­te Grup­pe dar. Dabei ist davon aus­zu­ge­hen, dass die vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) fest­ge­stell­te dro­hen­de Gefahr für Leib und Leben regel­mä­ßig nicht unmit­tel­bar von den Tali­ban aus­geht, son­dern der kata­stro­pha­len Ver­sor­gungs­la­ge in Afgha­ni­stan zuzu­schrei­ben ist. Die­se ver­hin­dert, dass Men­schen dort für ihre grund­le­gends­ten exis­ten­zi­ells­ten Bedürf­nis­se oder für ihre medi­zi­ni­sche Betreu­ung sor­gen kön­nen. Eine Unzu­mut­bar­keit der Pass­be­schaf­fung wird sich zwar nach den obi­gen Grund­sät­zen nicht fest­stel­len las­sen, aller­dings muss gefragt wer­den, ob es nicht auch ande­re Umstän­de gibt, die zu einer Unzu­mut­bar­keit bei der Pass­be­schaf­fung füh­ren können.

Unzumutbarkeit auf Grund der Zahlungen an Verbrecherregime 

In dem vom Rechts­an­walt Mat­thi­as Leh­nert erstell­ten Gut­ach­ten vom März 2024 wur­de kon­kret die Situa­ti­on von syri­schen und eri­tre­ischen Schutz­su­chen­den nach sol­chen Fak­to­ren unter­sucht. Der Gut­ach­ter stellt in Fra­ge, ob Zah­lun­gen, die im Rah­men der Pass­be­schaf­fung und Iden­ti­täts­klä­rung an einen Staat erfol­gen, über­haupt zumut­bar sein kön­nen, wenn die­ser Ver­bre­chen ver­übt, einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krieg führt oder mit Sank­tio­nen belegt ist. Zusam­men­fas­send stellt er fest, dass wenn bei der Pass­be­schaf­fung unan­ge­mes­sen hohe Zah­lun­gen von einem sol­chen Staat erho­ben wer­den, davon aus­zu­ge­hen ist, dass die Ein­nah­men die­se Ver­bre­chen mit­fi­nan­zie­ren. Des­halb müss­ten nach sei­ner Auf­fas­sung Syrer*innen (nach dama­li­gem Stand) und Eritreer*innen allein des­halb Rei­se­aus­wei­se für Aus­län­der erhalten.

In Bezug auf das Tali­ban-Regime in Afgha­ni­stan muss die Preis­ent­wick­lung beob­ach­tet wer­den, um fest­stel­len zu kön­nen, ob auch hier von einer grund­le­gen­den Unzu­mut­bar­keit der Pass­be­schaf­fung aus­zu­ge­hen ist, weil mit den Zah­lun­gen Ver­bre­chen der Tali­ban mit­fi­nan­ziert werden.

Es gibt aber eine Grup­pe, die außer­halb des Asyl­ver­fah­rens Auf­nah­me in Deutsch­land gefun­den hat: Die­je­ni­gen, die ab der Macht­über­nah­me der Tali­ban nach Deutsch­land eva­ku­iert oder auf­ge­nom­men wur­den und hier Inhaber*innen von Auf­ent­halts­er­laub­nis­sen nach § 22 S. 2 Auf­ent­halts­ge­setz (Auf­enthG) (Orts­kräf­te­ver­fah­ren, Men­schen­rechts­lis­te, Über­brü­ckungs­pro­gramm) und § 23 Abs. 2 Auf­enthG (Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm) sind.

Nach die­sen Nor­men ist für die Auf­nah­me aus dem Aus­land aus völ­ker­recht­li­chen oder drin­gen­den huma­ni­tä­ren Grün­den eine Auf­ent­halts­er­laub­nis zu ertei­len, wenn das Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Inne­ren oder die von ihm bestimm­te Stel­le die Auf­nah­me zur Wah­rung poli­ti­scher Inter­es­sen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land erklärt hat.

Dies betrifft in Bezug auf Afgha­ni­stan zum einen die Orts­kräf­te, die bis zur erneu­ten Macht­er­grei­fung der Tali­ban für deut­sche Stel­len Unter­stüt­zung geleis­tet haben und denen auf Grund die­ser Tätig­kei­ten Ver­fol­gung durch die Tali­ban dro­hen. Zum ande­ren erhiel­ten über die­se Norm Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen, Kul­tur­schaf­fen­de und ande­ren Per­so­nen, z.B. vul­nerable Per­so­nen wie LSBTIQ+-Menschen oder Frau­en, Auf­nah­me­zu­sa­gen, die auf­grund ihres Enga­ge­ments für Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te oder ihrer regime­kri­ti­schen Tätig­keit unmit­tel­bar einer mas­si­ven Gefähr­dung aus­ge­setzt sind.

All die­sen Per­so­nen haben gemein­sam, dass sie – eben­so wie jenen Afghan*innen, denen das BAMF die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuge­spro­chen hat – durch deut­sche Behör­den und Bot­schaf­ten aner­kann­ter­ma­ßen Ver­fol­gung durch Tali­ban fürch­ten müssen.

Sie kön­nen zwar gemäß § 5 Abs. 3 S. 2 Auf­enthG nach Ermes­sen von der Pass­pflicht befreit wer­den und gege­be­nen­falls so auch ohne Natio­nal­pass eine Auf­ent­halts­er­laub­nis erhal­ten. Ohne Pass oder Pass­ersatz ist es ihnen aber nicht mög­lich zu reisen.

Wie bei sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten (s.o.) ist für die­sen Per­so­nen­kreis aus Sicht von PRO ASYL von der Unzu­mut­bar­keit der Pass­be­schaf­fung aus­zu­ge­hen und ergo auf Antrag ein Rei­se­aus­weis für Aus­län­der aus­zu­stel­len, wenn die Bedro­hung »im mate­ri­el­len Kern« mit jener von Flücht­lin­gen ver­gleich­bar ist, weil sie von staat­li­chen Stel­len aus­geht. Betrof­fe­ne Per­so­nen soll­ten sich an Bera­tungs­stel­len oder Fachanwält*innen wen­den. Das ist im Fal­le der nach § 22 Auf­enthG aus Afgha­ni­stan auf­ge­nom­me­nen Per­so­nen ein­deu­tig der Fall.

Izatullah und Afsana: Präsenz der Taliban eine »echte Bedrohung«

Beson­ders ein­drück­lich ist die Geschich­te von Iza­tul­lah* und Afs­a­na*. Iza­tul­lah hat­te in der Zeit der Isla­mi­schen Repu­blik Afgha­ni­stan 15 Jah­re lang ver­schie­de­ne Posi­tio­nen als Jour­na­list, Akti­vist und hoch­ran­gi­ger Regie­rungs­be­am­ter inne. Afs­a­na*, die eine bekann­te Ärz­tin und Frau­en­rechts­ak­ti­vis­tin ist, arbei­te­te in Afgha­ni­stan auch mit aus­län­di­schen Kräf­ten zusammen.

Alle Zukunfts­träu­me plat­zen im Som­mer 2021 mit der Macht­über­nah­me der Tali­ban. Aus Angst vor Ver­fol­gung floh das Paar aus sei­ner Hei­mat­stadt und ver­steck­te sich zunächst für meh­re­re Mona­te in Kabul, war aber auch dort nicht sicher.

Das Paar hat­te Glück. Iza­tul­lah und Afs­a­na erhiel­ten im Früh­jahr 2022 eine Auf­nah­me­zu­sa­ge, konn­ten nach Deutsch­land flie­hen und den Schre­cken und die Gefahr hin­ter sich las­sen. In Deutsch­land ange­kom­men, erhiel­ten sie eine Auf­ent­halts­er­laub­nis nach Para­graf 22 Auf­ent­halts­ge­setz (Auf­enthG) und fühl­ten sie sich sicher. Bis zum Som­mer 2025. Afs­a­na muss­te ihren Pass im afgha­ni­schen Kon­su­lat ver­län­gern las­sen. Ohne den gül­ti­gen Pass besteht das Risi­ko, dass sie ihre Auf­ent­halts­er­laub­nis nicht ver­län­gert bekommt. Doch bei ihrem Ter­min im Kon­su­lat erkann­te sie einen Tali­ban-Ver­tre­ter. Auch über Medi­en­be­rich­te erfuhr das Paar von den zwei Tali­ban-Ver­tre­tern, die Visa für kon­su­la­ri­sche Diens­te erhal­ten haben. 

Iza­tul­lah und Afs­a­na sind in Afgha­ni­stan mas­siv durch die Tali­ban bedroht. In Deutsch­land aber sol­len sie im Kon­su­lat den Ver­fol­gern gegen­über­tre­ten und die Pass­ver­län­ge­rung erbe­ten. Iza­tul­lah äußert sich besorgt: »Die Nach­richt über die Anwe­sen­heit eines Tali­ban-Ver­tre­ters in der afgha­ni­schen Bot­schaft war scho­ckie­rend, ins­be­son­de­re für mich, da ich wäh­rend der Repu­blik in zivi­len und staat­li­chen Insti­tu­tio­nen gear­bei­tet habe. Für vie­le afgha­ni­sche Migran­ten stellt die­se Prä­senz eine ernst­haf­te Bedro­hung dar. (…) Die Anwe­sen­heit von Ver­tre­tern einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung (…) ist zutiefst beun­ru­hi­gend. Sie ver­ur­sacht Angst, Frus­tra­ti­on und eine ernst­haf­te Bedro­hung der Mei­nungs­frei­heit und des zivil­ge­sell­schaft­li­chen Enga­ge­ments afgha­ni­scher Migran­ten. (…) Ich fürch­te [auch] wel­che Infor­ma­tio­nen sie über [afgha­ni­sche] Per­so­nen in Deutsch­land sam­meln«, schreibt er dem PRO ASYL Beratungsteam.

Wie kann es dem Paar zuge­mu­tet wer­den, den Men­schen, die ihre Zukunft zer­stört und ihr Leben bedroht haben wie­der ent­ge­gen tre­ten zu müs­sen? Das Flucht­schick­sal des Paa­res ist ver­gleich­bar mit Per­so­nen, die in Deutsch­land als Flücht­lin­ge aner­kannt sind. Schon des­halb soll­ten sie mit der Ertei­lung der Auf­ent­halts­er­laub­nis nach Para­graf 22 Auf­enthG – oder zumin­dest dann, wenn der afgha­ni­sche Pass sei­ne Gül­tig­keit ver­liert – einen »Rei­se­aus­weis für Aus­län­der« erhal­ten. Zudem dro­hen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in Afgha­ni­stan, durch einen Bot­schafts­be­such, Bedro­hung und Repres­sio­nen durch die Taliban.

Deutschland darf nicht mit den Taliban zusammenarbeiten

Deutsch­land hat sich mit der Auf­nah­me gefähr­de­ter Afghan*innen ver­pflich­tet, für ihren Schutz zu sor­gen. Glei­ches gilt für Per­so­nen, die im Rah­men des Asyl­ver­fah­rens einen Schutz­sta­tus erhal­ten haben. Die­ser Ver­pflich­tung kann die Regie­rung nach­kom­men, indem eine kla­re Wei­sung über das Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Inne­ren (BMI) an die Aus­län­der­be­hör­den erfolgt, dass Per­so­nen mit einer Auf­ent­halts­er­laub­nis nach den Para­gra­fen 22 und 23 Auf­enthG die Pass­be­schaf­fung unzu­mut­bar ist und somit ein Anspruch auf die Aus­stel­lung eines »Rei­se­aus­wei­ses für Aus­län­der« besteht.

Im Fall von GFK-Flücht­lin­gen soll­te im Fal­le der Bean­tra­gung einer Nie­der­las­sungs­er­laub­nis und Ein­bür­ge­rung, wie im Stu­fen­mo­dell auch vor­ge­se­hen, nicht auf die Vor­la­ge des Natio­nal­pas­ses zur Iden­ti­täts- und Staats­an­ge­hö­rig­keits­klä­rung beharrt wer­den, son­dern ande­re afgha­ni­sche Doku­men­te unmit­tel­bar zur Prü­fung ange­nom­men wer­den. Zudem soll­ten die Aus­län­der­be­hör­den ange­wie­sen wer­den, im groß­zü­gi­gen Ermes­sen gefähr­de­ten Afghan*innen mit sub­si­diä­rem Schutz und natio­na­len Abschie­bungs­ver­bo­ten eben­falls »Rei­se­aus­wei­se für Aus­län­der« auszustellen.

Die Visa für die Tali­ban-Ver­tre­ter und die Zusam­men­ar­beit mit den Tali­ban für den Zweck der Abschie­bun­gen sind Teil eines Pro­zes­ses, mit dem das Regime auf der inter­na­tio­na­len Büh­ne nor­ma­li­siert und ver­harm­lost wird, trotz der mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und der bei­spiel­lo­sen Unter­drü­ckung von Mäd­chen und Frau­en in Afgha­ni­stan. PRO ASYL kri­ti­siert dies seit län­ge­rem scharf. Die inter­na­tio­na­le Äch­tung der Tali­ban darf nicht aus innen­po­li­ti­schen Grün­den unter­lau­fen wer­den. Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan sind ange­sichts der schlech­ten men­schen­recht­li­chen und huma­ni­tä­ren Situa­ti­on vor Ort ein Ver­stoß gegen das völ­ker­recht­li­che Abschie­bungs­ver­bot und dür­fen nicht stattfinden.

(ie, pva)