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»So viel, wie uns die Menschen hier geholfen haben, können wir nie zurückgeben«

Familie L. aus Albanien ist einer mörderischen Blutrache entflohen und hat in Ludwigshafen ein neues Zuhause gefunden. Im Gespräch über ihre zweite Heimat Deutschland wird vor allem eines deutlich: Ihre große Dankbarkeit, hier leben zu dürfen. Ihr ganzer Stolz sind ihre drei Kinder, die allesamt Klassenbeste sind.
Der Kaffeetisch ist gedeckt in der Wohnung im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses in der Innenstadt von Ludwigshafen. Herzlich begrüßen Altin und Marie den Gast von PRO ASYL an der Wohnungstür. Sie möchten erzählen über ihre Ankunft in Deutschland vor zehn Jahren und das, was sie seitdem geschafft haben. Am Kühlschrank hängen Magneten mit Motiven aus Albanien – der ersten Heimat der Familie L. »Unsere zweite Heimat ist Deutschland«, sagt Mutter Marie, »Ludwigshafen«.
Wenn sie hier vor die Tür gehen, kennen sie die Menschen, ob im Supermarkt, in der Arztpraxis oder in der Kirchengemeinde. Auch deshalb möchten sie in ihrem Stadtviertel wohnen bleiben, wegen der vielen Freund*innen, Nachbar*innen und Bekannten. Wenn Marie und Altin von den Menschen sprechen, die der fünfköpfigen Familie geholfen haben, sind sie voll des Lobes. »Wir haben immer gehört, die Deutschen seien so kalt in ihrer Art. Aber wir haben ganz andere Erfahrungen gemacht. Wir haben so viele nette, liebe, gute Menschen hier kennengelernt und sind so dankbar für die Hilfe«, sagt Marie.
Am 6. Juni 2015 sind sie in Deutschland angekommen, mit drei kleinen Kindern und nicht mehr als zwei Koffern in der Hand. Den Tag werden sie nie vergessen, es war der vierte Geburtstag von Tochter Zamira. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Nürnberg haben Mitarbeiterinnen dem Mädchen etwas Süßes geschenkt, erinnert sich Marie – ein guter Start für ihr neues Leben in Deutschland. Doch dieses neue Leben begann holprig: Ihr Asylantrag wurde zunächst abgelehnt.
Unterstützer*innen erklärten der Familie, dass sie jederzeit abgeschoben werden können.
Der Topf Suppe stand noch auf dem Herd, als sie ins Kirchenasyl gingen
An der Wand hängen Fotos von den Kommunionsfeiern der Kinder; eine strahlende Familie lacht einem entgegen. Wir können sie nicht zeigen, denn selbst zehn Jahre nach ihrer Flucht aus dem Westbalkanstaat ist die Familie in Gefahr, Opfer eines Blutrache-Feldzugs zu werden. »Ich hatte damit nie etwas zu tun«, beteuert der Familienvater, aber ein Verwandter war involviert und in Albanien droht somit der ganzen Großfamilie Gefahr. Deshalb verließen sie die Heimat, und weil die Verfolgung immer noch real ist, auch hier in Deutschland, haben wir für diesen Text ihre Namen geändert.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte diese Gefahr nicht an – wohl auch, weil Albanien 2015 als sogenannter sicherer Herkunftsstaat eingestuft wurde. Damit wird unterstellt, dass das Land sicher sei. Dass es dort das Gewohnheitsrecht der Blutrache gibt, vor dem der Staat Betroffene nicht ausreichend schützt, wurde dabei nicht berücksichtigt. Plötzlich kam von der Ausländerbehörde die Nachricht, dass die Familie vollziehbar ausreisepflichtig sei. Unterstützer*innen erklärten ihnen, dass sie jederzeit abgeschoben werden können.
Altin war zu der Zeit im Krankenhaus, Marie mit drei Kleinkindern allein zuhause. Es musste alles ganz schnell gehen. Innerhalb von wenigen Stunden entschied sich eine evangelische Kirchengemeinde vor Ort, sie ins Kirchenasyl zu nehmen. »Ich hatte noch den Topf Suppe auf dem Herd«, erinnert sich Marie, aber ihre Freund*innen sagten: »Lass alles stehen und liegen, ihr müsst sofort mitkommen!« Sie holten den Vater aus dem Krankenhaus und kurz darauf fand sich die Familie im Kirchenasyl wieder. Innerhalb von kurzer Zeit haben die Pfarrerin und die Gemeindemitglieder uns eine kleine Wohnung hergerichtet«, erzählt Marie gerührt. Sie tupft sich ein paar Tränen ab. »Drei Monate lebten wir in einem Kirchenraum, ohne dass wir das Gelände verlassen konnten. Unsere Freunde aus der Kirche versorgten uns mit Essen und allem, was wir brauchten. Es kommt alles wieder hoch.« Es war eine harte Zeit für die Familie, voller Unsicherheit, wie es weitergehen würde.
Im Januar 2017 erhielten sie schließlich den lang ersehnten Aufenthaltstitel – dank einer Entscheidung der Härtefallkommission Rheinland-Pfalz, die von der Bedrohungslage in Albanien sowie von der besonderen Integrationsleistung der Familie überzeugt war. »Das war unser erstes großes Glück«. Ein Ehepaar, das Marie und Altin zu ihren »zweiten Eltern« geworden ist und sie seit vielen Jahren begleitet, »hat uns mit einer Torte und einer Flasche Champagner empfangen. So haben wir gefeiert, dass wir in Deutschland bleiben dürfen. Wir lagen uns in den Armen und haben gleichzeitig geweint und gelacht.« Zwar bangten sie bis 2024 jedes Jahr wieder, da der Bescheid jeweils nur für ein Jahr ausgestellt wurde, aber die Erleichterung war dennoch groß.
Ehrenamt bei der Tafel und in der Flüchtlingshilfe: Sie wollen etwas zurückgeben
»Für unsere fünfköpfige Familie hatten wir alles genau ein Mal: Fünf Löffel, fünf Teller, fünf Stühle, dazu eine einzige Pfanne und ein Kochtopf«, berichtet Marie von der Anfangszeit. Doch immer hatten sie Glück und erfuhren Unterstützung durch die Caritas und die evangelische Kirche sowie durch ehrenamtlich Engagierte. »So viel, wie uns die Menschen hier geholfen haben, können wir nie zurückgeben«, sagt Marie. »Gott hat uns zu guten Leuten gebracht.« Die Dankbarkeit ist ihr anzumerken. Marie hat sich viele Jahre lang ehrenamtlich bei der Tafel engagiert, um der Gesellschaft etwas zurück-zugeben. Mittlerweile arbeitet sie mit einem unbefristeten Vertrag in der Hauswirtschaft bei einer katholisch-caritativen Einrichtung für Kranke und benachteiligte Jugendliche und Kinder.
Altin hat regelmäßig bei Möbeltransporten für andere Geflüchtete geholfen. Trotz gesundheitlicher Probleme hat er immer gearbeitet, seit er in Deutschland ist – oft körperlich harte Arbeit – und ist nur momentan aufgrund eines Bandscheibenvorfalls zuhause. »Wir wollten auf eigenen Beinen stehen und nichts vom Staat nehmen«, erklärt er.
»Wir haben bei null angefangen, vielleicht sogar im Minusbereich.«
Der ganze Stolz der Eltern sind ihre drei Kinder, die 16 und 14 Jahre alten Töchter Luljeta und Zamira und der zwölfjährige Sohn Kole. Die drei sind jeweils Klassenbeste, die Älteste, Luljeta, ist Klassensprecherin. Sie möchte nach der Schule Medizin oder Astrophysik studieren; »am liebsten beides«, sagt sie und lacht. Dann wird sie ernst, als sie sagt, wie dankbar sie sei über das deutsche Bildungssystem, das ihr alle Chancen eröffne. »Nicht wie in Albanien, wo man nur gute Noten bekommt, wenn man der Sohn oder die Tochter eines Ministers oder Lokalpolitikers ist. In Deutschland groß zu werden, ist für Kinder ein Privileg.«
Luljeta lächelt bescheiden, als ihre Mutter mit Nachdruck sagt: »Wir haben tolle Kinder! Sie sind nicht nur sehr gut in der Schule, sondern auch sehr sozial. Wir haben bei null angefangen, vielleicht sogar im Minusbereich. Und jetzt sind unsere Kinder ganz oben, auf einem sehr guten Gymnasium.« Für Luljeta tue es ihr leid, sie habe all die Ängste und Sorgen aus der Anfangszeit in Deutschland mitbekommen. »Sie musste früh erwachsen werden.«
Das Mädchen aus Albanien und ihre deutsche Oma
Heute spielen alle drei Kinder Instrumente, Luljeta spielt zudem Volleyball und ist auch selbst Trainerin. Vor zehn Jahren war das unvorstellbar für sie. »Ich kam von der Schule und habe geweint, weil ich kein Wort Deutsch konnte, mich nicht mit den anderen Kindern verständigen konnte und niemand mit mir spielen wollte«, blickt Luljeta zurück, die inzwischen akzentfrei Deutsch spricht. Richtig angekommen fühlte sie sich erst, als ein Lehrer sie ins Sekretariat bat, um für eine albanische Familie zu übersetzen. Das sei ein Schlüsselmoment für sie gewesen, einer, der ihr zeigte: Ich gehöre jetzt hierher.
Doch auch für Luljeta waren es vor allem die Menschen, die ihr aus der Fremde eine neue Heimat machten, allen voran »Omi«. Bei einer älteren Dame aus dem Viertel waren sie und ihre Geschwister jede Woche zu Besuch und die Seniorin, die von den Kindern »Omi« genannt wurde, freute sich über die Gesellschaft. Bei ihrer Beerdigung vor einigen Jahren hat Luljeta eine Rede gehalten, »und alle haben mich ‚ihr Enkelkind‘ genannt.«
Das hat auch Mutter Marie gefreut, die es bedauert, dass ihre Kinder ohne die Großfamilie aufgewachsen sind. »Aber wir haben hier eine neue Familie gefunden.« Der starke Zusammenhalt innerhalb ihrer fünfköpfigen Familie hat sie auch durch schwere Zeiten getragen, das wird im Gespräch immer wieder deutlich. »Auch wenn es kitschig klingt – ich bin stolz auf meine Eltern«, sagt die 16-jährige Luljeta. »Sie haben alles hinter sich gelassen, ihr ganzes Leben. Es war ein schwerer Weg, und sie haben ihn gemeistert. Sie haben nie aufgegeben.«
Was sie den Deutschen zurufen möchten? »Ein großes Dankeschön«, kommt es von Marie wie aus der Pistole geschossen. »Bitte bleibt herzlich und helft den Menschen, die es wirklich brauchen.«
(er)