13.06.2017
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An den Rändern der EU entstehen immer mehr »Wartezonen« für Menschen, denen die Weiterreise verweigert wird: Flüchtlingslager bei Lagkadikia in Nordgriechenland. Foto: medico international

Das Schlagwort »Fluchtursachenbekämpfung« ist in aller Munde – doch anstatt um die Bekämpfung der Ursachen von Flucht, zielen die avisierten Maßnahmen der EU vielmehr weitgehend auf die Bekämpfung der Fluchtbewegungen selbst. PRO ASYL, Brot für die Welt und medico international veröffentlichen dazu ein Standpunktpapier.

Mit dem heu­te ver­öf­fent­lich­ten Stand­punkt­pa­pier »Flucht(ursachen)bekämpfung« wer­den die fata­len Kon­se­quen­zen der EU-Poli­tik für Schutz­su­chen­de und für die Situa­ti­on in Her­kunfts- und Tran­sit­län­dern in den Blick genom­men. Die Orga­ni­sa­tio­nen stel­len sich ent­schie­den allen Bestre­bun­gen ent­ge­gen, Men­schen­rech­te – inklu­si­ve dem Asyl­recht – zu untergraben.

Menschenrechte first!

360 Tote vor der Küs­te von Lam­pe­du­sa – das war 2013 noch eine Nach­richt, die für Schlag­zei­len sorg­te. Bereits 2014 for­der­ten Brot für die Welt, med­ico inter­na­tio­nal und PRO ASYL in einer gemein­sa­men Bro­schü­re mit Nach­druck: »Das Ster­ben an den euro­päi­schen Außen­gren­zen muss aufhören«.

Seit­her ist die Zahl der Toten jedoch von Jahr zu Jahr gestie­gen. Die im Zuge der Flucht­be­we­gun­gen im Som­mer 2015 ergrif­fe­nen Maß­nah­men, um den Zugang nach Euro­pa zu erschwe­ren, haben zu einem dra­ma­ti­schen Höchst­stand der Todes­zah­len an den EU-Außen­gren­zen mit über 5.000 Toten in 2016 geführt.

Euro­pas darf nicht län­ger in Kauf neh­men, dass jähr­lich tau­sen­de Men­schen an den Außen­gren­zen ster­ben oder bru­ta­le Gewalt erle­ben. Lebens­ret­tung und Schutz von Flücht­lin­gen und die Wah­rung der Men­schen­wür­de von Schutz­su­chen­den müs­sen an ers­ter Stel­le stehen!

Die Forderungen im Überblick:

Der Zugang Schutz­su­chen­der zu einem Asyl­ver­fah­ren in Euro­pa muss aus­nahms­los sicher­ge­stellt und das indi­vi­du­el­le Recht auf Asyl unein­ge­schränkt gewähr­leis­tet sein. Die Indus­trie­staa­ten Euro­pas dür­fen die Ver­ant­wor­tung für Flücht­lin­ge und Migrant*innen nicht län­ger an ande­re Staa­ten abschie­ben. Der EU-Tür­kei-Deal und die Zusam­men­ar­beit mit Dik­ta­tu­ren und Unrechts­re­gi­men zur »Migra­ti­ons­kon­trol­le« sind sofort zu beenden.

Die Ver­la­ge­rung euro­päi­scher Abwehr in Regio­nen mit schwa­chen Öko­no­mien und zumeist ohne jede demo­kra­ti­sche Kon­trol­le staat­li­cher Repres­si­ons- und Ver­fol­gungs­or­ga­ne erhöht die Gefahr der Miss­hand­lung und will­kür­li­chen Behand­lung von Schutz­su­chen­den und Migrant*innen an den Gren­zen und im jewei­li­gen Transitland.

Euro­pa darf den dort statt­fin­den­den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch sei­ne eige­ne Grenz­po­li­tik nicht wei­ter Vor­schub leis­ten. Viel­mehr soll­ten zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen, die sich in Tran­sit- und Her­kunfts­staa­ten für Men­schen­rech­te und Migrant*innen enga­gie­ren, unter­stützt wer­den. Ihre Rol­le des kri­ti­schen Moni­to­rings der Aus­wir­kun­gen euro­päi­scher Migra­ti­ons­po­li­tik gilt es zu stärken.

Ent­wick­lungs­hil­fe darf nicht als Zah­lungs­mit­tel für Hilfs­diens­te eines aus­ge­la­ger­ten Grenz­schut­zes miss­braucht und an Bedin­gun­gen geknüpft wer­den, die mit nach­hal­ti­gen Ent­wick­lungs­zie­len nicht ver­ein­bar sind. Statt Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft bei der Migra­ti­ons­kon­trol­le zu erzwin­gen, sind ent­wick­lungs­for­dern­de Aspek­te der Migra­ti­on zu unterstützen.

Gleich­zei­tig sind die Wirtschafts‑, Finanz und Han­dels­po­li­tik so zu gestal­ten, dass sie den Schutz der öko­lo­gi­schen und öko­no­mi­schen Lebens­grund­la­gen respek­tie­ren und nicht zu ihrer wei­te­ren Zer­stö­rung bei­tra­gen. Umwelt­schäd­li­che Agrar- und Fische­rei­sub­ven­tio­nen zum Vor­teil der Euro­päi­schen Uni­on müs­sen abge­baut werden.

Die Wech­sel­wir­kun­gen von ent­wick­lungs­po­li­ti­schen Maß­nah­men und Migra­ti­ons­po­li­tik müs­sen bes­ser ver­stan­den wer­den. Es braucht einen grund­le­gen­den Per­spek­tiv- und Poli­tik­wech­sel, eine Hin­wen­dung zu mensch­li­cher Ent­wick­lung durch Migra­ti­on und Abkehr von Mili­ta­ri­sie­rung und Ver­si­cher­heit­li­chung. Not­wen­dig ist eine men­schen­rechts­ba­sier­te Flücht­lings- und Migrationspolitik.

Inves­ti­tio­nen müs­sen einem nach­hal­ti­gen, rech­te-basier­ten Ent­wick­lungs­ver­ständ­nis die­nen. Auch die Agrar- Handels‑, Kli­ma- und Außen­po­li­ti­ken vor allem im glo­ba­len Nor­den sind neu aus­zu­rich­ten. Denn die EU und die Bun­des­re­gie­rung müs­sen sich ein­ge­ste­hen, dass die Umset­zung der wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Men­schen­rech­te nicht allein an den natio­na­len Rah­men­be­din­gun­gen, son­dern auch an den glo­ba­len Macht­ver­hält­nis­sen und Wirt­schafts­struk­tu­ren scheitert.

Kon­zep­te dür­fen nicht ohne Betei­li­gung der­je­ni­gen ent­ste­hen, an die sie gerich­tet sind. Sonst sind sie Aus­druck eines nach wie vor pater­na­lis­ti­schen Ent­wick­lungs­ver­ständ­nis­ses, das einem respekt­vol­len Part­ner­schafts­ver­ständ­nis entgegensteht.

Die Tat­sa­che, dass Gel­der der Ent­wick­lungs­hil­fe der Absi­che­rung von Risi­ken euro­päi­scher Fir­men die­nen sol­len, kommt einer Zweck­ent­frem­dung gleich. Statt neue Märk­te für Akteu­re auf der Suche nach Kapi­tal­an­la­gen zu erschlie­ßen, muss es um die Über­win­dung struk­tu­rel­ler Ungleich­heit und Armut gehen.

Externalisierung und Flüchtlingsbekämpfung

Die Bemü­hun­gen auf EU-Ebe­ne – mit tat­kräf­ti­ger Unter­stüt­zung der deut­schen Bun­des­re­gie­rung – die Flucht­be­we­gun­gen wie­der »unter Kon­trol­le« zu brin­gen, set­zen auf Abschie­bun­gen, Asyl­rechts­ver­schär­fun­gen, die Auf­rüs­tung der Außen­gren­zen und nicht zuletzt auf eine neue Dimen­si­on der Aus­la­ge­rung von Migra­ti­ons- und Grenz­kon­trol­len in Tran­sit- und Her­kunfts­län­dern (»Exter­na­li­sie­rung«).

Angeb­lich zur »Flucht­ur­sa­chen­be­kämp­fung« for­cie­ren die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen in Brüs­sel und Ber­lin neue  Part­ner­schaf­ten – auch mit des­po­ti­schen Regimes. Mit der Absichts­er­klä­rung, die Situa­ti­on in den Her­kunfts­län­dern zu ver­bes­sern, ver­lei­hen sie die­sen Part­ner­schaf­ten einen ent­wick­lungs­ori­en­tier­ten Anstrich und zumin­dest rhe­to­risch Legi­ti­mi­tät. Nicht nur das Recht, Asyl zu suchen, son­dern auch das Recht auf Aus­rei­se aus dem eige­nen Staat wird dabei immer wei­ter beschnitten.

Das Ziel jeder die­ser Maß­nah­men ist es, Schutz­su­chen­de an der (Weiter-)Flucht nach Euro­pa zu hindern.

Sie nennen es »Fluchtursachenbekämpfung«

Als Flucht­ur­sa­chen­be­kämp­fung wer­den von der EU unter­schied­lichs­te Maß­nah­men dekla­riert: Sie umfas­sen grenz­po­li­zei­li­che Koope­ra­tio­nen, ent­wick­lungs­po­li­ti­sche Pro­jek­te, pri­vat­wirt­schaft­li­che Inves­ti­ti­ons­in­itia­ti­ven, Maß­nah­men zur »Reinte­gra­ti­on« von Abge­scho­be­nen sowie die Schaf­fung alter­na­ti­ver Ein­kom­mens­mög­lich­kei­ten für poten­ti­el­le »Schleu­ser«.

Das Ziel jeder die­ser Maß­nah­men ist es, Schutz­su­chen­de an der (Weiter-)Flucht nach Euro­pa zu hin­dern. Was pro­pa­gier­te Ansät­ze zur Bekämp­fung von Flucht­ur­sa­chen jedoch weit­ge­hend aus­blen­den: Die zen­tra­len Flucht­ur­sa­chen sind Krieg und Ver­fol­gung. Davor flie­hen welt­weit laut dem Flücht­lings­hilfs­werk der Ver­ein­ten Natio­nen (UNHCR) über 65 Mil­lio­nen Menschen.

Europa in den Blick nehmen!

Die Bun­des­re­gie­rung und die Euro­päi­sche Uni­on ver­or­ten die Ursa­chen der Flucht in den Her­kunfts­län­dern. Dabei sind die chro­ni­schen und aku­ten Not­la­gen, die Men­schen zur Flucht zwin­gen, sel­ten allein in loka­len Umstan­den begrün­det. Krie­ge wer­den zer­stö­re­ri­scher und bru­ta­ler, wenn sie zu Stell­ver­tre­ter­krie­gen wer­den, in denen die EU- bzw. Nato-Staa­ten und ande­re mäch­ti­ge Akteu­re ihre eige­nen Inter­es­sen verfolgen.

Die von euro­päi­scher Poli­tik mit­ver­ur­sach­ten Rah­men­be­din­gun­gen zwin­gen Men­schen zum Gehen und kon­ter­ka­rie­ren damit selbst die bes­ten Ent­wick­lungs­kon­zep­te. Nicht zuletzt ist es die kli­ma­schäd­li­che und auf Res­sour­cen­aus­beu­tung basie­ren­de Kon­sum- und Pro­duk­ti­ons­wei­se des glo­ba­len Nor­dens, die Lebens­grund­la­gen im glo­ba­len Süden zerstört.