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Schutzsuchende aus Gaza müssen als Flüchtlinge anerkannt werden!

Die israelische Regierung führt ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in Gaza Krieg gegen die Hamas. Das UN-Hilfswerk ist längst nicht mehr in der Lage, Palästinenser*innen Hilfe und Schutz zu gewähren. Geflüchteten aus Gaza mit UNRWA-Registrierung ist stets die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, allen anderen mindestens subsidiärer Schutz.
Seit dem brutalen Überfall der Terrororganisation Hamas auf israelische Zivilist*innen mit rund 1.200 Toten tobt in Gaza ein blutiger Krieg, in dem bislang etwa 60.000 Menschen getötet wurden – vor allem Zivilist*innen. Obwohl seit Ausbruch des Krieges fast niemand mehr den Gazastreifen verlassen kann, befinden sich Palästinenser*innen mit ehemals Wohnsitz in Gaza auch in Deutschland – zum Beispiel solche, die sich vor Ausbruch des Krieges bereits außerhalb Gazas befanden. Weil eine Rückkehr für sie lebensgefährlich und praktisch derzeit auch nicht möglich wäre, suchen einige von ihnen hier Schutz. Laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion die Linken vom 21. März 2025 haben seit Beginn 2024 bis einschließlich Februar 2025 über 700 Palästinenser*innen aus Gaza und aus den palästinensischen Gebieten Asylanträge gestellt. Zwischenzeitlich dürften weitere Anträge hinzugekommen sein.
Unzulässige Aussetzung der Bearbeitung der Asylanträge durch das BAMF
Statt die Asylanträge von Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen schnellstmöglich zu bearbeiten, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) diese seit dem 09. Januar 2024 auf Eis gelegt. Es berief sich dabei auf § 24 Abs. 5 Asylgesetz (AsylG), wonach Entscheidungen aufgeschoben werden können, wenn eine – so wörtlich – »vorübergehend ungewisse Lage« besteht. Manche warten schon seit über anderthalb Jahren auf ihre Anhörung und die Durchführung ihrer Asylverfahren.
Erst am 18. Juli 2025 gab das BAMF bekannt, dass es die Asylverfahren der Schutzsuchenden aus Gaza wieder aufnimmt. Es habe die Lage im Gazastreifen kontinuierlich beobachtet und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass dort »nicht mehr von einer nur vorübergehend ungewissen Lage auszugehen ist«. Grund seien die Dauer und Ausweitung der Kampfhandlungen auf das gesamte Gebiet des Gazastreifens sowie das Scheitern mehrerer Vereinbarungen zu einer Waffenruhe (BT-Drucksache 21/918, S.10).
Erst am 18. Juli 2025 gab das BAMF bekannt, dass es die Asylverfahren der Schutzsuchenden aus Gaza wieder aufnimmt.
PRO ASYL hatte die Aussetzung der Asylverfahren bereits im April 2024 stark kritisiert. Die Lage in Gaza stellte sich bereits zum damaligen Zeitpunkt keineswegs als so »vorübergehend ungewiss« dar, wie das BAMF Glauben machen wollte. So waren dem Krieg bereits damals 30.000 Menschen zum Opfer gefallen. Seither tobt der Krieg mit nur wenigen Tagen Waffenruhe unvermindert weiter und hat an Heftigkeit und Brutalität fortwährend zugenommen. Die ausgesetzten Asylanträge hätten in dieser Situation ergo zu jeder Zeit positiv beschieden werden können. Die Berufung auf § 24 Abs. 5 AsylG war nach Einschätzung von PRO ASYL unzulässig.
Auch die Gerichte sahen das oft ähnlich. Bei 238 eingereichten Untätigkeitsklagen im Zeitraum 7. Oktober 2023 bis 30. April 2025 verurteilten sie das BAMF in 187 Verfahren wegen Untätigkeit und verpflichteten es, über die Asylanträge zu entscheiden. In drei Verfahren erkannten sie den Kläger*innen selbst subsidiäre Schutz zu, in 48 Verfahren kam es zu sonstigen Einstellungen. (BT-Drucksache 21/918, S.10)
In einer Entscheidung vom 13. März 2024 hat das Verwaltungsgericht Hannover zudem darauf hingewiesen, dass im Falle sich über Monate hinweg intensivierender Kämpfe (hier bezüglich Sudan) nicht von einer »ungewissen Lage« im Sinne des § 24 Absatz 5 AsylG gesprochen werden kann. In der Entscheidung wird in aller Deutlichkeit hervorgehoben: »Die Möglichkeit der Aussetzung der Entscheidung wegen vorübergehend ungewisser Lage im Herkunftsstaat dient nicht dazu, die Realisierung absehbar bestehender Anerkennungsansprüche zu verhindern«.
Gewährung subsidiären Schutzes seitens der Verwaltungsgerichtsbarkeit
Dass dies auch im Falle von Gaza gilt, zeigen die von Verwaltungsgerichten – soweit ersichtlich – durchweg positiv entschiedenen Klagen von Betroffenen seit Beginn des Krieges. So wies etwa das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt bereits am 20. November 2023 in einem Beschluss – und damit zeitlich noch relativ nahe am Beginn des Krieges – eine Berufung des BAMF gegen die Zuerkennung subsidiären Schutzes für einen aus Gaza stammenden Palästinenser zurück. Dass BAMF hatte dabei folgende Fragen im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als klärungsbedürftig erachtet:
- Besteht zwischen den im Gaza-Streifen agierenden gewaltbereiten Gruppen und den israelischen Streitkräften ein bewaffneter Konflikt, in dem jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt ist? (Definition eines bewaffneten Konfliktes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG)
- Bestehen innerhalb des Gaza-Streifens interne Schutzmöglichkeiten im Sinne des § 3e AsylG?
Das Oberverwaltungsgericht bejahte die erste Frage schon zum damaligen Entscheidungszeitpunkt eindeutig und verneinte die zweite ebenso klar.
Auch das Verwaltungsgericht Sigmaringen wies im März 2024 in einer Entscheidung das BAMF an, einem palästinischen Geflüchteten subsidiären Schutz zuzusprechen.
»[…] Hieran gemessen hat der Kläger Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (und derzeit und auf unabsehbare Zeit wohl überdies auch nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). […]
Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023 hat der israelische Ministerpräsident den Kriegszustand erklärt. Seither ist der Gaza-Streifen Ziel einer breit angelegten israelischen Militäroperation mit Bombardements aus der Luft, vom Boden und von der See, die mit unzähligen zivilen Opfern, massiver Zerstörung der zivilen Infrastruktur und einer Binnenvertreibung von ca. 85 % der Bevölkerung des Gaza-Streifens einhergeht. Zivilisten können im Gaza-Streifen nicht in Sicherheit leben. Allein seit dem 07.10.2023 sind – wenn auch auf der Grundlage von seitens des Hamas-Gesundheitsministeriums zur Verfügung gestellten Daten – mehr als 30.000 Todesopfer und mehr als 70.000 Verletze unter den überwiegend zivilen palästinensischen Opfern des Krieges gezählt worden […]. In einem Zeitraum von ca. fünf Monaten sind damit ca. 4,5 % der Bevölkerung von Gaza (ca. 2,2 Mio. Einwohner) getötet oder verletzt worden, mehrheitlich dabei Zivilisten. Und auch die Binnenvertreibung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung macht die Betroffenen zu zivilen Konfliktopfern.
Auch die humanitäre Situation ist derzeit und auf unabsehbare Zeit unbeschreiblich katastrophal. Im Gaza-Streifen sind konfliktbedingt aktuell mehr als 70.000 Wohneinheiten zerstört und mehr als 290.000 beschädigt. Die Bevölkerung ist komplett von – derzeit völlig unzureichenden – Hilfslieferungen abhängig […].« (Auszug aus der Entscheidung vom 7. März 2024)
Dass es in diesen Entscheidungen um subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ging, wonach ein solcher zu gewähren ist, wenn »eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts« besteht, erscheint zunächst naheliegend:
Das Bundesverwaltungsgericht ist in seiner hierzu bislang ergangenen Rechtsprechung von einem »body-count«-Ansatz ausgegangen. Demnach setzt eine »ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit« voraus, dass es eine Mindestschwelle von zivilen Opfern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung geben muss. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar den Mindestwert nie exakt beziffert, aber in einem Urteil zum Herkunftsland Irak einmal ausgeführt: Die Wahrscheinlichkeit von 1 zu 800 pro Jahr (circa 0,12 Prozent), verletzt oder getötet zu werden, liegt jedenfalls weit unter der erforderlichen Mindestgrenze. Aber zugleich hat es festgestellt, dass der subsidiäre Schutz zweifelsfrei bei einer außergewöhnlichen Situation zu gewähren sei, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
ür jede in Gaza lebende Person besteht rund um die Uhr eine hohe Wahrscheinlichkeit, früher oder später Opfer der Angriffe aus der Luft oder am Boden zu werden.
Die Situation in Gaza ist ein trauriges Paradebeispiel für eine solche Situation. Für jede in Gaza lebende Person besteht rund um die Uhr eine hohe Wahrscheinlichkeit, früher oder später Opfer der Angriffe aus der Luft oder am Boden zu werden. Ein sogenannter interner Schutz – also ein Teil des Herkunftslandes, in dem keine begründete Furcht vor einem ernsthaften Schaden besteht und der gemäß § 4 Abs. 4 in Verbindung mit § 3e AsylG zum Ausschluss subsidiären Schutzes führt – ist in Gaza seit Beginn des Konflikts an keinem Ort auszumachen. Diejenigen Gebiete, auf die die israelische Armee die Zivilbevölkerung verweist, um von Kampfhandlungen verschont zu bleiben, werden immer weniger und kleiner. Laut UNHCR bleiben ihr nur noch weniger als 14 Prozent der Gesamtfläche des Gazastreifens. Und selbst dort finden – obwohl seitens der israelischen Armee als »humanitäre Zonen« ausgewiesen – immer wieder Kampfhandlungen statt.
Die Zuerkennung subsidiären Schutzes scheint nach alledem auf der Hand zu liegen. Doch: Bei einer Prüfung von Asylanträgen ist stets vorrangig zu prüfen, ob nicht die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden müsste.
Ipso-facto-Flüchtlingseigenschaft für Schutzsuchende aus Gaza
Auf den ersten Blick mag es unwahrscheinlich erscheinen, dass Menschen aus Gaza die Flüchtlingseigenschaft erhalten können. Denn der auf Artikel 1 D der Genfer Flüchtlingskonvention zurückzuführende Paragraph 3 Abs. 3 AsylG besagt: Wer »den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge […] genießt«, kann nicht Flüchtling sein. Die Idee dahinter ist, dass vermieden werden sollte, dass sich eine unter dem Schutz einer Organisation der Vereinten Nationen stehende Personen ohne Not aus dem Mandatsgebiet der Organisation begibt, um anderweitig Schutz zu suchen. Eben einen solchen Schutz soll die große Mehrzahl der Zivilbevölkerung des Gazastreifens durch das UN-Hilfswerk UNWRA erhalten.
Während der Entstehung des Staates Israel und des Palästinakrieges (1947–1949) wurden arabischer Palästinenser*innen aus ihren angestammten Gebieten vertrieben – was als »Nakba« bezeichnet wird. Daraufhin gründete 1949 die UN-Generalversammlung das Hilfswerk UNWRA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) mit dem Mandat, palästinensischen Flüchtlingen in Jordanien, Libanon, Syrien, im Westjordanland und eben auch im Gazastreifen Hilfe zu leisten und die menschliche Entwicklung zu fördern.
Anders ist die Situation, wenn UNRWA seinen Auftrag nicht mehr erfüllen kann. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Jahr 2024 entschieden : Wenn es UNRWA aufgrund der in seinem Operationsgebiet herrschenden allgemeinen Lage nicht möglich ist, menschenwürdige Lebensbedingungen und ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten ist der Schutz durch die Organisation als nicht weiter gewährt anzusehen. In diesem Fall sind Betroffene als ipso-facto-Flüchtlinge anzuerkennen. Ipso facto bedeutet »von Rechts wegen« und meint in diesem Zusammenhang, dass es nicht auf das Vorbringen einer individuell begründeten Furcht vor Verfolgung ankommt. Vielmehr steht bereits durch die vorherige UNRWA-Registrierung verbindlich fest, dass Betroffene schutzbedürftige Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind. Das BAMF hat sich in seiner Prüfung daher darauf zu beschränken, eben diese Registrierung, den Wegfall des UNRWA-Schutzes sowie das Nichtvorliegen von Ausschlussgründen festzustellen.
Entsprechend stellt sich die Situation für die meisten Menschen aus Gaza dar: Dort hatten etwa 1,7Millionen der insgesamt 2,4 Millionen Einwohner*innen den UNRWA-Status inne. Doch UNRWA ist in Gaza längst nicht mehr in der Lage, ihnen Schutz zu gewähren. Mithin ist Geflüchteten aus Gaza, die bei UNRWA registriert sind, ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Status der übrigen Geflohenen?
Was aber ist mit denjenigen, die vor der Flucht aus Gaza keinen UNRWA-Status innehatten? Nach den obigen Ausführungen liegt die Gewährung subsidiären Schutzes nahe. Möglicherweise muss das BAMF aber sogar prüfen, ob dieser Personengruppe nicht individueller Flüchtlingsschutz zuteilwerden muss:
Die kriegerischen Handlungen der israelischen Verteidigungsstreitkräfte Israel Defense Forces (IDF) in Form der Zerstörung von Infrastruktur und Wohnhäusern, fortwährender Vertreibung von Ort zu Ort und die Blockade von Hilfslieferungen kann als Verfolgungshandlung angesehen werden. Da diese in Gaza jeden zu jeder Zeit treffen kann, ist auch eine begründete Furcht vor Verfolgung zu konstatieren. Die Frage ist aber, ob die kriegerischen Handlungen gegenüber der Zivilbevölkerung auch an ein Merkmal aus der Genfer Flüchtlingskonvention anknüpfen.
Als Anknüpfungspunkt könnte die Nationalität der Zivilbevölkerung als Palästinenser*innen angesehen werden. Das ist unabhängig davon möglich, ob man Palästina als Staat anerkennt oder nicht. Denn im Bereich des Asylrechts gilt eine weite Definition von »Nationalität«. Eine Staatsangehörigkeit ist für diese nicht erforderlich, vielmehr kann auch auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die sich durch gemeinsame Merkmale wie Kultur, Ethnie, Sprache, Herkunft oder Verwandtschaft auszeichnet abgestellt werden. Tatsächlich hat der französische Asylgerichtshof in einem Urteil vom 11. Juli 2025 entsprechend entschieden und einer aus Gaza geflohenen Person ohne UNRWA-Registrierung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Soweit ersichtlich, ist dies das bislang einzige Urteil in Europa, mit dem dies geschehen ist. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Rechtsprechung durchsetzt.
Klar hingegen ist: Geflohenen Menschen, die bei UNRWA registriert sind, müssen von Rechts wegen als Flüchtlinge anerkannt werden. Für alle übrigen gilt: Folgt man der Argumentation des französischen Asylgerichtshofs, findet in Gaza eine Verfolgung sämtlicher Palästinenser*innen anknüpfend an deren Nationalität statt. In diesem Fall wäre allen Personen ohne UNRWA-Registrierung ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Hier wäre nur der Prüfungsvorgang ein anderer. Will man sich dieser bislang alleinstehenden Auffassung nicht anschließen, muss diesem Personenkreis subsidiärer Schutz gewährt werden.