13.08.2025
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Foto: privat

»Ich bin gut durchgetaktet«, sagt Ali Nazari, als er zu unserem Gespräch erscheint. Er hat viel zu tun, aber bei der Interviewreihe von PRO ASYL mitzumachen, ist ihm wichtig. »Wir Flüchtlinge werden alle in einen Topf geworfen. Die Leute sollen sehen, dass es viele gibt, die versuchen, sich in Deutschland etwas aufzubauen«, erklärt der 22-Jährige.

Zehn Jah­re ist es her, seit Sie nach Deutsch­land gekom­men sind. Was war Ihr ers­ter Eindruck?

Es war alles fremd – so ganz anders als in mei­nem Hei­mat­land. Dort kann­te ich den Weg von der Schu­le nach Hau­se, mehr nicht. In Afgha­ni­stan macht man kei­nen Urlaub oder geht an den See. Und dann war ich plötz­lich in Deutsch­land. Ich war 13, als ich mit einem Onkel und einer Tan­te ankam. Wir sind zunächst in ein Camp nach Bay­ern gekom­men und ich fand es wun­der­schön dort. Vie­le ande­re Flücht­lin­ge woll­ten wei­ter nach Schwe­den, aber ich nicht. Irgend­et­was in mir hat gesagt: „Bleib hier!“ Und das war genau die rich­ti­ge Entscheidung.

Was war für Sie nach Ihrer Ankunft beson­ders schwer auszuhalten?

Dass ich kein Wort Deutsch konn­te. Ich kam in eine Ein­rich­tung für Min­der­jäh­ri­ge und nach einem Jahr Vor­be­rei­tungs­klas­se habe ich auf die Real­schu­le gewech­selt. Ich habe ver­sucht, so schnell wie mög­lich die Spra­che zu ler­nen, aber die Jungs dort haben Wit­ze über mei­ne Aus­spra­che gemacht, das tat weh. Aber ich habe mich durch­ge­kämpft und mir gesagt: Ich ler­ne Tag und Nacht, wenn es sein muss. Ich will es schaf­fen. Und ich habe es geschafft. Ohne Schmerz kein Erfolg.

„Ich hat­te Gott sei Dank das Glück, dass ich in Deutsch­land immer Leu­te getrof­fen habe, die mich moti­viert haben und mir gesagt haben: »Du schaffst das.«“

Ich will, dass mei­ne Fami­lie stolz ist auf mich. Ich will ein Vor­bild sein für mei­ne Geschwis­ter und für ande­re. Das hat mich moti­viert, auch wenn ich Näch­te hat­te, in denen es schwie­rig war, in denen ich mein Zuhau­se ver­misst habe: Mei­ne Mama. Die Gesprä­che mit mei­nen Geschwis­tern in unse­rem Hof. Die Spie­le. Das Essen mei­ner Mutter…

Wel­ches Gefühl hat Sie wäh­rend der ers­ten Mona­te in Deutsch­land begleitet?

Grund­sätz­lich habe ich eine posi­ti­ve Denk­wei­se, die mich stau­nen und mit den Leu­ten gut aus­kom­men ließ. Aber es gab auch schwie­ri­ge Momen­te: Als ich von Mün­chen nach Baden-Würt­tem­berg kam, wur­de ich in einem win­zi­gen Ort im Kreis Calw unter­ge­bracht. Dort gab es ein paar Häu­ser, ein Frei­bad und einen Fuß­ball­platz – mehr nicht. Das war mir unheim­lich. Und in der Jugend­ein­rich­tung, in der ich war, hat­te ich Pro­ble­me mit den Regeln. Als Tee­nie will man halt auch mal nach 20 Uhr raus­ge­hen, so etwas… Aber ich hat­te Gott sei Dank das Glück, dass ich in Deutsch­land immer Leu­te getrof­fen habe, die mich moti­viert haben und mir gesagt haben: »Du schaffst das.« Die­sen Men­schen, die mir gehol­fen haben, bin ich unglaub­lich dankbar.

Wer hat Ihnen beson­ders gehol­fen, in Deutsch­land Fuß zu fassen?

Das war vor allem ein Betreu­er in der Jugend­ein­rich­tung, der immer an mich geglaubt hat, Edu­ar­do. So einen Betreu­er fin­det man kein zwei­tes Mal. Er war wie ein Vater für mich. Ich besu­che ihn auch heu­te noch regel­mä­ßig. Ich bin aber auch all den ande­ren Betreu­ern in der Jugend­ein­rich­tung sehr dank­bar. Sie haben mir alles bei­gebracht: Waschen, Kochen, Put­zen, aber auch Dis­zi­plin, Ver­trau­en, An-sich-selbst-glau­ben. Sie haben mich wirk­lich auf das Leben vor­be­rei­tet, aber erst im Nach­hin­ein habe ich erkannt, wie wich­tig das war. Ich bin dann noch­mal hin­ge­gan­gen und habe mich bei ihnen bedankt. Es ist nicht selbst­ver­ständ­lich, dass sie uns Jungs ohne Gegen­leis­tung so gehol­fen haben.

Wann haben Sie sich hier rich­tig ange­kom­men gefühlt? 

Als ich mei­ne Aus­bil­dung als Bau­zeich­ner in Stutt­gart begon­nen habe. Das war im Janu­ar 2020. Mitt­ler­wei­le arbei­te ich als Werk­pla­ner in einem Archi­tek­tur­bü­ro in Karls­ru­he. Ich hat­te mir ein Ziel gesetzt: Ich woll­te Archi­tekt wer­den. Mit die­sem Ziel bin ich nach Deutsch­land gekom­men. Schon in Afgha­ni­stan woll­te ich Häu­ser bau­en, an etwas Grö­ße­rem mit­wir­ken, bewei­sen, dass ich zu etwas fähig bin. Aber dort hat­te ich kei­ne Chan­ce. Das habe ich an mei­nem Vater gese­hen: Er hat hart geschuf­tet, damit wir Kin­der uns Schul­hef­te kau­fen konn­ten, aber kaum etwas ver­dient. Mit 18 muss­te er hei­ra­ten, hat­te selbst kei­ne Jugend. Ich woll­te ein ande­res Leben.

„Ich darf alles selbst machen, rich­tig Ver­ant­wor­tung über­neh­men, meh­re­re Pro­jek­te eigen­stän­dig betreu­en. Das ist eine tol­le Her­aus­for­de­rung für mich – ich bin ja erst 22.“

Leben Sie nun das Leben, das Sie sich gewünscht haben? 

Ja – zumin­dest bin ich auf gutem Weg dort­hin. Als Werk­pla­ner bei mei­ner jet­zi­gen Fir­ma darf ich alle Plä­ne für Rei­hen- und Mehr­fa­mi­li­en­häu­ser zeich­nen und prü­fen, von A bis Z, von den Elek­tro­lei­tun­gen bis zur Innen­ar­chi­tek­tur. Ich bin seit Febru­ar 2025 dort und es ist das Bes­te, was mir pas­sie­ren konn­te. Ich darf alles selbst machen, rich­tig Ver­ant­wor­tung über­neh­men, meh­re­re Pro­jek­te eigen­stän­dig betreu­en. Das ist eine tol­le Her­aus­for­de­rung für mich – ich bin ja erst 22.

Aber der Schritt, dort­hin zu wech­seln, war gar nicht so ein­fach für mich. Ich habe geweint, als ich mei­ne vor­he­ri­ge Fir­ma, bei der ich auch mei­ne Aus­bil­dung in Hoch- und Tief­bau absol­viert habe, ver­las­sen habe – mei­ne Kol­le­gen auch. Ich hat­te dort einen groß­ar­ti­gen Aus­bil­der. Aber ich woll­te etwas Neu­es aus­pro­bie­ren und mei­ne Kom­fort­zo­ne verlassen.

Enga­gie­ren Sie sich neben Ihrem erfül­len­den Beruf auch ehrenamtlich?

Ja, in mei­ner Orts­ge­mein­de unter­stüt­ze ich geflüch­te­te Jugend­li­che und Fami­li­en. Ich über­set­ze Behör­den­post für sie, beglei­te bei Arzt­be­su­chen, unter­stüt­ze, wo ich kann. Wir ver­su­chen den Leu­ten die Angst zu neh­men und an ihrem Poten­zi­al zu arbei­ten. Ich will eine hel­fen­de Hand sein, ich will für ande­re Men­schen da sein – für jene, die ver­ges­sen oder über­se­hen wer­den oder die kei­ne Chan­ce bekommen.

Ging es für Sie ste­tig berg­auf in den ver­gan­ge­nen Jah­ren oder gab es auch einen Rückschlag?

Es gab im Pri­va­ten einen Rück­schlag: Am 16. Dezem­ber 2022 habe ich erfah­ren, dass mein Vater nicht mehr bei uns ist. Da ist für mich eine Welt zusam­men­ge­bro­chen. Ich konn­te immer so gut mit ihm reden, stun­den­lang. Neben dem Schock kam noch die Büro­kra­tie mit den deut­schen Behör­den hin­zu. Sie haben mir vie­le Stei­ne in den Weg gelegt, dass ich über­haupt aus­rei­sen und mich von ihm ver­ab­schie­den konn­te und danach wie­der in Deutsch­land ein­rei­sen durf­te. Mei­ne Eltern waren in die Tür­kei geflüch­tet, wo mein Vater kurz vor sei­nem Tod im Koma lag. Mei­ne Mut­ter lebt noch dort. Der Tod mei­nes Vaters war ein Moment, der mich ein Stück weit gebro­chen hat.

Aber Sie haben nicht aufgegeben…

Ich habe wei­ter­ge­macht. Ein paar Mona­te nach sei­nem Tod habe ich mei­ne Abschluss­prü­fun­gen bestan­den. Zwi­schen dem Ler­nen hat­te ich immer Tele­fo­na­te mit mei­ner wei­nen­den Mut­ter und mit den Geschwis­tern, denen ich Mut machen muss­te. Ich bin jetzt ein Stück weit in der Vater­rol­le. Mein Vater fehlt mir sehr. Ich hät­te ihm so ger­ne den Ver­trag gezeigt, den ich die­ses Jahr als Bau­zeich­ner bekom­men habe in einem renom­mier­ten Archi­tek­ten­bü­ro. Und die Visi­ten­kar­ten mit mei­nem Namen drauf.

Wovon träu­men Sie?

Ich träu­me davon, dass jeder die Mög­lich­keit bekommt, das zu tun, was er ger­ne machen möch­te. Und dass wir Migran­ten als Men­schen gese­hen wer­den, die eine fried­li­che Gesell­schaft wol­len. Ich wün­sche mir, dass wir in Har­mo­nie hier leben, dass es kei­nen Ras­sis­mus gibt und alle Men­schen in die­sem Land für Frei­heit, Frie­den und Gemein­schaft eintreten.

(er)