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Eine Welt, in der niemand einen Fälscher braucht

Flucht ist kein Verbrechen. Das würden wohl fast alle unterschreiben, auch wenn sie vom Menschenrecht, Asyl in anderen Staaten zu suchen und zu genießen, noch nichts gehört haben. Warum aber gilt die Fluchthilfe als ein Verbrechen?
Millionen von Menschen retteten sich, indem sie sich ihren Verfolgern entzogen. Flucht vor religiöser Verfolgung und ethnischen Vertreibungsprozessen, Flucht vor den Nazis, vor stalinistischen »Säuberungen«, vor Kriegen und Bürgerkriegen – seit Jahrhunderten, bis heute. Flucht ist also kein Verbrechen. Warum aber dann die vielen jagdeifrigen Polizeiberichte darüber, dass man wieder Schleusern das Handwerk gelegt habe? Warum alle Jahre wieder das mediale Klischee von organisierter Schlepperkriminalität?
Während der Zeit des Naziregimes und während des Zweiten Weltkrieges mussten viele Flüchtlinge die Dienste von Fluchthelfern in Anspruch nehmen. Nach dem Versagen der internationalen Staatengemeinschaft 1938 bei der Flüchtlingskonferenz von Evian, wo die Staaten fast ausnahmslos keine Bereitschaft zeigten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, wuchs der Druck.
Wer in den Zufluchtsländern oder in Botschaften Flüchtlingen mit Visa gegen die Vorschriften aushalf, wurde in vielen Fällen kalt- oder vor Gericht gestellt. Die in der Schweiz verurteilten Fluchthelfer zum Beispiel hat man spät – im Jahr 2003 – rehabilitiert. Varian Fry, einer der mutigsten und effizientesten Fluchthelfer, der Flüchtlingen im besetzten Frankreich mit dem American Rescue Commitee weiterhalf, wurde zu Lebzeiten nicht geehrt. Auch er kaufte zur Rettung der Verfolgten des Nationalsozialismus gefälschte Dokumente bei der Unterwelt von Marseille.
Die Rettung von Menschen vor Verfolgung ist höchst selten völlig kostenfrei. Seitdem Nationalstaaten Grenzen effektiv überwachen, können Menschen kaum noch ohne die Inanspruchnahme gut organisierter Fluchthelfer und professionell gefälschter Dokumente fliehen. Die Grenzen zwischen kommerzieller Fluchthilfe und altruistischem Tun sind dabei fließend. In den Anfangsjahren der Fluchthilfe aus der DDR nach Westdeutschland handelten viele der Fluchthelfer aus ideellen Gründen oder wollten Angehörigen helfen. Mit der Grenzaufrüstung der DDR und der immer lückenloseren Bespitzelung musste auch die Fluchthilfe professioneller werden. Damit einher ging durch die immer aufwendigere Fluchtorganisation die Kommerzialisierung der Fluchthilfe.
Fluchthilfe oder Schleppertum – eine Frage politischer Opportunität
Keineswegs ist die Fluchthilfe immer strafbar gewesen. Ihre rechtliche Beurteilung hing immer stark vom politischen Kontext ab. Je nach politischer Opportunität wurde sie als geradezu gebotene Hilfe in der Not und die Verwirklichung von Freiheitsrechten angesehen – oder als illegales Unterlaufen staatlicher Souveränität. Fluchthilfe aus der DDR galt im Westen als ehrenwerte Handlung und zwar auch dann, wenn dafür bezahlt wurde. Die Anzeige von Fluchthilfe bei Dienststellen der DDR war dagegen strafbar. Der Verfassungsschutz hatte Anteil an der verdeckten Unterstützung von Fluchthilfeaktivitäten.
Interessanterweise hat auch eine der übelsten Formen von Fluchthilfe nicht zu strafrechtlichen Reaktionen geführt. Die Ausschleusung von Nazi-Kriegsverbrechern nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Richtung Südamerika wurde lange Zeit kaum skandalisiert, bis nach dem Eichmann-Prozess und den Auschwitz-Prozessen in der Bundesrepublik das Ausmaß immer mehr deutlich wurde, in dem hochrangige Verbrecher durch ebenso hochrangige Unterstützer begünstigt worden waren.
Gute Sitte im Kalten Krieg
Während des Kalten Krieges waren es nicht nur die Medien im Westen, die die Fluchthelfer und ihre einfallsreichen Taten hoch leben ließen. Auch auf die Rechtsprechung konnte man sich in der Regel verlassen. 1980 wollte ein Fluchthelfer nach einem misslungenen Versuch, einen DDR-Bürger über die innerdeutsche Grenze zu bringen, den vereinbarten Vorschuss von einem westdeutschen Auftraggeber sehen. In der Revisionsinstanz kam der Bundesgerichtshof zu dem Schluss, dass ein solcher Vertrag nicht allgemein gegen die guten Sitten verstoße – um dessen Strafbarkeit ging es erst gar nicht (BGH-Urteil v. 21.2.1980, zitiert nach NJW 1980, Heft 29, S.1574 ff).
Der BGH äußerte sich auch zum kommerziellen Charakter solcher Fluchthilfe mit dem Tenor, es sei nicht in jedem Fall anstößig, eine Hilfeleistung, selbst für einen Menschen in einer Notlage, von einer Vergütung abhängig zu machen. Auch die Fluchthilfe als Hilfe zur Ausübung eines Grundrechts könne an ein Entgelt geknüpft sein.
Die Handlung beruhe »durchaus auf billigenswerten, ja edlen Motiven«. Nachdem so Fluchthilfe für den BGH nicht als verwerflich anzusehen war, durfte sich das Gericht auch mit dem in einer freien Wirtschaft angemessenen Preis beschäftigen. Man würde gerne jedem Richter, der heute über Zahlungen an Schleuser urteilt, als handele es sich um verdammenswerte Ausbeutung, die Überlegungen des BGH nahelegen. Fluchthilfevergütungen von damals 15.000 Mark je geschleuster Person seien im Hinblick auf hohe Kosten des Fluchthelfers nicht überhöht. Vom Anbieter würden ja Kenntnisse, Erfahrungen und Verbindungen erwartet, die für einen heimlichen Grenzübertritt benötigt würden.
Der BGH setzt voraus, dass es für den Flüchtling einen Zwang gibt, der Fluchthilfeorganisation blindes Vertrauen zu schenken und sich in die von ihr gestellten Bedingungen zu fügen. Er enthält sich aber, anders als die gesamte heutige Rechtsprechung, des Versuches, dies in den Kontext von Ausbeutung zu stellen. Nicht jeder Vertrag sei sittenwidrig, der für die Beteiligten mit persönlichen Gefahren verbunden ist, so der BGH. Das Gericht sieht die Zwänge von Flüchtlingen, die Zwänge des Geschäftes Fluchthilfe, die zumindest teilweise altruistischen Motive und die Gefahren.
Organisierte Kriminalisierung
Heute wird Fluchthilfe kriminalisiert und als Teil der organisierten Kriminalität dargestellt, obwohl empirische Funde vorliegen, dass ein relevanter Teil der Menschen auf der Flucht immer noch eher mit der Unterstützung familiärer Netzwerke auf die Flucht geht. Im medial angeheizten Schlepperdiskurs werden Flüchtlinge dann als Opfer skrupelloser Hochstapler dargestellt. Weitaus die meisten Flüchtlinge aber treffen den Entschluss zur Flucht aus eigenen Stücken und entscheiden sich für die kommerzielle Fluchthilfe, wenn es keine Alternative gibt. Natürlich kommt es im Kontext der heimlichen Überquerung von Grenzen immer wieder zu Todesfällen. Fahrlässig oder vorsätzlich werden höchst riskante Methoden genutzt.
Die Litanei der Politiker aber, es gehe bei dem Kampf gegen illegale Einwanderung und das Schleusertum um das Wohl und die Gesundheit derer, die sich in den Händen skrupelloser Schleuser befänden, ist nicht glaubwürdig. Denn jeder, der durch praktische Hilfe an der Überwindung von Grenzen mitwirkt – und sei es für einen dringend Schutzbedürftigen – hat heutzutage gute Chancen, in Haft zu landen. Über ein Jahr lang ermittelte die Bundespolizei gegen Menschen, die syrische Kriegsflüchtlinge nach Deutschland geschmuggelt hatten. »Gewerbsmäßiges Einschleusen von Ausländern« stellte die Staatsanwaltschaft schließlich 2013 fest und forderte zwei Jahre und vier Monate Haft. Das Landgericht Essen verhängte drei Jahre.
Der Journalist Stefan Buchen, der sich mit dem Verfahren beschäftigt hat, klagt an: Das Gericht übernehme unkritisch die Sicht der Strafverfolger, die den Fluchthelfer als Verbrecher dargestellt hätten. Die Bundespolizei habe ihn wegen »Einschleusung mit Todesfolge« angezeigt. Einschleusen mit Todesfolge? Der Angeklagte hatte in Griechenland gestrandeten syrischen Kriegsflüchtlingen geholfen. Er mietete Wohnungen für einige, versorgte sie mit Lebensmitteln, begleitete sie zum Arzt. Und dann tat er, was das American Rescue Committeein Marseille auch tat: Er stellte Kontakt zu Leuten her, die falsche Papiere und Flugtickets besorgten.
Der vorsitzende Richter erkannte ein »abstraktes Gefährdungsdelikt«, weil bei Schleusungen ja das Leben von Menschen gefährdet werde. Dann schwadronierte er über die Risiken bei der Überquerung des türkisch-griechischen Grenzflusses Evros. Er erwähnte das Bootsunglück in der Ägäis im September 2012 mit 62 toten Flüchtlingen. Der angeklagte Fluchthelfer hatte allerdings weder mit dem Evros-Fluss noch mit dem Bootsunglück irgendetwas zu tun. »Seine« syrischen Flüchtlinge landeten mit dem Flugzeug sicher in Deutschland. Ja, der Angeklagte erhielt Geld.
Davon deckte er überwiegend die Kosten. Er räumte ein, dass er die Absicht hatte, einen Teil der Bezahlung für sich zu behalten. Ob überhaupt ein Überschuss heraussprang, blieb unklar. »Betriebswirtschaftliches Denken« wurde ihm dennoch in der Urteilsbegründung vorgehalten. Der BGH hätte 1980 an die hohen Kosten erinnert und die Vereinbarung wohl nicht für sittenwidrig gehalten. Doch tempi passati. Das Unrechtssystem DDR ist weg und mit ihm die humane Rechtsprechung im Nachfolgestaat.
Faire Preise, freie Fluchtwege
Die Kultur liefert Beispiele, wie man das Thema der Fluchthilfe abseits politischer Instrumentalisierung behandeln kann. Schauen Sie sich den Film Casablanca an, lösen Sie sich einen Moment von der Liebesgeschichte, und Sie sehen eine Fluchthilfegeschichte. Lesen Sie Eric Amblers »Schmutzige Geschichte« aus dem Jahr 1967, in dem die Hauptperson am Ende ihre Lebensaufgabe darin findet, für andere Menschen fragwürdige Pässe zu einem »fairen Preis« zu besorgen. Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen sich und ihre Familien mit Hilfe eines echten oder falschen Passes in Sicherheit bringen können und die Retter dafür nicht mehr bestraft werden. Denn in dieser Welt mangelt es an gefahrlosen Fluchtwegen und offenen Grenzen.
Um es mit dem Credo des genialsten und bescheidensten Dokumentenfälschers des 20. Jahrhunderts zu sagen, der Flüchtlinge aus diversen Befreiungsbewegungen, Opfer der Diktatur der griechischen Obristen und Francos, Anti-Apartheid-Aktivisten, Kämpfer der Resistance und verfolgte Juden mit Pässen und Identitäten versorgt hat: »Eine Welt, in der niemand einen Fälscher braucht. Davon träume ich immer noch.« (Adolfo Kaminsky)
Bernd Mesovic
Viele der hier genannten Argumente finden sich bereits – lesenswert – in: Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM), »Schleuser und Schlepper – Fluchthilfe als Dienstleistung«, abgedruckt in: ak – analyse und Kritik Nr.430/23.9.1999.
Solidarität mit Michael Genner! (04.02.14)