Hintergrund
Warum Deutschland mehr syrische und irakische Flüchtlinge aufnehmen muss
Die Hälfte der syrischen Bevölkerung und zehntausende Menschen aus dem Irak sind geflohen. Auf Hilfe durch die reichen Staaten hoffen sie zumeist vergebens. Auch Deutschland muss deutlich mehr tun.
Die Kriege in Syrien und im Irak hinterlassen verwüstete Dörfer und Städte, zerstörte Infrastruktur und für immer verlorene Kulturgüter. Vor allem aber bedeuten sie den Verlust von Frieden und Sicherheit für eine unvorstellbar große Zahl von Menschen. Fast acht Millionen Syrer/innen sind geflohen, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder.
Viele haben Angehörige und ihren gesamten Besitz verloren: Haus und Hof, Arbeit, Freunde. Sie finden sich wieder in einer Welt, die nicht mehr die ihre ist: Als Inlands-Vertriebene, als illegale Grenzgänger, als asylsuchende Bittsteller, als Bedürftige in überfüllten Flüchtlingslagern. Schlicht ums Überleben kämpfend grassieren auch unter ehemals gut situierten Familien Betteln, Prostitution und Kinderarbeit.
Eine ganze Generation scheint dem Untergang geweiht: UNICEF spricht von mindestens 10.000 toten Kindern. Von den Kindern im Exil geht laut UNHCR die Hälfte zum Teil schon jahrelang nicht mehr zur Schule. Die Menschen leiden unter Kriegsverletzungen und unbehandelten Krankheiten, ganz zu schweigen von der hunderttausendfachen Zerstörung der Seelen.
Die Welt schaut der fortschreitenden Katastrophe weitgehend nur zu. Wer Hilfe braucht, muss sich selbst retten: Seit 2011 sind rund 78.000 syrische Staatsangehörige nach Deutschland geflohen. Der größte Teil von ihnen hat notgedrungen den lebensgefährlichen illegalen Weg gewagt. Wer nicht in die Dublin-Zuständigkeitsmühle gerät, erhält hier die Chance auf einen Neuanfang in Sicherheit – immerhin.
Im Rahmen humanitärer Aufnahmen hat die Bundesregierung dagegen nur rund 20.000 Menschen aus Syrien die Einreise erlaubt, nicht einmal die Hälfte von ihnen kam bis November 2014 in Deutschland an. Anträge für 60.000 Menschen blieben aussichtslos.
Gesellschaft mit privater Haftung
Mit den Programmen, die alle Bundesländer – mit unrühmlicher Ausnahme Bayerns – ab 2013 installierten, erhielten hier lebende wohlhabende syrische Staatsangehörige die Chance, Verwandte auf eigene Kosten aus dem Krieg zu retten.
Rund 10.000 Visa wurden bis Ende 2014 erteilt. Wer über diesen Weg hierher
kommt, darf nicht krank sein, sollte traumatische Erfahrungen umgehend hinter sich lassen und unabhängig vom einstigen Beruf schnellstmöglich auskömmliche Arbeit verrichten. Denn die hier ansässigen Verwandten müssen für den gesamten Lebensunterhalt der Kriegsflüchtlinge bürgen. Die Privatrettung von Angehörigen setzt syrische Familien erheblich unter Druck und könnte sie in den finanziellen Ruin treiben.
Erst Ende Juni 2014 verständigten sich alle an den Programmen beteiligten Bundesländer zumindest darauf, etwaige Krankenbehandlungskosten den Verpflichtungsgebenden künftig nicht mehr aufzubürden.
»Schon von dem ersten Bericht so großer Leiden gerühret, Schickten wir eilend ein Scherflein von unserm Überfluß, daß nur Einige würden gestärkt, und schienen uns selber beruhigt.«
Flüchtlinge aus dem Irak ohne Schutz
Keinerlei bundesweite Aufnahmeprogramme gibt es bislang für die Flüchtlinge, die 2014 zu Zehntausenden vor Morden, Entführungen und Massenvergewaltigungen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak in die Nachbarstaaten geflohen sind. Nur wenige tausend kamen bislang als Asylsuchende in Deutschland an.
Für die gemeinsame Aufnahme von Irakflüchtlingen unternahm das Bundesland Bremen 2014 einen politischen Vorstoß innerhalb der Länder, er blieb ohne Erfolg. Einzig Baden-Württemberg hat inzwischen angekündigt, im Frühjahr 2015 bis zu 1.000 vom IS misshandelte und schwer traumatisierte jezidische Frauen aufzunehmen.
Am 2. September 2014 hatte die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung zum Irak gesagt: »Dort, wo Menschen in Not sind, werden wir helfen, auch durch zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen.« Passiert ist bislang nichts.
Die Internationale Hilfe schwindet
Bei der Ablehnung eines Antrags der Opposition Ende Februar 2015 erklärte die Bundesregierung lapidar, man sei nicht gegen eine weitere Flüchtlingsaufnahme aus Irak und Syrien, wolle aber die europäische (!) Entwicklung abwarten (BT-Drs.18/4163). Mit Blick auf die Industriestaaten brüstet sich die Bundesrepublik, mehr Verantwortung zu tragen als andere.
In der Tat: Die Aufnahmezahlen der vermeintlich zivilisierten Welt sind beschämend. 10.000 Syrer /innen werden wohl die USA aufnehmen, ebenso viele Kanada. Ganz Europa (ohne Deutschland) bietet die Aufnahme von gerade einmal 14.500 syrischen Flüchtlingen an (Stand 12.3.2015). Ein Armutszeugnis.
30.000 deutsche Aufnahme-Visa scheinen dagegen großzügig. Deutschland gehört zudem zu den größten Geberländern von UNHCR, der versucht, das Überleben der Flüchtlinge in der Region sicherzustellen. Die wirkliche Bürde aber tragen seit Jahren die Nachbarstaaten, vor allem Libanon und die Türkei mit jeweils weit mehr als einer Million Flüchtlingen, Jordanien mit über 600.000. Diese Staaten versuchen inzwischen, weiteren Zuzug zu unterbinden und zu reglementieren – auch, weil die internationale Nothilfe dramatisch unterfinanziert ist. »Die schlimmste humanitäre Krise unserer Zeit sollte einen globalen Aufschrei zur Unterstützung hervorrufen, stattdessen schwindet die Hilfe«, beklagte UNHCR-Chef Guterres am 12. März 2015 per Presseerklärung.
Deutschland in der Pflicht
Viele Kriegsopfer werden dauerhaft heimatlos sein. Eine Rückkehr von Jeziden in den Irak ist ebenso ungewiss wie die Zukunft der Christen in einer syrischen Nachkriegsgesellschaft. Dort geht der Krieg ins fünfte Jahr und ein Ende ist nicht in Sicht. Angesichts dessen grenzt das Verhalten weiter Teile der industrialisierten Welt an unterlassene Hilfeleistung. Auch Deutschland steht ungeachtet erfolgter Zugeständnisse weiter in der Pflicht. Hier anerkannte Flüchtlinge stehen vor großen bürokratischen und praktischen Hürden, wenn sie ihr Recht beanspruchen, Partner/in und Kinder nachzuholen. Die hier lebenden irakischen Familien – rund 100.000 Menschen sind es – würden sicher nicht zögern, nachziehende Familienmitglieder finanziell zu unterstützen.
Dringend notwendig sind großzügige Visaregelungen und ein humanitäres Aufnahmeprogramm für Irak- und auch Syrienflüchtlinge, das nicht nur die Angehörigen in die Pflicht nimmt, sondern Schutzbedürftige auch auf Staatskosten rettet.
Andrea Kothen