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»Ich denke, dass wir auch ein Stein des Anstoßes sind, auch im positiven Sinne«

Für seinen lebenslangen Einsatz für Flüchtlinge zeichnet die Stiftung PRO ASYL Johannes Borgetto zusammen mit dem Koordinationskreis Asyl Darmstadt und Region mit dem Menschenrechtspreis 2025 aus. Im Interview spricht er über internationale Aha-Erlebnisse, große Neugier, seinen Glauben, politischen Streit und Durchhaltevermögen bei Mahnwachen.
Was dachten Sie, als Sie gehört haben, dass Sie den Menschenrechtspreis der Stiftung PRO ASYL bekommen?
Ich habe mich gefragt: Wieso ich? Ich habe das bisher für nicht so spektakulär gehalten, was wir hier in Darmstadt im Klein-Klein machen. Es kann ja nur heißen, dass ich diesen Preis als Stellvertreter bekomme für viele in ganz Deutschland, die die gleiche Arbeit machen. Das sind ja Tausende.
Ja, deshalb werden sie auch zusammen mit dem Koordinationskreis Asyl Darmstadt ausgezeichnet. Sie sind heute 77 Jahre alt und werden sozusagen für Ihr Lebenswerk geehrt, deshalb fangen wir mal weit vorne an: Als Schüler gingen Sie 1965 für ein Jahr in die USA, im Studium arbeiteten Sie in einem spanischen Jugendclub und mit Spätaussiedlern, mit 27 lebten und forschten Sie ein halbes Jahr in einem Kibbuz in Israel. Wie kam es zu diesen internationalen Begegnungen?
Das Schuljahr in den USA ist auf dem Mist meiner Mutter gewachsen, ich habe mich noch gewundert, dass sie mich überhaupt genommen haben, wo doch mein Englisch so schlecht war. Aber wichtig ist: Das Jahr hat mir neue Welten erschlossen und meinen Blickwinkel geweitet. Ich hatte mein erstes internationales Aha-Erlebnis: Die Welt ist ja um einiges weiter, als ich sie kenne. So gab es in dem kleinen Ort in den USA nicht zwei Kirchen, wie bei mir daheim in Kriftel im Taunus, sondern mehr als 20 mit unterschiedlichen Konfessionen. Und im spanischen Jugendclub hat mich fasziniert, dass italienische und spanische Jugendliche in ihrer jeweiligen Sprache redeten und sich dennoch verstanden.
Zehn Jahre nach dem Sommer der Solidarität 2015 zeichnet die Stiftung PRO ASYL drei Persönlichkeiten aus, die sich seit vielen Jahren solidarisch für ein gutes Ankommen von Geflüchteten in Deutschland und für deren Rechte einsetzen. Verliehen wird der Preis am Samstag, 13. September 2025, in Frankfurt am Main.
Richard Reischl steht als Erster Bürgermeister der Gemeinde Hebertshausen stellvertretend für die Kommune und die Zivilgesellschaft, hier der Helferkreis Asyl Hebertshausen e.V. Immaculate Chienku steht als Aktive im Verein Refugees Emancipation e.V. stellvertretend für den Verein und das selbstverwaltete Wohnprojekt Refugees Emancipation Communitiy Center. Johannes Borgetto, der sich seit Jahrzehnten für das Recht auf Asyl einsetzt, steht stellvertretend für die Zivilgesellschaft, besonders den Koordinationskreis Asyl Darmstadt und Region (KOKAS).
Den Menschenrechtspreis verleiht die Stiftung PRO ASYL seit 2006 jährlich an Personen, die sich in herausragender Weise für die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Flüchtlingen in Deutschland und Europa einsetzen. Der Preis ist mit 5.000 Euro und einer Skulptur des Künstlers Ariel Auslender, Professor an der Technischen Universität Darmstadt, dotiert. Eine Übersicht mit den bisherigen Preisträger*innen steht hier.
In den Kibbuz kam ich, weil ich mich im Studium der Erziehungswissenschaften mit der Ich-Entwicklung in kollektiven Systemen beschäftigt habe. Das war wieder eine ganz neue Welt – und geblieben sind davon bis heute enge Kontakte zu Israelis, ein sehr tiefes Interesse am Israel-Palästina-Konflikt und das Engagement für die Menschenrechte der Palästinenser.
Da sind also Ihre Schwerpunkte schon früh angelegt: Migration und Flüchtlinge, der Israel-Palästina-Konflikt und die interreligiöse Arbeit. Wir konzentrieren uns auf den ersten Bereich. 1979 traten Sie eine feste Stelle in der katholischen Studentenseelsorge in Darmstadt an mit dem Schwerpunkt »Beratung und Unterstützung ausländischer Studierender«.
Da hatte ich zunächst mit ausländischen Studierenden in finanzieller Not zu tun. In den 1990er-Jahren gab es dann die Außenstelle Darmstadt der Erstaufnahmestelle Hessen, noch mit hohem Zaun und Stacheldraht. Da haben wir zusammen mit Studierenden die Flüchtlinge unterstützt, zum Beispiel bei den Behördenbriefen, die ausschließlich in Deutsch geschrieben waren. Das war ganz anders als heute, ohne Übersetzungsprogramm auf dem Handy ging es mit Händen und Füßen und eben mit ausländischen Studies. In der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) hat sich dann der wöchentliche »Treffpunkt Eine Welt« entwickelt.
Die Flüchtlinge sind in den Hilfsstrukturen immer hinten runtergefallen. Sie sind am vulnerabelsten. Flucht ist eine sehr bedrückende Form der Migration.
Migration hat ja sehr viele Facetten. Sie haben im Lauf Ihres Lebens einen Schwerpunkt Ihres Engagements auf Flüchtlinge gelegt. Warum?
Die Flüchtlinge sind in den Hilfsstrukturen immer hinten runtergefallen. Sie sind am vulnerabelsten. Flucht ist eine sehr bedrückende Form der Migration. Ich habe immer geschaut: Wo sind die Lücken? Wo fehlt es? Um 1990 hat sich dann der Koordinationskreis gegründet, zur gegenseitigen Information, Beratung und für gemeinsame Aktivitäten. Schon damals haben wir uns laut geäußert, zum Beispiel haben wir heftig mit dem hiesigen SPD-Bundestagsabgeordneten gestritten, als es um die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes ging.
Und wir haben schon früh Sprachkurse angeboten, auch für diejenigen, die im Verfahren sind. Die Menschen hatten ja nichts, was ihr Leben strukturiert hätte, oder was sie selbst positiv gestalten konnten. Und selbst wenn sie wieder zurückmüssen, haben sie mit einer neuen Sprache eine neue Welt erschlossen und Fähigkeiten erworben, die sie mit nach Hause nehmen können.
Mit »wir« meinen Sie auch den Koordinationskreis Asyl Darmstadt und Region, kurz KOKAS, mit dem zusammen Sie ausgezeichnet werden. Der KOKAS ist ein übergreifender Zusammenschluss von ehren- und hauptamtlichen Aktiven in der Flüchtlingsarbeit. Im Lauf der Jahrzehnte hat der Kreis unter anderem örtliche Asylkreise bei ihrer Gründung begleitet, Sprachkurse angestoßen, Fortbildungen zum Beispiel für ehrenamtliche Sprachlehrer*innen angeboten und Infoabende organisiert. Wie seht die Arbeit heute aus? Was hat sich verändert?
Vieles ist professionalisiert worden, zum Beispiel die Sprachkurse. Anderes ist geblieben wie die konkrete Begleitung von Flüchtlingen. Und wir sind weniger und älter geworden. Deshalb versuchen wir auch, mit Organisationen wie Seebrücke, in denen sich jüngere Menschen engagieren, zusammenzuarbeiten. Aber die Art der Öffentlichkeitsarbeit wie wir sie betreiben mit Mahnwachen, Kundgebungen, politischer Arbeit scheint nicht mehr so angesagt zu sein.
Und das gesellschaftliche Klima verändert sich: allgemein und auch uns gegenüber. Das sieht man zum Beispiel daran, dass der verunglimpfende Gebrauch des Wortes »Gutmensch« zum Unwort des Jahres 2015 gewählt wurde – obwohl 2015 gleichzeitig das Jahr der Willkommenskultur war. Allgemein hätte ich nie gedacht, dass sich die Parteien wirklich so von der AfD jagen lassen.
Geblieben ist auch die Mahnwache des KOKAS mit dem Transparent »Für eine humane Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa«. Seit 2016 stehen Sie zusammen mit anderen an jedem dritten Montag im Monat auf dem Luisenplatz in Darmstadt. Zur 100. Mahnwache im Juni 2025 kamen rund 50 Menschen, doch üblich sind inzwischen eher drei bis sechs. Wieso ist diese beachtliche Beharrlichkeit wichtig?
Auch wenn die Leute nur beim Vorbeigehen die Schilder lesen und den Daumen hochhalten, ist das ermutigend, stärkt unser Engagement und bestärkt auch die positive Haltung von Passanten. Ich denke, dass wir damit auch ein Stein des Anstoßes sind, auch im positiven Sinne: einen Stein ins Wasser werfen und hoffen, dass sich die Botschaft verbreitet. Manchmal weiß man es ja selbst gar nicht, wenn man etwas bewirkt hat. Neulich zum Beispiel sagte jemand zu mir: Was Du mir damals vor 30 Jahren gesagt hast, das hat mit sehr geholfen. Deshalb halten wir die Mahnwache, solange drei Leute zusammenkommen: zwei für das Transparent und einer für Handzettel und Gespräche. Aber natürlich wäre es besser, wenn wir mehr wären. Doch in letzter Zeit bekommen wir auch immer wieder mehr Unterstützung, vor allem von den Omas gegen Rechts.
Beim Blick auf Ihren Lebenslauf stellt sich die Frage: Haben Sie Ihr Hobby zum Beruf oder ihren Beruf zum Hobby gemacht? Für beides gilt: Was treibt Sie an?
Ich denke, meine eigene Geschichte, die engagierten Menschen, die ich getroffen habe, mein Glaube – und vor allem auch meine Neugier auf Menschen. Ich bin ein italienisches Einwandererkind der vierten Generation, auch deshalb sind mir Menschen, die sich in einer fremden Welt zurechtfinden müssen, sehr nah.
Und ich bin katholisch sozialisiert und in den Linkskatholizismus reingewachsen, bis heute bin ich bei pax christi/Internationale katholische Friedensbewegung aktiv. Wenn ich als Christ glaube, dass jeder Mensch das Ebenbild Gottes ist, bin ich verpflichtet, mich für alle Menschen einzusetzen. Wir arbeiten schon hier in der Welt am Reich Gottes, indem wir an der Gerechtigkeit für alle Menschen arbeiten.
Herbert Leuninger, Mitbegründer von PRO ASYL, zum Beispiel war bei uns in Kriftel im Jahr 1970 Pfarrer und mir ein Vorbild, bevor er mit dem fortschrittlichen Mess-Festival für Jugendliche, veranstaltet in Hofheim, in die Schlagzeilen geriet.
1971 habe ich, gemeinsam mit einem pax christi-Freund, zum Beispiel einen Artikel in der linkskatholischen Zeitschrift Publik Forum geschrieben, in dem ich die damaligen Kürzungen im Kindergeld für ausländische Familien kritisierte und der pax christi-Kollege die steigenden Rüstungsausgaben, die zeitgleich in das Kampfflugzeug MRCA-Tornado gesteckt wurden. Diese Mechanismen – Sozialausgaben runter, Militärausgaben hoch – sind heute ja leider auch nicht anders.
Johannes Borgetto (Jahrgang 1948) bekommt den Menschrechtspreis der Stiftung PRO ASYL zusammen mit dem Koordinationskreis Asyl Darmstadt und Region (KOKAS) stellvertretend für Personen aus der Zivilgesellschaft, die sich seit Jahrzehnten für Flüchtlinge und das Recht auf Asyl einsetzen – und auch für sein Lebenswerk.
Nach dem Studium der Erziehungswissenschaft, Theologie und Politik arbeitete er 20 Jahre lang in der Katholischen Hochschulgemeinde Darmstadt unter anderem mit internationalen Student*innen und Flüchtlingen, danach 14 Jahre lang bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2013 als Fachberater für Migrationsfragen beim Caritasverband Darmstadt. Seit seiner Jugend setzt sich Johannes Borgetto ehren- und hauptamtlich für Migration und Flüchtlinge, den interreligiösen Dialog, Friedensarbeit und eine gerechte Lösung im Israel-Palästina-Konflikt ein.
Einige wichtige Stationen sind: Betreuung von Spätaussiedler*innen im Lager Hocheim/Main (1970/71), Mitglied in der Nahost-Kommission von Pax Christi (1986 bis 2004), Leitung des Israel/Palästina Solidaritätskreises Darmstadt (seit 1979), Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) Darmstadt (1991), Mitbegründer und Leiter des Koordinationskreis Asyl Darmstadt und Region KOKAS (seit 1991), Mitglied in der Kommission für Islamfragen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) (seit 1998), Beauftragter der katholischen Kirche Darmstadt für interreligiöse Begegnung (2001 bis 2016), (mit)verantwortlicher Koordinator für die Interkulturelle Woche Darmstadt (2006 bis 2010).
Hinzu kommen Exkursionen in Konfliktregionen der Welt wie Israel/Palästina, Lesbos, Süditalien und Afghanistan.
Und Sie sind neugierig, sagen Sie?
Ja. Ich bin unheimlich neugierig auf die Welt, auf die Menschen. Ich finde es total spannend, mich mit anderen Sichtweisen, Gepflogenheiten und Erfahrungen auseinanderzusetzen. Das fing schon 1965 an mit dem Jahr als Schüler in den USA und ab 1970 mit der Betreuung von Spätaussiedler*innen im Lager Hochheim/Main und hält bis heute an.
Sie scheinen nach wie vor unermüdlich zu sein, im vergangenen Jahr gründeten Sie noch zusammen mit anderen den Verein »Hoffnung und Hilfe für Afghanistan«. Denken Sie auch mal ans Aufhören?
Naja, ich höre schon immer mal wieder in der Familie den etwas spöttischen Satz: Gehst Du mal wieder die Welt retten? Ganz aufhören könnte ich nicht, aber etwas kürzer treten würde ich schon gern. Doch ich will auch nicht aufhören nach dem Motto: nach mir die Sintflut. Ich habe mal den schönen Spruch gehört: Fange nie an, aufzuhören, höre nie auf, anzufangen.
Wir haben ein Verwaltungsproblem, kein Migrationsproblem. Weil die Abschreckungsbefürworter leugnen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, nehmen sie die Möglichkeiten einer bunten Gesellschaft nicht wahr und verschenken viele Chancen.
Sie haben unter anderem Theologie studiert und in kirchlichen und religiösen Zusammenhängen gearbeitet. In den von Ihnen verfassten Zehn Geboten des Flüchtlingsschutzes heißt es: Du sollst weder die Sahara noch das Mittelmeer zu einem großen Friedhof verkommen lassen. Dann geht es weiter mit Waffenlieferungen, Dumpingpreisen, Wirtschaftssystemen und Rohstoffen. Was hat das mit Ihrem Engagement für Flüchtlinge zu tun?
Wenn ich mich hier für die Rechte von Flüchtlingen engagiere, muss ich auch in die Welt schauen. Was ich da in den Geboten aufgezählt habe, sind alles Fluchtgründe. Diese Zusammenhänge müssen wir sehen und immer wieder ansprechen.
»Wir schaffen das« ist derzeit überall Thema. Wie ist ihre Einschätzung: Haben wir es geschafft?
Wir als Gesellschaft haben es nicht wirklich geschafft. Weil zu wenige Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden, sodass nun die nachholende Integration viel teurer und aufwendiger wird. Und: Wir haben ein Verwaltungsproblem, kein Migrationsproblem. Weil die Abschreckungsbefürworter leugnen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, nehmen sie die Möglichkeiten einer bunten Gesellschaft nicht wahr und verschenken viele Chancen.
Aber dennoch haben es sehr viele, die 2015 nach Deutschland kamen, geschafft. Ich kenne zum Beispiel einen Mann, der hier in Deutschland erstmal alphabetisiert werden musste. Und nun hat er einen Hauptschulabschluss. Das ist teilweise unglaublich, was Flüchtlinge geschafft haben.
(wr)