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»Ich träume davon, dass jeder die Möglichkeit bekommt, das zu tun, was er gerne machen möchte.«

»Ich bin gut durchgetaktet«, sagt Ali Nazari, als er zu unserem Gespräch erscheint. Er hat viel zu tun, aber bei der Interviewreihe von PRO ASYL mitzumachen, ist ihm wichtig. »Wir Flüchtlinge werden alle in einen Topf geworfen. Die Leute sollen sehen, dass es viele gibt, die versuchen, sich in Deutschland etwas aufzubauen«, erklärt der 22-Jährige.
Zehn Jahre ist es her, seit Sie nach Deutschland gekommen sind. Was war Ihr erster Eindruck?
Es war alles fremd – so ganz anders als in meinem Heimatland. Dort kannte ich den Weg von der Schule nach Hause, mehr nicht. In Afghanistan macht man keinen Urlaub oder geht an den See. Und dann war ich plötzlich in Deutschland. Ich war 13, als ich mit einem Onkel und einer Tante ankam. Wir sind zunächst in ein Camp nach Bayern gekommen und ich fand es wunderschön dort. Viele andere Flüchtlinge wollten weiter nach Schweden, aber ich nicht. Irgendetwas in mir hat gesagt: „Bleib hier!“ Und das war genau die richtige Entscheidung.
Was war für Sie nach Ihrer Ankunft besonders schwer auszuhalten?
Dass ich kein Wort Deutsch konnte. Ich kam in eine Einrichtung für Minderjährige und nach einem Jahr Vorbereitungsklasse habe ich auf die Realschule gewechselt. Ich habe versucht, so schnell wie möglich die Sprache zu lernen, aber die Jungs dort haben Witze über meine Aussprache gemacht, das tat weh. Aber ich habe mich durchgekämpft und mir gesagt: Ich lerne Tag und Nacht, wenn es sein muss. Ich will es schaffen. Und ich habe es geschafft. Ohne Schmerz kein Erfolg.
„Ich hatte Gott sei Dank das Glück, dass ich in Deutschland immer Leute getroffen habe, die mich motiviert haben und mir gesagt haben: »Du schaffst das.«“
Ich will, dass meine Familie stolz ist auf mich. Ich will ein Vorbild sein für meine Geschwister und für andere. Das hat mich motiviert, auch wenn ich Nächte hatte, in denen es schwierig war, in denen ich mein Zuhause vermisst habe: Meine Mama. Die Gespräche mit meinen Geschwistern in unserem Hof. Die Spiele. Das Essen meiner Mutter…
Welches Gefühl hat Sie während der ersten Monate in Deutschland begleitet?
Grundsätzlich habe ich eine positive Denkweise, die mich staunen und mit den Leuten gut auskommen ließ. Aber es gab auch schwierige Momente: Als ich von München nach Baden-Württemberg kam, wurde ich in einem winzigen Ort im Kreis Calw untergebracht. Dort gab es ein paar Häuser, ein Freibad und einen Fußballplatz – mehr nicht. Das war mir unheimlich. Und in der Jugendeinrichtung, in der ich war, hatte ich Probleme mit den Regeln. Als Teenie will man halt auch mal nach 20 Uhr rausgehen, so etwas… Aber ich hatte Gott sei Dank das Glück, dass ich in Deutschland immer Leute getroffen habe, die mich motiviert haben und mir gesagt haben: »Du schaffst das.« Diesen Menschen, die mir geholfen haben, bin ich unglaublich dankbar.
Wer hat Ihnen besonders geholfen, in Deutschland Fuß zu fassen?
Das war vor allem ein Betreuer in der Jugendeinrichtung, der immer an mich geglaubt hat, Eduardo. So einen Betreuer findet man kein zweites Mal. Er war wie ein Vater für mich. Ich besuche ihn auch heute noch regelmäßig. Ich bin aber auch all den anderen Betreuern in der Jugendeinrichtung sehr dankbar. Sie haben mir alles beigebracht: Waschen, Kochen, Putzen, aber auch Disziplin, Vertrauen, An-sich-selbst-glauben. Sie haben mich wirklich auf das Leben vorbereitet, aber erst im Nachhinein habe ich erkannt, wie wichtig das war. Ich bin dann nochmal hingegangen und habe mich bei ihnen bedankt. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie uns Jungs ohne Gegenleistung so geholfen haben.
Wann haben Sie sich hier richtig angekommen gefühlt?
Als ich meine Ausbildung als Bauzeichner in Stuttgart begonnen habe. Das war im Januar 2020. Mittlerweile arbeite ich als Werkplaner in einem Architekturbüro in Karlsruhe. Ich hatte mir ein Ziel gesetzt: Ich wollte Architekt werden. Mit diesem Ziel bin ich nach Deutschland gekommen. Schon in Afghanistan wollte ich Häuser bauen, an etwas Größerem mitwirken, beweisen, dass ich zu etwas fähig bin. Aber dort hatte ich keine Chance. Das habe ich an meinem Vater gesehen: Er hat hart geschuftet, damit wir Kinder uns Schulhefte kaufen konnten, aber kaum etwas verdient. Mit 18 musste er heiraten, hatte selbst keine Jugend. Ich wollte ein anderes Leben.
„Ich darf alles selbst machen, richtig Verantwortung übernehmen, mehrere Projekte eigenständig betreuen. Das ist eine tolle Herausforderung für mich – ich bin ja erst 22.“
Leben Sie nun das Leben, das Sie sich gewünscht haben?
Ja – zumindest bin ich auf gutem Weg dorthin. Als Werkplaner bei meiner jetzigen Firma darf ich alle Pläne für Reihen- und Mehrfamilienhäuser zeichnen und prüfen, von A bis Z, von den Elektroleitungen bis zur Innenarchitektur. Ich bin seit Februar 2025 dort und es ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich darf alles selbst machen, richtig Verantwortung übernehmen, mehrere Projekte eigenständig betreuen. Das ist eine tolle Herausforderung für mich – ich bin ja erst 22.
Aber der Schritt, dorthin zu wechseln, war gar nicht so einfach für mich. Ich habe geweint, als ich meine vorherige Firma, bei der ich auch meine Ausbildung in Hoch- und Tiefbau absolviert habe, verlassen habe – meine Kollegen auch. Ich hatte dort einen großartigen Ausbilder. Aber ich wollte etwas Neues ausprobieren und meine Komfortzone verlassen.
Engagieren Sie sich neben Ihrem erfüllenden Beruf auch ehrenamtlich?
Ja, in meiner Ortsgemeinde unterstütze ich geflüchtete Jugendliche und Familien. Ich übersetze Behördenpost für sie, begleite bei Arztbesuchen, unterstütze, wo ich kann. Wir versuchen den Leuten die Angst zu nehmen und an ihrem Potenzial zu arbeiten. Ich will eine helfende Hand sein, ich will für andere Menschen da sein – für jene, die vergessen oder übersehen werden oder die keine Chance bekommen.
Ging es für Sie stetig bergauf in den vergangenen Jahren oder gab es auch einen Rückschlag?
Es gab im Privaten einen Rückschlag: Am 16. Dezember 2022 habe ich erfahren, dass mein Vater nicht mehr bei uns ist. Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Ich konnte immer so gut mit ihm reden, stundenlang. Neben dem Schock kam noch die Bürokratie mit den deutschen Behörden hinzu. Sie haben mir viele Steine in den Weg gelegt, dass ich überhaupt ausreisen und mich von ihm verabschieden konnte und danach wieder in Deutschland einreisen durfte. Meine Eltern waren in die Türkei geflüchtet, wo mein Vater kurz vor seinem Tod im Koma lag. Meine Mutter lebt noch dort. Der Tod meines Vaters war ein Moment, der mich ein Stück weit gebrochen hat.
Aber Sie haben nicht aufgegeben…
Ich habe weitergemacht. Ein paar Monate nach seinem Tod habe ich meine Abschlussprüfungen bestanden. Zwischen dem Lernen hatte ich immer Telefonate mit meiner weinenden Mutter und mit den Geschwistern, denen ich Mut machen musste. Ich bin jetzt ein Stück weit in der Vaterrolle. Mein Vater fehlt mir sehr. Ich hätte ihm so gerne den Vertrag gezeigt, den ich dieses Jahr als Bauzeichner bekommen habe in einem renommierten Architektenbüro. Und die Visitenkarten mit meinem Namen drauf.
Wovon träumen Sie?
Ich träume davon, dass jeder die Möglichkeit bekommt, das zu tun, was er gerne machen möchte. Und dass wir Migranten als Menschen gesehen werden, die eine friedliche Gesellschaft wollen. Ich wünsche mir, dass wir in Harmonie hier leben, dass es keinen Rassismus gibt und alle Menschen in diesem Land für Freiheit, Frieden und Gemeinschaft eintreten.
(er)