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»Am Anfang war es sehr schwer für mich, Vertrauen aufzubauen«

Othman Saeed war 15, als er aus dem Irak nach Deutschland floh. Dass er in eine Pflegefamilie kam, hat ihm das Ankommen in Deutschland enorm erleichtert. Mittlerweile ist er eingebürgert und hat jüngst seine Ausbildung bestanden, wie er in akzentfreiem Deutsch erzählt.
Es war ein Freitag Ende Mai, da habe ich richtig gefeiert. An diesem Tag habe ich Bescheid bekommen, dass ich meine Ausbildung bestanden habe – und am gleichen Tag habe ich endlich meinen deutschen Perso und Reisepass in den Händen gehalten. Den Antrag auf Einbürgerung hatte ich schon im Oktober 2023 gestellt, aber erst jetzt, im Frühjahr 2025, wurde er bewilligt. An dem Abend bin ich mit Freunden hier in Hildesheim ordentlich feiern gegangen.
Von Bagdad nach Hildesheim – das hätte ich als Kind nicht für möglich gehalten.
Von Bagdad nach Hildesheim – das hätte ich als Kind nicht für möglich gehalten. Ich war nie außerhalb meiner Heimatstadt Bagdad gewesen, und dann war es gleich die ganz große Reise: 2015 bin ich losgelaufen und mit Bussen, Boot und zu Fuß über die Türkei und Griechenland nach Deutschland gekommen. Ich war damals 15, und ich war alleine. Es war die Idee meines Vaters. Dass wir alle losziehen, dafür hätte das Geld nicht gereicht. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt schon verschwunden. Wir wissen nicht, was mit ihr passiert ist, aber wir befürchten das Schlimmste. Als Sunniten in einem mehrheitlich schiitischen Stadtviertel in Bagdad waren wir immer in Gefahr. Meine Familie wurde ständig verfolgt und hat Drohbriefe bekommen. Mehrere meiner Onkel sind ermordet worden.
Annli ist zu einer Mutter für mich geworden
Ich war nicht unglücklich darüber, zu gehen, denn mein Vater hatte eine kurze Zündschnur. Er war von schiitischen Milizen gefangen genommen und gefoltert worden und das hat ihn sehr verändert. Ich musste ständig mit Tritten oder Schlägen rechnen. Erst in Deutschland kam das alles hoch: Die Ängste, die Schläge meines Vaters, die fehlende Heimat. Weil wir verfolgt wurden, sind wir bis zu meinem 15. Lebensjahr neun Mal umgezogen. So können keine Freundschaften wachsen und man kommt nie richtig an. Erst als ich hier in Sicherheit war, habe ich erkannt, dass ich Hilfe brauche, um das zu verarbeiten. Und habe eine Therapie begonnen. Dort wurde festgestellt, dass ich Depressionen und eine posttraumatische Belastungsstörung habe.
Dass ich es geschafft habe, verdanke ich zu großen Teilen meiner Pflegefamilie, zu der ich 2017 kam. Oder war es 2016? Meine Mum weiß, wann das war. Ja, im August 2016. Am Anfang war es sehr schwer für mich, Vertrauen aufzubauen. Ich habe niemandem geglaubt, niemandem vertraut. Deutsch konnte ich auch nicht, aber wenigstens Englisch. Ich habe dem Jugendamt gesagt, dass ich gerne in einer Familie leben würde, um die Sprache und Kultur schneller lernen zu können. Und dann kam ich zu Annli und Achim – ein großes Glück. Sie haben mich getröstet, wenn es mir schlecht ging, haben mich gefragt, wie sie mir helfen können und echtes Interesse an mir gezeigt. Da habe ich langsam begonnen, zu vertrauen. Annli ist wirklich zu einer Mutter für mich geworden. Vor ein paar Jahren bin ich ausgezogen, aber ich lebe in der Nähe, das war mir wichtig.
Ich bin stolz darauf, dass ich aus meiner Komfortzone rausgekommen bin
Mich verbindet nicht viel mit dem Irak, besonders seit auch zwei meiner Brüder in Deutschland leben. Aber Deutschland als Heimat zu bezeichnen, fällt mir trotzdem schwer. Einfach wegen der politischen Stimmung und des Rassismus, den ich erlebe, vor allem im Netz. Mir wird immer wieder gesagt oder gezeigt, dass ich nicht dazu gehöre. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, motivieren mich, gegen so etwas anzukämpfen – gegen Rassismus ebenso wie gegen familiäre Gewalt. In einem Team mit anderen Leuten mache ich nebenbei als Freiberufler Awareness-Arbeit, sensibilisiere also für rassistische Muster und Strukturen. Wir werden von verschiedenen Institutionen angefragt; im Mai war ich zum Beispiel auf dem Kirchentag in Hannover und bei der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart.
Ich träume von einem kleinen Häuschen, am liebsten irgendwo auf dem Dorf, wo ich mit meiner Freundin gemeinsam wohnen kann.
Ich bin stolz darauf, dass ich aus meiner Komfortzone rausgekommen bin und vieles erreicht habe, was ich lange für unmöglich hielt. Zum Beispiel, dass ich meine Ausbildung zum Kaufmann für Dialogmarketing bestanden habe. Vor einem Jahr erschien mir das noch ganz weit weg. Ich habe zu der Zeit Antidepressiva genommen, und wenn ich die mal ein paar Tage abgesetzt habe, ging es mir direkt schlecht. Nun habe ich es geschafft. Ich arbeite im Vertrieb eines Software-Anbieters und will zukünftig meinen Fachwirt machen. Aber erstmal möchte ich berufliche Erfahrungen sammeln.
Ich träume von einem kleinen Häuschen auf dem Dorf
Dass ich mir ein Leben ohne Angst aufbauen konnte, macht mich ebenfalls stolz. Und dass ich eine tolle Freundin habe, mit der ich schon lange zusammen bin. Wir planen, bald zu heiraten. Ich träume von einem kleinen Häuschen, am liebsten irgendwo auf dem Dorf, wo ich mit meiner Freundin gemeinsam wohnen kann. Obwohl ich in der Großstadt aufgewachsen bin, mag ich die Atmosphäre und die Ruhe auf dem Land. Und ich wünsche mir, dass ich genug Geld verdiene, um eine Familie gründen und ernähren zu können. Ganz normale Träume eben, ein ganz normales Leben.
Ich habe ein kleines Ritual entwickelt: Ich mache mir jeden Morgen und jeden Abend bewusst, dass ich allen Grund habe, dankbar zu sein. Für das, was ich erreicht habe. Und für die tolle Familie, die ich gefunden habe. Das nicht nur leise zu denken, sondern auch laut auszusprechen, ist zu einem festen Bestandteil meines Tages geworden.
(er)