04.08.2014
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Während des Kalten Krieges waren es nicht nur die Medien im Westen, die die Fluchthelfer und ihre einfallsreichen Taten hoch leben ließen. Auch auf die Rechtsprechung konnte man sich in der Regel verlassen. Bild: flickr/orkomedix 2011

Flucht ist kein Verbrechen. Das würden wohl fast alle unterschreiben, auch wenn sie vom Menschenrecht, Asyl in anderen Staaten zu suchen und zu genießen, noch nichts gehört haben. Warum aber gilt die Fluchthilfe als ein Verbrechen?

Mil­lio­nen von Men­schen ret­te­ten sich, indem sie sich ihren Ver­fol­gern ent­zo­gen. Flucht vor reli­giö­ser Ver­fol­gung und eth­ni­schen Ver­trei­bungs­pro­zes­sen, Flucht vor den Nazis, vor sta­li­nis­ti­schen »Säu­be­run­gen«, vor Krie­gen und Bür­ger­krie­gen – seit Jahr­hun­der­ten, bis heu­te. Flucht ist also kein Ver­bre­chen. War­um aber dann die vie­len jagd­eif­ri­gen Poli­zei­be­rich­te dar­über, dass man wie­der Schleu­sern das Hand­werk gelegt habe? War­um alle Jah­re wie­der das media­le Kli­schee von orga­ni­sier­ter Schlepperkriminalität? 

Wäh­rend der Zeit des Nazi­re­gimes und wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges muss­ten vie­le Flücht­lin­ge die Diens­te von Flucht­hel­fern in Anspruch neh­men. Nach dem Ver­sa­gen der inter­na­tio­na­len Staa­ten­ge­mein­schaft 1938 bei der Flücht­lings­kon­fe­renz von Evi­an, wo die Staa­ten fast aus­nahms­los kei­ne Bereit­schaft zeig­ten, jüdi­sche Flücht­lin­ge auf­zu­neh­men, wuchs der Druck.

Wer in den Zufluchts­län­dern oder in Bot­schaf­ten Flücht­lin­gen mit Visa gegen die Vor­schrif­ten aus­half, wur­de in vie­len Fäl­len kalt- oder vor Gericht gestellt. Die in der Schweiz ver­ur­teil­ten Flucht­hel­fer zum Bei­spiel hat man spät – im Jahr 2003 – reha­bi­li­tiert. Vari­an Fry, einer der mutigs­ten und effi­zi­en­tes­ten Flucht­hel­fer, der Flücht­lin­gen im besetz­ten Frank­reich mit dem Ame­ri­can Res­cue Com­mi­tee wei­ter­half, wur­de zu Leb­zei­ten nicht geehrt. Auch er kauf­te zur Ret­tung der Ver­folg­ten des Natio­nal­so­zia­lis­mus gefälsch­te Doku­men­te bei der Unter­welt von Marseille.

Die Ret­tung von Men­schen vor Ver­fol­gung ist höchst sel­ten völ­lig kos­ten­frei. Seit­dem Natio­nal­staa­ten Gren­zen effek­tiv über­wa­chen, kön­nen Men­schen kaum noch ohne die Inan­spruch­nah­me gut orga­ni­sier­ter Flucht­hel­fer und pro­fes­sio­nell gefälsch­ter Doku­men­te flie­hen. Die Gren­zen zwi­schen kom­mer­zi­el­ler Flucht­hil­fe und altru­is­ti­schem Tun sind dabei flie­ßend. In den Anfangs­jah­ren der Flucht­hil­fe aus der DDR nach West­deutsch­land han­del­ten vie­le der Flucht­hel­fer aus ideel­len Grün­den oder woll­ten Ange­hö­ri­gen hel­fen. Mit der Grenz­auf­rüs­tung der DDR und der immer lücken­lo­se­ren Bespit­ze­lung muss­te auch die Flucht­hil­fe pro­fes­sio­nel­ler wer­den. Damit ein­her ging durch die immer auf­wen­di­ge­re Flucht­or­ga­ni­sa­ti­on die Kom­mer­zia­li­sie­rung der Fluchthilfe.

Flucht­hil­fe oder Schlep­per­tum – eine Fra­ge poli­ti­scher Opportunität

Kei­nes­wegs ist die Flucht­hil­fe immer straf­bar gewe­sen. Ihre recht­li­che Beur­tei­lung hing immer stark vom poli­ti­schen Kon­text ab. Je nach poli­ti­scher Oppor­tu­ni­tät wur­de sie als gera­de­zu gebo­te­ne Hil­fe in der Not und die Ver­wirk­li­chung von Frei­heits­rech­ten ange­se­hen – oder als ille­ga­les Unter­lau­fen staat­li­cher Sou­ve­rä­ni­tät. Flucht­hil­fe aus der DDR galt im Wes­ten als ehren­wer­te Hand­lung und zwar auch dann, wenn dafür bezahlt wur­de. Die Anzei­ge von Flucht­hil­fe bei Dienst­stel­len der DDR war dage­gen straf­bar. Der Ver­fas­sungs­schutz hat­te Anteil an der ver­deck­ten Unter­stüt­zung von Fluchthilfeaktivitäten.

Inter­es­san­ter­wei­se hat auch eine der übels­ten For­men von Flucht­hil­fe nicht zu straf­recht­li­chen Reak­tio­nen geführt. Die Aus­schleu­sung von Nazi-Kriegs­ver­bre­chern nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges in Rich­tung Süd­ame­ri­ka wur­de lan­ge Zeit kaum skan­da­li­siert, bis nach dem Eich­mann-Pro­zess und den Ausch­witz-Pro­zes­sen in der Bun­des­re­pu­blik das Aus­maß immer mehr deut­lich wur­de, in dem hoch­ran­gi­ge Ver­bre­cher durch eben­so hoch­ran­gi­ge Unter­stüt­zer begüns­tigt wor­den waren.

Gute Sit­te im Kal­ten Krieg

Wäh­rend des Kal­ten Krie­ges waren es nicht nur die Medi­en im Wes­ten, die die Flucht­hel­fer und ihre ein­falls­rei­chen Taten hoch leben lie­ßen. Auch auf die Recht­spre­chung konn­te man sich in der Regel ver­las­sen. 1980 woll­te ein Flucht­hel­fer nach einem miss­lun­ge­nen Ver­such, einen DDR-Bür­ger über die inner­deut­sche Gren­ze zu brin­gen, den ver­ein­bar­ten Vor­schuss von einem west­deut­schen Auf­trag­ge­ber sehen. In der Revi­si­ons­in­stanz kam der Bun­des­ge­richts­hof zu dem Schluss, dass ein sol­cher Ver­trag nicht all­ge­mein gegen die guten Sit­ten ver­sto­ße – um des­sen Straf­bar­keit ging es erst gar nicht (BGH-Urteil v. 21.2.1980,  zitiert nach NJW 1980, Heft 29, S.1574 ff).

Der BGH äußer­te sich auch zum kom­mer­zi­el­len Cha­rak­ter sol­cher Flucht­hil­fe mit dem Tenor, es sei nicht in jedem Fall  anstö­ßig, eine Hil­fe­leis­tung, selbst für einen Men­schen in einer Not­la­ge, von einer Ver­gü­tung abhän­gig zu machen. Auch die Flucht­hil­fe als Hil­fe zur Aus­übung eines Grund­rechts kön­ne an ein Ent­gelt geknüpft sein.

Die Hand­lung beru­he »durch­aus auf bil­li­gens­wer­ten, ja edlen Moti­ven«. Nach­dem so Flucht­hil­fe für den BGH nicht als ver­werf­lich anzu­se­hen war, durf­te sich das Gericht auch mit dem in einer frei­en Wirt­schaft ange­mes­se­nen Preis beschäf­ti­gen. Man wür­de ger­ne jedem Rich­ter, der heu­te über Zah­lun­gen an Schleu­ser urteilt, als han­de­le es sich um ver­dam­mens­wer­te Aus­beu­tung, die Über­le­gun­gen des BGH nahe­le­gen. Flucht­hil­fe­ver­gü­tun­gen von damals 15.000 Mark je geschleus­ter Per­son sei­en im Hin­blick auf hohe Kos­ten des Flucht­hel­fers nicht über­höht. Vom Anbie­ter wür­den ja Kennt­nis­se, Erfah­run­gen und Ver­bin­dun­gen erwar­tet, die für einen heim­li­chen Grenz­über­tritt benö­tigt würden.

Der BGH setzt vor­aus, dass es für den Flücht­ling einen Zwang gibt, der Flucht­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on blin­des Ver­trau­en zu schen­ken und sich in die von ihr gestell­ten Bedin­gun­gen zu fügen. Er ent­hält sich aber, anders als die gesam­te heu­ti­ge Recht­spre­chung, des Ver­su­ches, dies in den Kon­text von Aus­beu­tung zu stel­len. Nicht jeder Ver­trag sei sit­ten­wid­rig, der für die Betei­lig­ten mit per­sön­li­chen Gefah­ren ver­bun­den ist, so der BGH. Das Gericht sieht die Zwän­ge von Flücht­lin­gen, die Zwän­ge des Geschäf­tes Flucht­hil­fe, die zumin­dest teil­wei­se altru­is­ti­schen Moti­ve und die Gefahren.

Orga­ni­sier­te Kriminalisierung

Heu­te wird Flucht­hil­fe kri­mi­na­li­siert und als Teil der orga­ni­sier­ten Kri­mi­na­li­tät dar­ge­stellt, obwohl empi­ri­sche Fun­de vor­lie­gen, dass ein rele­van­ter Teil der Men­schen auf der Flucht immer noch eher mit der Unter­stüt­zung fami­liä­rer Netz­wer­ke auf die Flucht geht. Im medi­al ange­heiz­ten Schlep­per­dis­kurs wer­den Flücht­lin­ge dann als Opfer skru­pel­lo­ser Hoch­stap­ler dar­ge­stellt. Weit­aus die meis­ten Flücht­lin­ge aber tref­fen den Ent­schluss zur Flucht aus eige­nen Stü­cken und ent­schei­den sich für die kom­mer­zi­el­le Flucht­hil­fe, wenn es kei­ne Alter­na­ti­ve gibt. Natür­lich kommt es im Kon­text der heim­li­chen Über­que­rung von Gren­zen immer wie­der zu Todes­fäl­len. Fahr­läs­sig oder vor­sätz­lich wer­den höchst ris­kan­te Metho­den genutzt.

Die Lita­nei der Poli­ti­ker aber, es gehe bei dem Kampf gegen ille­ga­le Ein­wan­de­rung und das Schleu­ser­tum um das Wohl und die Gesund­heit derer, die sich in den Hän­den skru­pel­lo­ser Schleu­ser befän­den, ist nicht glaub­wür­dig. Denn jeder, der durch prak­ti­sche Hil­fe an der Über­win­dung von Gren­zen mit­wirkt – und sei es für einen drin­gend Schutz­be­dürf­ti­gen – hat heut­zu­ta­ge gute Chan­cen, in Haft zu lan­den. Über ein Jahr lang ermit­tel­te die Bun­des­po­li­zei gegen Men­schen, die syri­sche Kriegs­flücht­lin­ge nach Deutsch­land geschmug­gelt hat­ten. »Gewerbs­mä­ßi­ges Ein­schleu­sen von Aus­län­dern« stell­te die Staats­an­walt­schaft schließ­lich 2013 fest und for­der­te zwei Jah­re und vier Mona­te Haft. Das Land­ge­richt Essen ver­häng­te drei Jahre.

Der Jour­na­list Ste­fan Buchen, der sich mit dem Ver­fah­ren beschäf­tigt hat, klagt an: Das Gericht über­neh­me unkri­tisch die Sicht der Straf­ver­fol­ger, die den Flucht­hel­fer als Ver­bre­cher dar­ge­stellt hät­ten. Die Bun­des­po­li­zei habe ihn wegen »Ein­schleu­sung mit Todes­fol­ge« ange­zeigt. Ein­schleu­sen mit Todes­fol­ge? Der Ange­klag­te hat­te in Grie­chen­land gestran­de­ten syri­schen Kriegs­flücht­lin­gen gehol­fen. Er mie­te­te Woh­nun­gen für eini­ge, ver­sorg­te sie mit Lebens­mit­teln, beglei­te­te sie zum Arzt. Und dann tat er, was das Ame­ri­can Res­cue Com­mit­te­ein Mar­seil­le auch tat: Er stell­te Kon­takt zu Leu­ten her, die fal­sche Papie­re und Flug­ti­ckets besorgten.

Der vor­sit­zen­de Rich­ter erkann­te ein »abs­trak­tes Gefähr­dungs­de­likt«, weil bei Schleu­sun­gen ja das Leben von Men­schen gefähr­det wer­de. Dann schwa­dro­nier­te er über die Risi­ken bei der Über­que­rung des tür­kisch-grie­chi­schen Grenz­flus­ses Evros. Er erwähn­te das Boots­un­glück in der Ägä­is im Sep­tem­ber 2012 mit 62 toten Flücht­lin­gen. Der ange­klag­te Flucht­hel­fer hat­te aller­dings weder mit dem Evros-Fluss noch mit dem Boots­un­glück irgend­et­was zu tun. »Sei­ne« syri­schen Flücht­lin­ge lan­de­ten mit dem Flug­zeug sicher in Deutsch­land. Ja, der Ange­klag­te erhielt Geld.

Davon deck­te er über­wie­gend die Kos­ten. Er räum­te ein, dass er die Absicht hat­te, einen Teil der Bezah­lung für sich zu behal­ten. Ob über­haupt ein Über­schuss her­aus­sprang, blieb unklar. »Betriebs­wirt­schaft­li­ches Den­ken« wur­de ihm den­noch in der Urteils­be­grün­dung vor­ge­hal­ten. Der BGH hät­te 1980 an die hohen Kos­ten erin­nert und die Ver­ein­ba­rung wohl nicht für sit­ten­wid­rig gehal­ten. Doch tem­pi pas­sa­ti. Das Unrechts­sys­tem DDR ist weg und mit ihm die huma­ne Recht­spre­chung im Nachfolgestaat.

Fai­re Prei­se, freie Fluchtwege

Die Kul­tur lie­fert Bei­spie­le, wie man das The­ma der Flucht­hil­fe abseits poli­ti­scher Instru­men­ta­li­sie­rung behan­deln kann. Schau­en Sie sich den Film Casa­blan­ca an, lösen Sie sich einen Moment von der Lie­bes­ge­schich­te, und Sie sehen eine Flucht­hil­fe­ge­schich­te. Lesen Sie Eric Amblers »Schmut­zi­ge Geschich­te« aus dem Jahr 1967, in dem die Haupt­per­son am Ende ihre Lebens­auf­ga­be dar­in fin­det, für ande­re Men­schen frag­wür­di­ge Päs­se zu einem »fai­ren Preis« zu besor­gen. Ich hof­fe, dass mög­lichst vie­le Men­schen sich und ihre Fami­li­en mit Hil­fe eines ech­ten oder  fal­schen Pas­ses in Sicher­heit brin­gen kön­nen und die Ret­ter dafür nicht mehr bestraft wer­den. Denn in die­ser Welt man­gelt es an gefahr­lo­sen Flucht­we­gen und offe­nen Grenzen.

Um es mit dem Cre­do des geni­als­ten und beschei­dens­ten Doku­men­ten­fäl­schers des 20. Jahr­hun­derts zu sagen, der Flücht­lin­ge aus diver­sen Befrei­ungs­be­we­gun­gen, Opfer der Dik­ta­tur der grie­chi­schen Obris­ten und Fran­cos, Anti-Apart­heid-Akti­vis­ten, Kämp­fer der Resis­tance und ver­folg­te Juden mit Päs­sen und Iden­ti­tä­ten ver­sorgt hat: »Eine Welt, in der nie­mand einen Fäl­scher braucht. Davon träu­me ich immer noch.« (Adol­fo Kaminsky) 

Bernd Meso­vic

Vie­le der hier genann­ten Argu­men­te fin­den sich bereits – lesens­wert – in: For­schungs­ge­sell­schaft Flucht und Migra­ti­on (FFM), »Schleu­ser und Schlep­per – Flucht­hil­fe als Dienst­leis­tung«, abge­druckt in: ak – ana­ly­se und Kri­tik Nr.430/23.9.1999.

 Soli­da­ri­tät mit Micha­el Gen­ner!  (04.02.14)