02.09.2021

In der Coro­na-Pan­de­mie ent­wi­ckel­ten sich Flücht­lings­un­ter­künf­te wegen räum­li­cher Enge und kaum mög­li­cher sozia­ler Distan­zie­rung vie­ler­orts zu Hot­spots mit dyna­mi­schen Infek­ti­ons­ge­sche­hen. Dr. Niko­lai Huke von der Chris­ti­an-Albrechts-Uni­ver­si­tät zu Kiel (CAU) ist im For­schungs­pro­jekt „Gefähr­de­tes Leben. All­tag und Pro­test in Flücht­lings­un­ter­künf­ten im Zuge der Coro­na-Pan­de­mie“ der Fra­ge nach­ge­gan­gen, wie sich dadurch der All­tag von Asyl­su­chen­den verändert. 

Ergeb­nis­se des Pro­jekts wer­den in einer von PRO ASYL her­aus­ge­ge­be­nen Stu­die ver­öf­fent­licht. Inter­view­aus­schnit­te spie­geln das per­sön­li­che Erle­ben der Betrof­fe­nen wider. „Die von mir geführ­ten Inter­views zeich­nen ein in vie­ler­lei Hin­sicht erschre­cken­des Bild vom All­tag in Flücht­lings­un­ter­künf­ten wäh­rend der Pan­de­mie“, stellt Dr. Niko­lai Huke fest. „Sie zei­gen einer­seits grund­sätz­li­che Pro­ble­me des Unter­brin­gungs­sys­tems auf: Ras­sis­mus, unzu­rei­chen­de medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung, Lärm­be­las­tung, feh­len­de Pri­vat­sphä­re oder Security-Gewalt.

Ande­rer­seits ver­deut­li­chen sie, wie die Coro­na-Pan­de­mie in vie­len Berei­chen pro­blem­ver­schär­fend wirk­te. So schil­der­ten die Befrag­ten, dass sie sich durch Mehr­bett­zim­mer und geteil­te Räum­lich­kei­ten wie Spei­se­sä­le kaum durch sozia­le Distan­zie­rung vor einer Infek­ti­on schüt­zen konn­ten. Vie­ler­orts fehl­ten Mas­ken, Sei­fe oder Des­in­fek­ti­ons­mit­tel. „Mehr­wö­chi­ge Qua­ran­tä­nen waren nicht nur psy­chisch belas­tend, son­dern erhöh­ten – durch wei­ter­hin enge Kon­tak­te der Bewohner*innen unter­ein­an­der – in eini­gen Fäl­len auch die Infek­ti­ons­ge­fahr. Sozi­al­ma­nage­ment und Behör­den waren teil­wei­se nur noch begrenzt erreichbar.“

Gewalt­er­fah­run­gen und gesell­schaft­li­ches Desinteresse

„Vie­le der von mir Inter­view­ten hat­ten das Gefühl, mit ihren Erfah­run­gen in der Öffent­lich­keit kein Gehör zu fin­den. Sie hat­ten daher ein gro­ßes Bedürf­nis, von den Pro­ble­men, denen sie im All­tag gegen­über­ste­hen, zu erzäh­len“, führt Huke wei­ter aus.  „Teil­wei­se haben sie in den Inter­views von extre­men Belas­tungs­er­fah­run­gen erzählt, über die sie jen­seits ihres unmit­tel­ba­ren Umfelds noch kaum gespro­chen hat­ten, etwa am eige­nen Kör­per erleb­te Secu­ri­ty-Gewalt. Wich­tig war es dafür, dass die Befrag­ten in einer Spra­che spre­chen konn­ten, in der sie kei­ne Hem­mun­gen oder Schwie­rig­kei­ten hat­ten, zu erzäh­len. Ich habe daher die Inter­views – je nach Mut­ter­spra­che und Deutsch­kennt­nis­sen der Inter­view­ten – auf Deutsch, Eng­lisch, Fran­zö­sisch oder – mit Sprach­mitt­lung – auf Far­si geführt. Da mir wich­tig ist, dass die Erfah­run­gen der Asyl­su­chen­den in der Öffent­lich­keit eine grö­ße­re Auf­merk­sam­keit erhal­ten, freue ich mich sehr, dass PRO ASYL sich bereit erklärt hat, Ergeb­nis­se der For­schung in Form der vor­lie­gen­den Stu­die zu veröffentlichen.“

Auch PRO ASYL begrüßt die Zusam­men­ar­beit mit dem Wis­sen­schaft­ler der Uni­ver­si­tät Kiel. „Die vor­lie­gen­de Stu­die lässt die Betrof­fe­nen aus­führ­lich zu Wort kom­men. Dies ist auch des­halb ein wich­ti­ger Bei­trag, weil der Zivil­ge­sell­schaft der unge­hin­der­te Zugang in die Erst­auf­nah­me­la­ger und damit ein kri­ti­scher Blick auf deren inne­re Ver­hält­nis­se man­cher­orts ver­wehrt wird“, stellt die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on im Vor­wort der Stu­die fest.

„Die Äuße­run­gen der Bewohner*innen in der Stu­die zei­gen, dass die struk­tu­rel­len Bedin­gun­gen in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen und ande­ren Mas­sen­un­ter­künf­ten für die Bewohner*innen eine üble Zumu­tung und für ihre gesell­schaft­li­che Par­ti­zi­pa­ti­on kon­tra­pro­duk­tiv sind“, betont Andrea Kothen von PRO ASYL. „Sie bestä­ti­gen ein­mal mehr die Kri­tik, die wir gemein­sam mit vie­len ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen an den AnKER­zen­tren haben. Die Lager gehö­ren abge­schafft, wir brau­chen eine neue Aufnahmepolitik.“

Was sich ändern muss – Handlungsempfehlungen

Basie­rend auf den Ergeb­nis­sen der Inter­views spricht die Stu­die fol­gen­de Hand­lungs­emp­feh­lun­gen aus:

•  Der Woh­nungs­un­ter­brin­gung von Geflüch­te­ten soll­te Vor­rang gegen­über der Unter­brin­gung in Sam­mel­un­ter­künf­ten haben.

•  Der Zugang zur regu­lä­ren Gesund­heits­ver­sor­gung in Form der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung soll­te unmit­tel­bar ab der Ankunft in Deutsch­land sicher­ge­stellt sein.

•  Um fai­re Asyl­ver­fah­ren sicher­zu­stel­len, brau­chen die Betrof­fe­nen vor der Anhö­rung aus­rei­chend Ruhe, einen siche­ren Ort und eine unab­hän­gi­ge, par­tei­li­che Asylverfahrensberatung.

•  Um Gewalt­schutz in den Unter­künf­ten sicher­zu­stel­len, sind recht­lich ver­bind­li­che und effek­ti­ve Schutz­kon­zep­te notwendig.

•  Über­grei­fend muss es dar­um gehen, Selbst­be­stim­mungs­rech­te der Asyl­su­chen­den zu stär­ken und einen men­schen­wür­di­gen Umgang sicherzustellen.

Zum Hin­ter­grund:

Dr. Niko­lai Huke, Wis­sen­schaft­ler vom Insti­tut für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, führ­te 16 pro­blem­zen­trier­te qua­li­ta­ti­ve Inter­views mit Asyl­su­chen­den, die wäh­rend der ers­ten und zwei­ten Wel­le der Pan­de­mie in Flücht­lings­un­ter­künf­ten leb­ten. Im Mit­tel­punkt des For­schungs­pro­jekts stand die Fra­ge, wel­che For­men von poli­ti­schem Pro­test gegen die Unter­brin­gungs­be­din­gun­gen im Zuge der Coro­na-Pan­de­mie ent­ste­hen. Hier­für wur­den über eine Medi­en­ana­ly­se Unter­künf­te iden­ti­fi­ziert, in denen es zu öffent­lich sicht­ba­ren Pro­tes­ten kam. Für die­se Unter­künf­te wur­de über das Sozi­al­ma­nage­ment oder zivil­ge­sell­schaft­li­che Unterstützer*innen ein Kon­takt zu Bewohner*innen für die Inter­views her­ge­stellt. Die Inter­views wur­den auf­grund der Pan­de­mie tele­fo­nisch oder per Video­kon­fe­renz geführt.

Die Stu­die „Bedeu­tet unser Leben nichts?“, Erfah­run­gen von Asyl­su­chen­den in Flücht­lings­un­ter­künf­ten wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie in Deutsch­land, ist auf der Sei­te von PRO ASYL als PDF ver­füg­bar.

Pres­se­fra­gen an: 

presse@proasyl.de, Tel.: 069 – 24231430

Dr. Niko­lai Huke
Insti­tut für Sozialwissenschaften
E‑Mail: nhuke@politik.uni-kiel.de; Tele­fon: +49(0)1578–7414416

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