10.03.2022

PRO ASYL, der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen und Rechts­an­walt Peter Fahl­busch begrü­ßen, dass der Euro­päi­sche Gerichts­hof in sei­nem heu­ti­gen Urteil erst­ma­lig Leit­plan­ken vor­ge­ge­ben hat für die Unter­brin­gung von Men­schen, die abge­scho­ben wer­den sol­len. Die Bun­des­re­gie­rung muss Kon­se­quen­zen zie­hen. Die Bun­des­län­der sind gefor­dert, ihre Haft­an­stal­ten zu über­prü­fen und zum Teil umzubauen.

Die Luxem­bur­ger Rich­ter sind heu­te zu dem Ergeb­nis gelangt, dass bei der Inhaf­tie­rung von Men­schen zum Zwe­cke der Abschie­bung Min­dest­stan­dards zu beach­ten sind. So dür­fen Abschie­be­häft­lin­ge nicht in Gefäng­nis-ähn­li­chen Ein­rich­tun­gen unter­ge­bracht wer­den. Soll­ten sie auf­grund man­geln­der Kapa­zi­tä­ten in eine Haft­an­stalt ein­ge­sperrt wer­den, auf deren Gelän­de sich auch Straf­ge­fan­ge­ne befin­den, so muss vor­ab vom Haft­rich­ter über­prüft wer­den, ob tat­säch­lich eine unvor­her­seh­ba­re Not­la­ge vor­liegt, die das nötig macht. Anders als von der Bun­des­re­gie­rung vor drei Jah­ren mit dem „Geord­ne­te-Rück­kehr-Gesetz“ beschlos­sen, ist dies vor­ab zu prü­fen. Der EuGH macht nun klar: Deutsch­land darf nicht pau­schal eine Not­la­ge ver­kün­den und Abschie­be­häft­lin­ge des­halb mit Straf­tä­tern zusam­men ein­sper­ren. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Bun­des­re­gie­rung gibt es hier also kei­nen jus­tiz­frei­en Raum!

Rechts­an­walt Peter Fahl­busch von der Kanz­lei LSFW in Han­no­ver, der das Ver­fah­ren vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof führt, PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen for­dern die Bun­des­re­gie­rung auf, dafür zu sor­gen, dass § 62a Absatz 1 Auf­ent­halts­ge­setz nun infol­ge des Urteils ent­spre­chend geän­dert wird. Die im Som­mer 2019 ein­ge­führ­te Rege­lung, die es erlaubt, Abschie­bungs­ge­fan­ge­ne bis 30. Juni 2022 zusam­men mit Straf­ge­fan­ge­nen in ein- und der­sel­ben Ein­rich­tung unter­zu­brin­gen, muss nach der heu­ti­gen Ent­schei­dung unver­züg­lich aus­ge­setzt werden.

Geflüch­te­te, die kei­ne kri­mi­nel­le Tat began­gen haben, dür­fen nicht hin­ter meter­ho­hen Gefäng­nis­mau­ern verschwinden

Im kon­kre­ten Fall, über den der EuGH ent­schied, hat­te sich ein Mann aus Paki­stan, gegen den Abschie­bungs­haft ange­ord­net wor­den war, mit einer Beschwer­de gegen sei­ne meh­re­re Wochen dau­ern­de Unter­brin­gung in der Haft­an­stalt Han­no­ver an das dor­ti­ge Amts­ge­richt gewandt. Er war in einem Gefäng­nis unter­ge­bracht, das zwar für Abschie­be­häft­lin­ge vor­ge­se­hen war, in dem aber im frag­li­chen Zeit­punkt auch Straf­ge­fan­ge­ne waren. In die­sem Fall spielt der EuGH den Ball an die Bun­des­re­pu­blik zurück. Aber: „Das Urteil ist ein Appell an die Lan­des­re­gie­run­gen, sich bestehen­de Haft­ein­rich­tun­gen genau anzu­se­hen und die­se gege­be­nen­falls umzu­bau­en“, sagt Rechts­an­walt Fahl­busch. Peter von Auer, rechts­po­li­ti­scher Refe­rent bei PRO ASYL, kom­men­tiert: „Haft­an­stal­ten wie die im baye­ri­schen Hof oder in Glück­stadt in Schles­wig-Hol­stein sind von meter­ho­hen, sta­chel­draht-bewehr­ten Mau­ern umge­ben und haben damit ein­deu­tig den Cha­rak­ter eines Gefäng­nis­ses. Der EuGH hat klar gemacht, dass Abschie­be­häft­lin­ge dort nicht ein­ge­sperrt wer­den dür­fen. Denn es geht hier um Per­so­nen, die sich nichts haben zu Schul­den kom­men las­sen, son­dern ledig­lich aus­rei­se­pflich­tig sind. Die­se Men­schen sind kei­ne Kri­mi­nel­len und soll­ten auch nicht so behan­delt werden.“

Muz­af­fer Öztür­ky­il­maz vom Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen ergänzt: „Zudem müs­sen jetzt alle Bun­des­län­der eige­ne Geset­ze erlas­sen, die die Rech­te der Abschie­be­häft­lin­ge regeln und sich klar unter­schei­den von denen zum Straf­voll­zug. Auch das Land Nie­der­sach­sen darf nicht so wei­ter machen wie bis­her. Ohne eine sol­che Rege­lung ist eine Inhaf­tie­rung rechts­wid­rig.“ Das trifft ins­be­son­de­re auch auf Bay­ern zu, das in der Abschie­be­po­li­tik beson­ders restrik­tiv vorgeht.

Anwalt: Die Hälf­te aller Men­schen in Abschie­be­haft zu Unrecht inhaftiert

Rechts­an­walt Fahl­busch weist dar­auf hin, dass wei­ter­ge­hen­de Ver­än­de­run­gen nötig sind. „Die gegen­wär­ti­ge Pra­xis, Betrof­fe­ne ohne anwalt­li­che Unter­stüt­zung teil­wei­se mona­te­lang ein­zu­sper­ren, nur um sie von A nach B zu ver­brin­gen, ist eines Rechts­staats unwür­dig und muss drin­gend geän­dert wer­den.“ Nicht alles, aber vie­les wür­de bes­ser, wenn die Gefan­ge­nen vom Tag der Fest­nah­me an einen Pflicht­an­walt zur Sei­te gestellt bekä­men. Die Ampel-Koali­ti­on hat sich vor­ge­nom­men, Kin­der und Jugend­li­che nicht mehr in Abschie­bungs­haft zu neh­men. Das heu­ti­ge Urteil macht erneut deut­lich, dass das nicht ausreicht.

Seit 2001 hat Rechts­an­walt Fahl­busch bun­des­weit 2.215 Men­schen in Abschie­bungs­haft­ver­fah­ren ver­tre­ten. Er stellt regel­mä­ßig eige­ne Berech­nun­gen auf, weil es kei­ne offi­zi­el­len Zah­len gibt. In den Fäl­len des Anwalts wur­den 1.164 die­ser Men­schen (das heißt 52,6 %) laut den vor­lie­gen­den rechts­kräf­ti­gen Ent­schei­dun­gen rechts­wid­rig inhaf­tiert (man­che „nur“ einen Tag, ande­re mona­te­lang). Zusam­men­ge­zählt kom­men auf die 1.164 Gefan­ge­nen 30.507 rechts­wid­ri­ge Haft­ta­ge, das sind gut 83 Jah­re rechts­wid­ri­ge Haft (Stand: 8.3.2022). „Im Durch­schnitt befand sich jeder Man­dant knapp vier Wochen zu Unrecht in Haft. Das ist ein hand­fes­ter Skan­dal, der uns alle nach­denk­lich machen soll­te“, sagt Fahl­busch, der bis auf Wei­te­res ein sofor­ti­ges Haft­mo­ra­to­ri­um fordert.

Hin­ter­grund:

In Abschie­bungs­haft kommt nur jemand, der aus­rei­se­pflich­tig ist und bei dem die Sor­ge einer Flucht­ge­fahr besteht. Das bie­tet viel Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum. Ob Flucht­ge­fahr ver­mu­tet wird oder nicht, ist sehr sub­jek­tiv und hängt auch mit den per­sön­li­chen und poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen der­je­ni­gen Mitarbeiter*innen in der Aus­län­der­be­hör­de oder im Regie­rungs­prä­si­di­um zusam­men, die das ent­schei­den. Obwohl nur Men­schen in Abschie­bungs­haft fest­ge­hal­ten wer­den dür­fen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie unter­tau­chen, lan­den auch Alte, Kran­ke, Schwan­ge­re oder Müt­ter mit Klein­kin­dern in Abschiebegefängnissen.

Das Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­ren dient dazu, es natio­na­len Gerich­ten zu ermög­li­chen, dem EuGH Fra­gen bezüg­lich der Aus­le­gung und Gül­tig­keit von Euro­pa­recht vor­zu­le­gen. Das vor­le­gen­de Gericht und alle fol­gen­den Instan­zen sind an die Ent­schei­dung des EuGH gebunden.

PRO ASYL hat das Gerichts­ver­fah­ren über sei­nen Rechts­hil­fe­fonds unter­stützt. Zum Hin­ter­grund sie­he hier; ein Inter­view mit RA Fahl­busch zur Abschie­be­haft lesen Sie hier.

Für Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen und Inter­views ste­hen Ihnen zur Verfügung:

PRO ASYL: Peter von Auer, presse@proasyl.de; Tel.: 069 2423 1430
RA Peter Fahl­busch: fahlbusch@lsfw.de; Tel.: 0511 600 60 30
Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen, Muz­af­fer Öztür­ky­il­maz: moy@nds-fluerat.org; Tel.: 0511 98 24 60 38

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