10.06.2021

Der Euro­päi­sche Gerichts­hof hat heu­te über die Vor­aus­set­zun­gen zur Gewäh­rung sub­si­diä­ren Schut­zes ent­schie­den. Für Geflüch­te­te, ins­be­son­de­re aus Afgha­ni­stan, ist das Urteil aus Luxem­burg ein wich­ti­ges Hoffnungszeichen 

Die Richter*innen des Euro­päi­schen Gerichts­hofs (EuGH) haben heu­te in einem Urteil fest­ge­stellt: Allein das Ver­hält­nis von zivi­len Opfern zur Gesamt­be­völ­ke­rung im Her­kunfts­land eines Geflüch­te­ten kann kein ent­schei­den­der Aus­gangs­punkt sein, um ihm einen Schutz­sta­tus zuzu­er­ken­nen oder ihm abzu­spre­chen, dass er Schutz benö­tigt. Es bedarf viel­mehr einer quan­ti­ta­ti­ven als auch qua­li­ta­ti­ven Gesamt­wür­di­gung der Umstände.

Bei der Fest­stel­lung einer »ernst­haf­ten indi­vi­du­el­len Bedro­hung« sei die Zahl der zivi­len Opfer im Ver­hält­nis zur Gesamt­zahl der Bevöl­ke­rung des betref­fen­den Gebiets im Rah­men eines bewaff­ne­ten Kon­flikts nicht mehr Aus­gang­ba­sis, son­dern nur noch ein Kri­te­ri­um unter vie­len wei­te­ren. Der Begriff »ernst­haf­te indi­vi­du­el­le Bedro­hung« des Lebens oder der Unver­sehrt­heit der Per­son, die sub­si­diä­ren Schutz bean­tragt, ist dem­nach weit aus­zu­le­gen. Daher sei eine umfas­sen­de Berück­sich­ti­gung aller rele­van­ten Umstän­de des Ein­zel­falls, ins­be­son­de­re der­je­ni­gen, die die Situa­ti­on des Her­kunfts­lands des Antrag­stel­lers kenn­zeich­nen, erfor­der­lich. Hier­zu zäh­len bei­spiels­wei­se die Inten­si­tät der bewaff­ne­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen, der Orga­ni­sa­ti­ons­grad der betei­lig­ten Streit­kräf­te und die Dau­er des Kon­flikts. Außer­dem kön­nen das geo­gra­fi­sche Aus­maß der Lage will­kür­li­cher Gewalt, der tat­säch­li­che Ziel­ort Schutz­su­chen­der im Fal­le einer gedach­ten Rück­kehr und die Aggres­si­on der Kon­flikt­par­tei­en gegen Zivil­per­so­nen eine Rol­le spielen.

Ins­be­son­de­re afgha­ni­sche Geflüch­te­te aus stark umkämpf­ten Pro­vin­zen kön­nen vor dem Hin­ter­grund der Ent­schei­dung des EuGH nun dar­auf hof­fen, künf­tig sub­si­diä­ren Schutz gewährt zu bekom­men. „Die bis­he­ri­ge Recht­spre­chung in Deutsch­land ist der tat­säch­li­chen Situa­ti­on in Afgha­ni­stan nie gerecht gewor­den. Dies muss sich jetzt nach dem EuGH-Urteil ändern – erst recht vor dem Hin­ter­grund der sich wei­ter zuspit­zen­den Sicher­heits­la­ge am Hin­du­kusch“, sagt Peter von Auer, Recht­po­li­ti­scher Refe­rent von  PRO ASYL.

Mit dem Urteil ist der Ansatz, der eine »ernst­haf­te indi­vi­du­el­le Bedro­hung« davon abhän­gig macht, ob das Ver­hält­nis der Zahl zivi­ler Opfer zur Gesamt­zahl der Bevöl­ke­rung des betref­fen­den Gebiets eine bestimm­te Schwel­le erreicht, nicht mit der EU-Richt­li­nie 2011/95 (= Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie) vereinbar.

Das Urteil des EuGH bedeu­tet eine zu voll­zie­hen­de Kehrt­wen­de für die Rechts­pra­xis der Bun­des­re­pu­blik. Denn das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt ist in sei­nen bis­he­ri­gen Urtei­len von einem rein quan­ti­ta­ti­ven Ansatz aus­ge­gan­gen, der als „body count“ bezeich­net wer­den kann: Aus­gangs­ba­sis ist hier­bei, wie vie­le zivi­le Opfer es im Ver­hält­nis zur Bevöl­ke­rung in einer Kon­flikt­re­gi­on gibt. Wird dabei eine Min­dest­schwel­le nicht erreicht, ist nach Auf­fas­sung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts die Gewäh­rung von sub­si­diä­rem Schutz von vorn­her­ein aus­ge­schlos­sen. Ande­re Fak­to­ren, die einen bewaff­ne­ten Kon­flikt neben der Zahl der Opfer so gefähr­lich machen könn­ten, dass die Vor­aus­set­zun­gen für die Zuer­ken­nung eines Schutz­sta­tus gege­ben wären, kön­nen dann gar nicht berück­sich­tigt wer­den. Dabei hat das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt den zugrun­de zule­gen­den Min­dest­wert nie exakt beziffert.

Der Gerichts­hof hat sich mit sei­nem heu­ti­gen Urteil ein­mal mehr als wah­rer „Hüter der euro­päi­schen Ver­trä­ge“ posi­tio­niert – eine Rol­le, die eigent­lich der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on zukommt. Doch wäh­rend die­se die Asyl- und Flücht­lings­po­li­tik immer wei­ter ver­schärft, gemein­sam mit EU-Mit­glied­staa­ten wie Däne­mark und Grie­chen­land, ver­tei­digt der EuGH die grund­le­gen­den Flücht­lings- und Men­schen­rech­te. Nun muss auch Deutsch­land sei­ne Rechts­pra­xis ändern, denn die Urtei­le des EuGH sind für alle natio­na­len Gerich­te recht­lich bindend.

Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen aus Baden-Württemberg

Grund für die EuGH-Ent­schei­dung war ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen des Ver­wal­tungs­ge­richts­hofs Baden-Würt­tem­berg aus dem Jahr 2019. Die­ser muss­te über die Kla­gen auf sub­si­diä­ren Schutz von zwei afgha­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen ent­schei­den. Nach dem „body-count-Ansatz“ ist die Gewäh­rung von sub­si­diä­rem Schutz auch für Afghan*innen aus­ge­schlos­sen. Weil der Ver­wal­tungs­ge­richts­hof im kon­kre­ten Fall anzwei­fel­te, dass der body-count-Ansatz aus­rei­che, hat er den EuGH um Klä­rung gebe­ten. Die­ser hat nun deut­lich gemacht: Die zyni­sche Rech­nung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts – in Afgha­ni­stan stür­ben nicht genug Men­schen, um davon aus­ge­hen zu kön­nen, dass bei­spiels­wei­se die bei­den afgha­ni­schen Klä­ger bei einer Rück­kehr in ihre Hei­mat tat­säch­lich in Gefahr wären – kann so nicht län­ger auf­recht­erhal­ten werden.

Am 11. Febru­ar 2021 hat Gene­ral­an­walt Pri­it Pika­mäe bereits in sei­nen Schluss­an­trä­gen die Ansicht ver­tre­ten, dass eine rein quan­ti­ta­ti­ve Betrach­tung im Sin­ne einer Min­dest­an­zahl an zivi­len Opfern nicht zur Grund­la­ge der Bestim­mung des Vor­lie­gens der Vor­aus­set­zun­gen für Schutz (nach der Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie 2011/95/EU, Art. 15 Buchst. c) gemacht wer­den kann. Die Beur­tei­lung des Bedürf­nis­ses nach inter­na­tio­na­lem Schutz müs­se auch »nicht quan­ti­fi­zier­ba­re Gesichts­punk­te ein­be­zie­hen kön­nen wie z.B. jüngs­te Ent­wick­lun­gen eines bewaff­ne­ten Kon­flikts, die, auch ohne bereits zu einem Anstieg der Opfer­zah­len geführt zu haben, signi­fi­kant genug sind, um die tat­säch­li­che Gefahr eines ernst­haf­ten Scha­dens für die Zivil­be­völ­ke­rung zu begrün­den«. Erfor­der­lich sei eine »sowohl quan­ti­ta­ti­ve als auch qua­li­ta­ti­ve Gesamt­wür­di­gung aller rele­van­ten Tat­sa­chen, die die­sen Kon­flikt kennzeichnen«.

Der EuGH ist in sei­nem heu­ti­gen Urteil der Linie des Gene­ral­an­walts gefolgt.

PRO ASYL-Rechts­exper­te Peter von Auer steht Ihnen für Pres­se­an­fra­gen ger­ne zur Verfügung.

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