27.08.2021

Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on kri­ti­siert, dass der Begriff der Orts­kraft zu eng gefasst ist, und bie­tet einen Über­blick über wei­te­re Grup­pen schutz­be­dürf­ti­ger Afghan*innen, die jetzt schnell eine Schutz­zu­sa­ge brauchen.

PRO ASYL kri­ti­siert die heu­te vom Aus­wär­ti­gen Amt ver­öf­fent­lich­ten Hin­wei­se für deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge und wei­te­re Schutz­be­dürf­ti­ge aus Afgha­ni­stan als völ­lig unzu­rei­chend. Denn sie legen nahe, dass nur die­je­ni­gen Gefähr­de­ten aus der afgha­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft auf Schutz hof­fen dür­fen, die bis jetzt von der Bun­des­re­gie­rung als beson­ders gefähr­det iden­ti­fi­ziert und gelis­tet wor­den sind. Doch längst nicht alle hat­ten die Chan­ce dazu. Tau­sen­de Gefähr­de­te sind zurück­ge­las­sen worden.

„Vie­le Men­schen kön­nen gar nicht auf eine Auf­nah­me­zu­sa­ge hof­fen, weil der Kri­te­ri­en­ka­ta­log der Bun­des­re­gie­rung viel zu eng gefasst ist“, kri­ti­siert Geschäfts­füh­rer Gün­ter Burk­hardt. PRO ASYL for­dert, auch wei­te­ren gefähr­de­ten Per­so­nen die Ein­rei­se nach Deutsch­land zu ermög­li­chen. Über­haupt nicht im Blick ist, dass Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von Men­schen, die in Deutsch­land als Flücht­lin­ge aner­kannt wur­den, in gro­ßer Gefahr sind. Auch sie brau­chend nun drin­gend Auf­nah­me­zu­sa­gen, eben­so wie fol­gen­de Per­so­nen­grup­pen: Journalist*innen, Menschenrechtler*innen, Afghan*innen, die bei Sub­un­ter­neh­men ange­stellt, aber de fac­to für deut­sche Ein­rich­tun­gen tätig waren, und sol­che, die bei der GIZ oder ande­ren deut­schen Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­tio­nen gear­bei­tet haben.

PRO ASYL for­dert vom Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um, den Länderinnenminister*innen und der Bundesregierung:

• Die Fort­set­zung der Eva­ku­ie­rung aus Nachbarstaaten
• Schrift­li­che Auf­nah­me­zu­sa­gen für gefähr­de­te Per­so­nen, die in Afgha­ni­stan festsitzen
• Huma­ni­tä­re Visa für Orts­kräf­te und ande­re gefähr­de­te Per­so­nen nach § 22 Satz 2 AufenthG
• Schnel­len und unbü­ro­kra­ti­schen Fami­li­en­nach­zug zu in Deutsch­land Schutzberechtigten
• Ein Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm für gefähr­de­te Afghan*innen (auch aus Anrai­ner­staa­ten) nach § 23 Abs. 2 Auf­enthG und Zustim­mung für Landeaufnahmeprogramme

Täg­lich gehen bei PRO ASYL ver­zwei­fel­te Hil­fe­ru­fe von gefähr­de­ten Afghan*innen ein, die aus dem Ras­ter fal­len. Hier eine Über­sicht, um wel­che Per­so­nen­grup­pen es sich han­delt, mit bei­spiel­haf­ten Fällen.

Zurück­ge­las­sen: Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge, die nicht zur „Kern­fa­mi­lie“ gehören 

Naji­bull­ah* ist eine ehe­ma­li­ge Orts­kraft und lebt seit vie­len Jah­ren in Deutsch­land. Einem sei­ner Söh­ne wur­de der Fami­li­en­nach­zug vor Jah­ren ver­wei­gert, da er schon voll­jäh­rig war. Er wur­de dar­auf­hin von den Tali­ban als Rache­ak­ti­on ent­führt und gefol­tert, als „Ersatz“ für sei­nen in Deutsch­land leben­dem Vater. Die­sem wur­den Fotos und Vide­os der Gräu­el­ta­ten zuge­schickt. Die Bun­des­re­gie­rung hat es mehr­fach abge­lehnt, die Fami­lie des Gefol­ter­ten ein­rei­sen zu las­sen. Die Begrün­dung: Erwach­se­ne Kin­der zäh­len nicht zur „Kern­fa­mi­lie“ und sind daher vom Fami­li­en­nach­zug ausgenommen. 

So geht es auch der 23-Jäh­ri­gen Sahar*: Im Juli wur­de ihre Fami­lie im Rah­men des Orts­kräf­te­ver­fah­rens nach Deutsch­land aus­ge­flo­gen, da ihr Vater für die Bun­des­wehr gear­bei­tet hat­te. Ihm, sei­ner Frau und drei min­der­jäh­ri­gen Kin­dern wur­de die Ein­rei­se gestat­tet – nicht aber der 23-jäh­ri­gen, ledi­gen Sahar. Sie gehört nicht zur „Kern­fa­mi­lie“. Nun lebt Sahar als jun­ge, unver­hei­ra­te­te Frau ohne Ver­wand­te völ­lig auf sich gestellt in Afgha­ni­stan. Ihr Vater wur­de, nach­dem er vom Sieg der Tali­ban gehört hat­te, infol­ge eines Zusam­men­bruchs ins Kran­ken­haus eingeliefert. 

„Wir wen­den uns in tie­fer Ver­zweif­lung an Euch“, beginnt eine Mail von Hafis*. Er war als Orts­kraft für die Bun­des­wehr in Afgha­ni­stan tätig und lebt seit 2015 in Deutsch­land. Ein Bru­der von ihm hat eben­falls für die Bun­des­wehr gear­bei­tet, er, sei­ne Frau und deren Kin­der wären visa­be­rech­tigt. Ein wei­te­rer Bru­der war für die GIZ tätig. Die gan­ze Fami­lie lebt zusam­men in einem Haus im Nor­den Afgha­ni­stans und wird von den Tali­ban mit dem Tod bedroht. Es gab bereits drei Anschlä­ge, die sie über­lebt haben. „Wir kön­nen uns nicht dar­auf ver­las­sen, dass der vier­te Anschlag auch miss­lin­gen wird“, schreibt uns Hafis. „Wenn mein visa­be­rech­tig­ter Bru­der das Land ver­lässt, lässt er unse­re Mut­ter und unse­re Schwes­tern schutz­los zurück. Wenn er geht, wird es für alle ande­ren noch schlim­mer. Die­se Fami­lie wird in Afgha­ni­stan ster­ben“, lau­tet die ver­zwei­fel­te Nach­richt von Hafis. 

Zurück­ge­las­sen: Beson­ders Schutz­be­dürf­ti­ge, dar­un­ter vie­le expo­nier­te Frauen 

Maryam* war in wich­ti­ger Posi­ti­on im Jus­tiz­we­sen beschäf­tigt und hat Ver­fah­ren gegen die Tali­ban geführt. Die Demo­kra­ti­sie­rung von Afgha­ni­stan hat sie aus vol­ler Über­zeu­gung unter­stützt. Vor drei Wochen ver­schaff­ten sich Tali­ban Zutritt zu ihrem Wohn­haus; ihr Ehe­mann konn­te ihr Ver­steck ver­ber­gen. Die Mut­ter klei­ner Kin­der floh sofort und wech­selt nun jede Nacht zu einer ande­ren Unter­kunft, da die Tali­ban unun­ter­bro­chen alle Häu­ser nach Kol­la­bo­ra­teu­ren durch­su­chen. Ihre Schwes­ter und ihr Schwa­ger leben in Deutsch­land, zu ihnen könn­te sie zie­hen. Zwar hat sie nach Wochen des Ban­gens und Zit­terns eine Auf­nah­me­zu­sa­ge bekom­men, jedoch erst am Abend bevor die Luft­brü­cke ende­te – also zu spät.

Zurück­ge­las­sen: Sub­un­ter­neh­mer, die kei­nen deut­schen Arbeits­ver­trag vor­wei­sen können

Hoch­gra­dig gefähr­det sind auch Afgha­nen wie Adil*. Er arbei­te­te neun Jah­re lang für ein Sicher­heits­un­ter­neh­men und bewach­te eine wich­ti­ge deut­sche Ein­rich­tung. Als Wach­mann war er auf dem Prä­sen­tier­tel­ler, jeder kennt sein Gesicht. Doch weil er nicht direkt von der deut­schen Ein­rich­tung ange­stellt wor­den war, son­dern über ein Sub­un­ter­neh­men, zählt er für die Bun­des­re­gie­rung nicht als Ortskraft.

Zurück­ge­las­sen: Mitarbeiter*innen der Entwicklungszusammenarbeit

PRO ASYL ist der Fall eines Man­nes bekannt, der 11 Jah­re lang in wich­ti­ger Funk­ti­on bei der GIZ ange­stellt war. Hamid* ist um die Fünf­zig, sei­ne Frau sitzt im Roll­stuhl – eine Flucht ist daher schwie­ri­ger als ohne­hin schon und ohne Hil­fe von außen kaum mög­lich. Eine Toch­ter des Paa­res lebt mit ihren Kin­dern in Deutsch­land, sie zit­tert und bangt um ihre Eltern.

Ähn­lich ver­hält es sich mit Moha­med*, der eben­falls in Deutsch­land lebt und sich mit einem Hil­fe­ruf an die Bun­des­re­gie­rung und an PRO ASYL gewandt hat. Sei­ne Schwes­ter ist mit ihrer Fami­lie in aku­ter Gefahr: ihr Mann war zunächst in der deut­schen Ent­wick­lungs­hil­fe tätig und arbei­te­te anschlie­ßend als Kom­man­dant in einem Gefäng­nis, in dem Tali­ban inhaf­tiert waren. Er konn­te unter­tau­chen, doch die Tali­ban durch­such­ten das Haus der Fami­lie bereits drei Mal und dro­hen, die klei­ne Toch­ter mit­zu­neh­men und zu ver­hei­ra­ten, wenn der Vater sich nicht stellt.  Ein Fami­li­en­mit­glied ist bereits geköpft worden.

Zurück­ge­las­sen: Journalist*innen, Menschenrechtler*innen, Demokratie-Aktivist*innen

Omid* ist Jour­na­list und war sowohl für die Bun­des­wehr direkt als auch für ein Medi­en­zen­trum, das die Bevöl­ke­rung über den NATO-Ein­satz auf­klä­ren soll­te, als Kame­ra­mann, Cut­ter sowie Redak­teur tätig. Von Janu­ar 2015 bis zum Abzug der Trup­pen Ende Juni 2021 half er dabei mit, sei­nen Lands­leu­ten den Ein­satz zu ver­mit­teln und dafür zu wer­ben. Zudem steht er in der Öffent­lich­keit – ist aktiv bei Twit­ter, posi­tio­nier­te sich in sei­nen Video­bei­trä­gen gegen die Tali­ban und gab deut­schen Medi­en Inter­views. In sei­ner Hei­mat fühl­te er sich auf­grund der näher­rü­cken­den Extre­mis­ten nicht mehr sicher und floh nach Kabul. Sei­ne Frau, sei­ne Kin­der und sei­ne Eltern ließ er zurück – in der Hoff­nung, ihnen wer­de nichts gesche­hen, wenn er untertaucht. 

*Alle Namen wur­den aus Schutz­grün­den geändert

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