09.06.2023

Mit Zustim­mung von Nan­cy Fae­ser und Befür­wor­tung durch die grü­ne Außen­mi­nis­te­rin Baer­bock und den libe­ra­len Jus­tiz­mi­nis­ter Busch­mann haben die Innenminister*innen der EU einen Fron­tal­an­griff auf den Rechts­staat und das Flücht­lings­recht gestar­tet.  PRO ASYL wirft ins­be­son­de­re Fae­ser und Baer­bock vor, das men­schen­recht­li­che Desas­ter schön zu reden.

Es ist eine Fehl­in­for­ma­ti­on, dass Geflüch­te­te aus Afgha­ni­stan und Syri­en nicht in das Grenz­ver­fah­ren kom­men. Auch für die­se Grup­pen wird abseh­bar zum Bei­spiel in Grie­chen­land in den ver­pflich­ten­den Grenz­ver­fah­ren unter haft­ähn­li­chen Bedin­gun­gen zuerst die Zuläs­sig­keit eines Asyl­an­tra­ges geprüft. Die mas­siv ver­wäs­ser­ten Kri­te­ri­en für angeb­lich siche­re Dritt­staa­ten öff­nen Tür und Tor, um sich der Schutz­su­chen­den auf schein­leg­a­le Wei­se zu ent­le­di­gen. Selbst Fami­li­en mit Kin­dern wer­den künf­tig an Euro­pas Gren­zen in Haft­la­gern hin­ter Sta­chel­draht lan­den – nicht ein­mal die­se oft beschwo­re­ne rote Linie hielt die Bun­des­re­gie­rung Medi­en­be­rich­ten zufol­ge ein.

„Wenn Geflüch­te­te in Grenz­ver­fah­ren weg­ge­sperrt wer­den, um sie in unsi­che­re Dritt­staa­ten abzu­schie­ben, dann hat das mit Men­schen­rech­ten und Rechts­staat­lich­keit nichts mehr zu tun“, sagt PRO ASYL-Spre­cher Karl Kopp.

Und die viel zitier­te Soli­da­ri­tät unter den Mit­glieds­staa­ten sieht so aus: Wer kei­ne Flücht­lin­ge auf­neh­men möch­te, muss das auch wei­ter­hin nicht tun. Die­se Län­der kön­nen statt­des­sen finan­zi­el­le Zah­lun­gen leis­ten – zum Bei­spiel an die soge­nann­te liby­sche Küs­ten­wa­che zur Flüchtlingsabwehr.

Die Ori­gi­nal­tex­te inklu­si­ve der Anne­xe, die ges­tern beim Rat für Inne­res der EU beschlos­sen wur­den, sind immer noch nicht ver­öf­fent­licht. PRO ASYL for­dert die sofor­ti­ge Veröffentlichung.

PRO ASYL befürch­tet, dass letz­te men­schen­recht­li­che Beden­ken der Bun­des­re­gie­rung fal­len gelas­sen wur­den und Fae­ser und Baer­bock, wis­sent­lich oder unwis­sent­lich, bar jeder Grund­la­ge die Rea­li­tät schön färben.

Die von Fae­ser auf­ge­stell­te Behaup­tung, dass syri­sche und afgha­ni­sche Flücht­lin­ge nicht in das Grenz­ver­fah­ren kom­men, ist sach­lich falsch. Neben der ver­pflich­ten­den Anwen­dung der Grenz­ver­fah­ren für Asyl­su­chen­de aus Her­kunfts­staa­ten mit einer Schutz­quo­te von unter 20 Pro­zent sowie Schutz­su­chen­den, denen vor­ge­wor­fen wird, zum Bei­spiel Aus­weis­do­ku­men­te zer­stört zu haben, steht es den Mit­glied­staa­ten offen, die Grenz­ver­fah­ren auch auf jene Schutz­su­chen­den anzu­wen­den, die zum Bei­spiel über einen „siche­ren Dritt­staat“ flie­hen. Alle Ankom­men­den wer­den bereits jetzt im EU-Modell-Pro­jekt in Grie­chen­land einer Zuläs­sig­keits­prü­fung unter­wor­fen. Selbst Fami­li­en mit Kin­dern, die aus Syri­en oder Afgha­ni­stan stam­men, sind davon betrof­fen. Die­se Pra­xis soll nun zur euro­päi­schen Norm werden.

PRO ASYL hat die nach und nach bekannt wer­den­den Zwi­schen­er­geb­nis­se der Ver­hand­lun­gen ana­ly­siert und legt in einer ers­ten Reak­ti­on den Schwer­punkt auf die Grenz­ver­fah­ren und die Aus­la­ge­rung in Drittstaaten

Grenz­ver­fah­ren sind kei­ne schnel­len Asyl­ver­fah­ren an der Gren­ze. In jedem Asyl­ver­fah­ren – auch in den dis­ku­tier­ten Grenz­ver­fah­ren – wird zual­ler­erst ent­schie­den, ob ein Asyl­an­trag zuläs­sig ist. Wer über einen angeb­lich siche­ren Dritt­staat kommt, wird zurück­ge­wie­sen. Und das gilt auch für Kin­der und ihre Fami­li­en. Und weil die EU aktu­ell nicht von funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tien mit guten Schutz­sys­te­men umge­ben ist, sol­len die Kri­te­ri­en gesenkt wer­den, damit unsi­che­re Staa­ten für sicher erklärt wer­den kön­nen.  Das Kri­te­ri­um, wann ein drit­ter Staat als sicher gilt, soll so auf­ge­weicht wer­den, dass angeb­lich siche­re Teil­ge­bie­te aus­rei­chen, um Men­schen in das Land abzuschieben.
„The desi­gna­ti­on of a third coun­try as a safe third coun­try both at Uni­on and both at Uni­on and at natio­nal level may be made with excep­ti­ons for spe­ci­fic parts of its ter­ri­to­ry or cle­ar­ly iden­ti­fia­ble cate­go­ries of per­sons.“ (Arti­kel 45 Absatz 1a AVVO)
Mit­glied­staa­ten sol­len bei der natio­na­len Bestim­mung von „siche­ren Dritt­staa­ten“ auch nur Tei­le eines Staa­tes als sicher erklärt kön­nen. Eine euro­päi­sche Norm, die dies ver­hin­dert, gibt es dann nicht mehr. Die Jus­tiz als drit­te Gewalt wird damit ent­schei­dend geschwächt. Bis­her haben euro­päi­sche Gerich­te regel­mä­ßig Ver­stö­ße gegen Euro­päi­sches Recht gerügt.

Noch unklar ist, wie das Kri­te­ri­um for­mu­liert ist, nach dem ein Gebiets­kon­takt des Schutz­su­chen­den zu die­sem Staat noch nötig sein soll. Groß­bri­tan­ni­ens Ruan­da-Modell könn­te nur schein­bar vom Tisch sein.

Vie­le Mit­glieds­staa­ten haben gefor­dert, dass noch nicht ein­mal eine Ver­bin­dung der Schutz­su­chen­den zu die­sem Staat, in den sie abge­scho­ben wer­den sol­len, bestehen müs­se. In der letz­ten Stun­de der Ver­hand­lun­gen am Don­ners­tag wur­den Ver­ab­re­dun­gen getrof­fen, die für den Schutz ent­schei­dend sein wer­den – die aber noch nicht bekannt sind. Äuße­run­gen in der Pres­se­kon­fe­renz wei­sen dar­auf hin, dass auch hier die Mit­glied­staa­ten selbst dar­über ent­schei­den kön­nen, ob sie eine sol­che Ver­bin­dung vor­aus­set­zen. Damit wäre der Weg zum Bei­spiel für einen Öster­reich-Ruan­da-Deal geebnet.

PRO ASYL for­dert: Die Beschlüs­se müs­sen gera­de an die­ser Stel­le umge­hend öffent­lich gemacht wer­den. Die Bedeu­tung wird an den Zwi­schen­stän­den deutlich.

Stand 17. Mai:  „Mem­ber Sta­tes may under natio­nal law pro­vi­de for rules requi­ring a con­nec­tion bet­ween the appli­cant and the third coun­try con­cer­ned on the basis of which it would be reasonable for that per­son to go to that coun­try.“ (Arti­kel 45 Absatz 2 AVVO)
Stand 6. Juni: The con­cept of safe third coun­try may only be appli­ed pro­vi­ded that:
b) the­re is a con­nec­tion bet­ween the appli­cant and the third coun­try in ques­ti­on on the basis of which it would be reasonable for that per­son him or her to go to that coun­try, inclu­ding becau­se the appli­cant has tran­sit­ed through that third coun­try, or if the­re is no such con­nec­tion, the appli­cant cons­ents to go there;

Hier­zu haben aber meh­re­re Mit­glied­staa­ten gesagt, dass das für sie nicht akzep­ta­bel ist. Für die Strei­chung des ver­pflich­ten­den Ver­bin­dungs­ele­ments und für min­des­tens eine Rück­kehr zum vor­he­ri­gen Kom­pro­miss­vor­schlag der Prä­si­dent­schaft  spra­chen sich AUT, CZE, NLD, GRC, HUN, POL, LTU (ein­zi­ger offe­ner Punkt), LVA, GRC, MLT, CYP, ITA, DNK aus. Sie­he Bericht vom Aus­schus­ses der Stän­di­gen Ver­tre­ter (AstV) vom 6. Juni: https://fragdenstaat.de/dokumente/238445–2899-astv-2-am-05–06-2023-fortsetzung-vorbereitung-ji-rat-am‑8–9‑juni-2023/

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