23.10.2018

PRO ASYL kri­ti­siert Zah­len­de­bat­te und poli­ti­sche Reak­tio­nen als absurd

PRO ASYL kri­ti­siert die Debat­te um Zurück­wei­sung von Asyl­su­chen­den an Deutsch­lands Gren­zen als absurd. Die Öffent­lich­keit und die Oppo­si­ti­on gehen fälsch­li­cher­wei­se von mini­ma­len Zah­len aus. PRO ASYL sieht die Gefahr eines Umbaus des Rechts­staats, der zunächst über ein­zel­ne Ein­zel­fäl­le erfolgt. Struk­tu­rell soll der Rechts­staat aus­ge­he­belt wer­den und ver­bind­li­ches Euro­pa­recht umgan­gen wer­den. Es ist inak­zep­ta­bel, dass die Bun­des­po­li­zei ermäch­tigt wird, an der deut­schen Gren­ze Asyl­su­chen­de zu packen, um sie nach Grie­chen­land zu ver­frach­ten, ohne dass eine sorg­fäl­ti­ge Prü­fung durch das Bun­des­amt erfolgt, ob dort ein rechts­staat­li­ches Ver­fah­ren in men­schen­wür­di­gen Ver­hält­nis­sen gege­ben ist.

Als »Umge­hung rechts­staat­li­cher Ver­fah­rens­ga­ran­tien« bezeich­net PRO ASYL-Geschäfts­füh­rer Gün­ter Burk­hardt die Abschie­bun­gen ohne die Mög­lich­keit effek­ti­ven Rechts­schut­zes: »Das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um (BMI) berei­tet ein Par­al­lel­sys­tem unter Aus­schal­tung rechts­staat­li­cher Garan­tien vor und poli­tisch wird von »Schein­de­bat­te« gere­det oder sogar die zu gerin­gen Rück­füh­rungs­zah­len kri­ti­siert, die »selbst hin­ter pes­si­mis­ti­schen Pro­gno­sen zurück­blie­ben« (Lisch­ka, SPD)«.

PRO ASYL weist dar­auf hin, dass das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und vie­le deut­sche Gerich­te Über­stel­lun­gen von Asyl­su­chen­den oder bereits Aner­kann­ten nach Grie­chen­land gestoppt haben. Die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK) und die Dub­lin-Ver­ord­nung ver­lan­gen ent­spre­chend der Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te eine sorg­fäl­ti­ge Ein­zel­fall­prü­fung, die so nicht mehr gege­ben ist. »Jeder Asyl­su­chen­de hat das Recht auf ein fai­res und rechts­staat­li­ches Ver­fah­ren, in dem Behör­den­han­deln effek­tiv durch Gerich­te über­prüft wird. Es ist ein Trau­er­spiel von Rechts­staat und Demo­kra­tie, wenn die­ser Sys­temum­bau ver­kannt wird und ohne poli­ti­sche und öffent­li­che Debat­te von­stat­ten geht«, kri­ti­siert Burkhardt.

Nur weni­ge Einzelfälle?

Am Sonn­tag, 26. August 2018 fand die ers­te Zurück­wei­sung an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze statt: Der Betrof­fe­ne wur­de in einem Zug nahe Rosen­heim von der Bun­des­po­li­zei auf­ge­grif­fen. Da die­se Per­son einen Asyl­an­trag in Grie­chen­land gestellt habe und dort regis­triert sei (EURODAC 1‑Treffer), hat die Bun­des­po­li­zei­in­spek­ti­on Rosen­heim schein­bar ohne wei­te­re Prü­fung ent­schie­den, die­se Per­son unmit­tel­bar zum Mün­che­ner Flug­ha­fen zu brin­gen, von wo aus sie nach Grie­chen­land geschickt wur­de. Die Bun­des­po­li­zei berief sich dabei auf das – unbe­kann­te – Abkom­men zwi­schen Deutsch­land und Grie­chen­land. Es gab für die betrof­fe­ne Per­son schein­bar kei­ner­lei Gele­gen­heit, recht­li­che Schrit­te ein­zu­lei­ten. Nach­träg­lich die­se Per­son aus­fin­dig zu machen, ist unter den herr­schen­den Umstän­den in Grie­chen­land äußerst problematisch.

Anfang Okto­ber ist ein wei­te­rer Fall an PRO ASYL her­an­ge­tra­gen wor­den, dem wir gegen­wär­tig nach­ge­hen, bei dem Vie­les auf das glei­che Mus­ter hin­deu­tet. Die Bun­des­po­li­zei ver­wei­gert die Ein­rei­se, da »Anhalts­punk­te dafür vor­lie­gen«, dass ein ande­rer EU-Mit­glied­staat zustän­dig sei. Auch wenn es bis­her nur um eini­ge weni­ge bekannt gewor­de­ne Fäl­le geht: Dies ist alles ande­re als eine Baga­tel­le. Die Mehr­zahl derer, die nach Deutsch­land über Grie­chen­land oder Ita­li­en ein­rei­sen, wur­de dort bereits regis­triert. Das BMI schafft sich ein Instru­men­ta­ri­um, das so ange­legt ist, dass poten­ti­ell eine hohe Zahl von Asyl­su­chen­den ohne rechts­staat­li­ches Ver­fah­ren nach der Dub­lin-Ver­ord­nung abge­fer­tigt wer­den kann.

Zum Hin­ter­grund

Der Koali­ti­ons­aus­schuss hat am 5. Juli 2018 ver­ein­bart, dass Schutz­su­chen­de, die an deutsch- öster­rei­chi­scher Gren­ze auf­ge­grif­fen wer­den und in einem ande­ren EU-Mit­glied­staat als Asyl­su­chen­de regis­triert wur­den (EURODAC 1‑Treffer) direkt in das »zustän­di­ge« Land zurück­ge­wie­sen wer­den, sofern mit die­sem Mit­glied­staat ein »Ver­wal­tungs­ab­kom­men« abge­schlos­sen sei. Dar­auf­hin wur­den Abkom­men mit Grie­chen­land und Spa­ni­en zu Zurück­wei­sun­gen an der deutsch-öster­rei­chi­schen Gren­ze abge­schlos­sen, ein eben­sol­ches mit Ita­li­en steht bevor. Dabei sol­len die­se Abkom­men schein­bar außer­halb der ver­bind­li­chen euro­päi­schen Dub­lin-III-Ver­ord­nung ste­hen, die genau sol­che Fäl­le regelt. Dies ergibt sich aus öffent­li­chen Äuße­run­gen (Inter­view des Bun­des­in­nen­mi­nis­ters mit dem Han­dels­blatt vom 26. Sep­tem­ber 2018, »Horst See­ho­fer im Gespräch«) sowie aus der Bun­des­tags­druck­sa­che 19/4152 (Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung zu Fra­ge 9).

Dies bedeu­tet, dass die Zurück­wei­sungs­ent­schei­dung an der Gren­ze durch die Bun­des­po­li­zei erfolgt und nicht durch das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF), das zustän­dig für die Ent­schei­dung über die Zuläs­sig­keit eines Asyl­an­tra­ges ist. Auch eine Mög­lich­keit, ein Rechts­mit­tel ein­zu­le­gen, wird fak­tisch nicht gegeben.

Zugang zum Rechts­schutz verwehrt

Die­ses Vor­ge­hen ist rechts­wid­rig: Die ver­bind­li­che Dub­lin-III-Ver­ord­nung (sie­he VO (EU) 604/2013), die gera­de sol­che Fäl­le regelt, ver­langt zunächst eine Prü­fung durch die zustän­di­ge Behör­de sowie die effek­ti­ve Mög­lich­keit, Rechts­mit­tel gegen die­se Ent­schei­dun­gen einzulegen.

Zunächst hat über­haupt eine Prü­fung zu erfol­gen, wel­cher Staat für die Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens zustän­dig ist (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 ff. Dub­lin-VO). Die­se Prü­fung kann nicht durch einen EURO­DAC-Tref­fer ersetzt wer­den. Die Dub­lin-III-Ver­ord­nung ent­hält einen gan­zen Kri­te­ri­en­ka­ta­log, nach wel­chem Deutsch­land oder ein ande­rer Staat zustän­dig sein könn­te (Art. 8 ff Dub­lin-VO), es ist gera­de kein »5- Minu­ten-Ver­fah­ren«. Außer­dem schreibt die Ver­ord­nung ganz klar die Mög­lich­keit vor, Rechts­mit­tel gegen eine sol­che Ent­schei­dung der Über­stel­lung ein­le­gen zu kön­nen, wäh­rend­des­sen kei­ne Abschie­bung erfol­gen darf (Art. 27 Dub­lin-VO). Auch dies fußt auf dem men­schen­recht­lich garan­tier­ten Recht auf einen effek­ti­ven Rechts­be­helf (Art. 13 EMRK).

Selbst eine ange­dach­te »Fik­ti­on«, dass die­se Per­son gar nicht ein­ge­reist sei, steht der Anwen­dung der Dub­lin-III-Ver­ord­nung nicht ent­ge­gen. Der Staat kann sich nicht den Anwen­dungs­be­reich einer euro­päi­schen Ver­ord­nung aus­su­chen. Die Dub­lin-Ver­ord­nung ist ganz unstrit­tig rechts­ver­bind­lich, selbst­ver­ständ­lich auch für Deutsch­land, Öster­reich, Grie­chen­land, Spa­ni­en und Ita­li­en. Es kön­nen zwar bestimm­te Ver­fah­rens­mo­da­li­tä­ten wie ver­kürz­te Über­stel­lungs­fris­ten ver­ein­bart wer­den (Art. 36 Dub­lin- VO) – nicht aber kann die Dub­lin-Ver­ord­nung per se aus­ge­he­belt werden.

Doch nicht nur die Kri­te­ri­en der Dub­lin-III-Ver­ord­nung müs­sen geprüft wer­den, eben­so gel­ten die EU- Grund­rech­te­char­ta, die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on und das Grund­ge­setz. Dies gilt auch bei der »Fik­ti­on einer Nicht­ein­rei­se« nach Deutsch­land und für sog. »Tran­sit­ver­fah­ren«. Auf­grund die­ser Rechts­grund­la­gen wur­de schon mehr­fach klar ent­schie­den: Es ist zu prü­fen, ob im zu über­stel­len­den Staat – wie z.B. Grie­chen­land (!) – eine unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­de Behand­lung droht (Art. 3 EMRK, Art. 4 EU-GrChar­ta) – sie­he dazu den Beschluss des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 31.Juli 2018. Das zu prü­fen ist eben­falls zwin­gen­des Recht und steht nicht im Belie­ben der deut­schen Regierung.

Gericht­lich ent­schie­den: Über­stel­lun­gen und Abschie­bun­gen ohne­hin oft rechtswidrig

Bis heu­te haben vie­le deut­sche Gerich­te Über­stel­lun­gen von Asyl­su­chen­den oder auch bereits Aner­kann­ten z.B. nach Grie­chen­land, Ita­li­en, Bul­ga­ri­en oder Ungarn zwi­schen­zeit­lich gestoppt wegen der dro­hen­den unmensch­li­chen bzw. ernied­ri­gen­den Situa­ti­on, in die sich die Betrof­fe­nen bege­ben wür­den. Vor dem EuGH sind der­zeit meh­re­re Ver­fah­ren aus Deutsch­land anhän­gig, die die Fra­ge der Gewähr­leis­tung erfor­der­li­cher Rech­te in die­sen Län­dern zum Gegen­stand haben.

Erst am 31. Juli 2018 hat das BVerfG ent­schie­den, dass nicht pau­schal davon aus­ge­gan­gen wer­den kann, dass ein in Grie­chen­land Aner­kann­ter wie­der dort­hin zurück­ge­schickt wer­den kann. Statt­des­sen müs­sen Behör­den und Ver­wal­tungs­ge­rich­te prü­fen, ob eine Über­stel­lung im indi­vi­du­el­len Fall mög­lich ist und tat­säch­lich in Grie­chen­land der Zugang zu Unter­kunft, Lebens­mit­tel und medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung für die Betrof­fe­nen besteht. Das Ver­fas­sungs­ge­richt ver­weist aus­drück­lich auf die Berück­sich­ti­gung des Berichts von PRO ASYL zur Situa­ti­on von Aner­kann­ten in Grie­chen­land (Legal Note: »Rights and effec­ti­ve pro­tec­tion exist only on paper: The pre­ca­rious exis­tence of bene­fi­ci­a­ries of inter­na­tio­nal pro­tec­tion in Greece«, 23.Juni 2017).

Die­se Gerichts­ver­fah­ren bezeu­gen: Der grund- und men­schen­recht­lich ver­brief­te Rechts­schutz muss zwin­gend gewähr­leis­tet sein. Hier dro­hen letzt­lich Men­schen­rech­te ver­letzt zu wer­den, und damit mehr als nur »rei­ne« Zustän­dig­keits­kri­te­ri­en. Auch der Rechts­staat wird aus­ge­he­belt, wenn die Behör­den sich jeg­li­cher gericht­li­cher Kon­trol­le entziehen.

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