07.01.2025

PRO ASYL begrüßt das heu­ti­ge Urteil des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te (EGMR) im Fall einer tür­ki­schen Asyl­su­chen­den, die von Grie­chen­land über die Land­gren­ze in die Tür­kei ille­gal zurück­ge­wie­sen wur­de. Das Urteil zeigt unmiss­ver­ständ­lich, dass der bru­ta­len Push­back-Pra­xis Grie­chen­lands ein Ende gesetzt wer­den muss. Hier steht auch die Euro­päi­sche Uni­on in der Pflicht, ins­be­son­de­re die EU-Kom­mis­si­on. PRO ASYL for­dert die EU-Kom­mis­si­on auf, nun Sank­tio­nen gegen Grie­chen­land in die Wege zu lei­ten und sich klar und deut­lich von sämt­li­chen Plä­nen zu distan­zie­ren, die Zurück­wei­sun­gen an den Außen­gren­zen Vor­schub leisten.

„Das heu­ti­ge Urteil ist ein Pau­ken­schlag! Es ist zwar seit Jah­ren bekannt, dass Grie­chen­land Schutz­su­chen­de sys­te­ma­tisch mit bru­ta­ler Gewalt ille­gal zurück­weist oder auf dem offe­nen Meer aus­setzt. Kon­se­quen­zen gab es für Grie­chen­land bis­her jedoch nicht. Damit muss ab heu­te Schluss sein: Der EGMR hat Grie­chen­land für sei­ne Zurück­wei­sungs­pra­xis unmiss­ver­ständ­lich ver­ur­teilt“, sagt Wieb­ke Judith, rechts­po­li­ti­sche Spre­che­rin von PRO ASYL.

„Das Urteil sen­det eine deut­li­che Bot­schaft an ganz Euro­pa: Men­schen­rech­te sind auch an der Gren­ze ein­zu­hal­ten! Das muss von Athen über War­schau bis nach Brüs­sel gehört wer­den. Denn was wir erle­ben, ist eine Ero­si­on der Men­schen­rech­te an den Außen­gren­zen, ille­ga­le Push­backs sind weit ver­brei­tet. Auch deut­sche Poli­ti­ker und Poli­ti­ke­rin­nen soll­ten genau hin­schau­en und sich zu Her­zen neh­men, was heu­te in Straß­burg ent­schie­den wur­de“, erläu­tert Wieb­ke Judith.

PRO ASYL for­dert: EU-Kom­mis­si­on muss Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Grie­chen­land einleiten

In sei­nem heu­ti­gen Urteil (A.R.E. gegen Grie­chen­land, 15783/21) hat der Gerichts­hof Grie­chen­land wegen der Zurück­wei­sung einer tür­ki­schen Asyl­su­chen­den ver­ur­teilt, die 2019 über den Grenz­fluss Evros/Meriç nach Grie­chen­land geflo­hen war. Das Gericht hat außer­dem fest­ge­stellt, dass grie­chi­sche Behör­den Schutz­su­chen­de zum dama­li­gen Zeit­punkt sys­te­ma­tisch ohne indi­vi­du­el­le Prü­fung in die Tür­kei zurück­ge­wie­sen haben.

„Die Push­back-Poli­tik Grie­chen­lands bekommt seit Jah­ren Rücken­de­ckung aus Brüs­sel. Die EU-Kom­mis­si­on muss jetzt ihrer Pflicht als Hüte­rin der Ver­trä­ge nach­kom­men: Sie darf nicht mehr nur ihre ‚Besorg­nis zum Aus­druck brin­gen‘, son­dern muss ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Grie­chen­land ein­lei­ten“, sagt Wieb­ke Judith, rechts­po­li­ti­sche Spre­che­rin von PRO ASYL.

Zudem for­dert PRO ASYL, dass die euro­päi­sche Finan­zie­rung des grie­chi­schen Grenz­re­gimes been­det wer­den muss. Ent­spre­chen­de Gel­der an Grie­chen­land müs­sen ein­ge­fro­ren wer­den und dür­fen erst wie­der frei­ge­ge­ben wer­den, wenn die Ein­hal­tung von Grund- und Men­schen­rech­ten durch grie­chi­sche Grenz­schutz­be­hör­den garan­tiert ist. Schließ­lich muss auch Fron­tex Kon­se­quen­zen zie­hen und darf sich nicht wei­ter­hin an ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen betei­li­gen. Sämt­li­che Fron­tex-Ein­hei­ten müs­sen aus Grie­chen­land abge­zo­gen wer­den. Auch die Bun­des­re­gie­rung muss das Bun­des­po­li­zei-Per­so­nal umge­hend aus Grie­chen­land abziehen.

Fall: Grie­chi­sche Sicher­heits­be­hör­den schie­ben Frau über den Grenz­fluss in die Tür­kei zurück 

Bei der Klä­ge­rin in dem Ver­fah­ren A.R.E. gegen Grie­chen­land (15783/21) han­delt es sich um eine tür­ki­sche Grund­schul­leh­re­rin, die wegen angeb­li­cher Zuge­hö­rig­keit zur Gülen-Bewe­gung in der Tür­kei ver­folgt wur­de. Sie floh 2019 über den Grenz­fluss Evros/Meriç nach Grie­chen­land und such­te dort Schutz. Ihr Asyl­ge­such wur­de von den grie­chi­schen Behör­den igno­riert. Sicher­heits­kräf­te inhaf­tier­ten sie für eini­ge Stun­den, nah­men ihr sämt­li­che per­sön­li­che Gegen­stän­de ab und scho­ben sie schließ­lich mit einem Boot über den Grenz­fluss Evros/Meriç zurück in die Tür­kei, wo sie ins Gefäng­nis kam.

Der Grie­chi­sche Flücht­lings­rat (GCR), der die Klä­ge­rin auch vor dem EGMR ver­tritt, hat in ihrem Namen in Grie­chen­land Straf­an­zei­ge gestellt, die jedoch mit der pau­scha­len Begrün­dung abge­wie­sen wur­de, dass „die grie­chi­sche Poli­zei kei­ne Push­back-Prak­ti­ken anwendet“.

Gerichts­hof ver­ur­teilt Ver­stö­ße gegen Menschenrechtskonvention

Der EGMR hat nun in sei­nem Urteil meh­re­re Ver­stö­ße gegen die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK) fest­ge­stellt: Die Zurück­wei­sung ohne indi­vi­du­el­le Prü­fung stellt einen Ver­stoß gegen Art. 3 EMRK (Ver­bot unmensch­li­cher oder ernied­ri­gen­der Behand­lung) dar. Die Inhaf­tie­rung von A.R.E. ver­stößt gegen Art. 5 EMRK (Recht auf Frei­heit und Sicher­heit) , weil es sich um eine infor­mel­le Inhaf­tie­rung ohne Rechts­grund­la­ge han­del­te. Zusätz­lich hat der Gerichts­hof fest­ge­stellt, dass das grie­chi­sche Rechts­sys­tem A.R.E. kei­nen wirk­sa­men Rechts­be­helf ermög­licht hat (Ver­stoß gegen Art. 13 EMRK – Recht auf wirk­sa­me Beschwerde).

In einem zwei­ten Urteil (G.R.J. gegen Grie­chen­land (15067/21) hat der Gerichts­hof heu­te die Beschwer­de eines afgha­ni­schen Asyl­su­chen­den abge­wie­sen, der 2018 als unbe­glei­te­ter Min­der­jäh­ri­ger von grie­chi­schen Behör­den auf dem offe­nen Meer in einem manö­vrier­un­fä­hi­gen Schlauch­boot aus­ge­setzt wor­den war. Der Gerichts­hof hat zwar aner­kannt, dass Push­backs auf den grie­chi­schen Inseln damals sys­te­ma­ti­sche Pra­xis grie­chi­scher Behör­den waren. Aller­dings hat er es nicht als erwie­sen ange­se­hen, dass der Beschwer­de­füh­rer G.R.J. Opfer eines Push­backs wurde.

Beim EGMR sind vie­le Indi­vi­du­al­be­schwer­den von Schutz­su­chen­den anhän­gig, die Ver­let­zun­gen der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on wegen ille­ga­ler Zurück­wei­sun­gen in Grie­chen­land gel­tend machen. Das heu­ti­ge Urteil A.R.E. gegen Grie­chen­land (15783/21) stellt daher eine Grund­satz­ent­schei­dung dar, auch wenn es eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung ist.

Hin­ter­grund: Grie­chen­lands ille­ga­le Push­backs sind seit vie­len Jah­ren öffent­lich bekannt 

Schutz­su­chen­de ohne Prü­fung des Ein­zel­falls zu ent­füh­ren, zu miss­han­deln, sie gewalt­tä­tig in die Tür­kei zurück­zu­schie­ben oder sie auf dem offe­nen Meer aus­zu­set­zen ist seit Jah­ren sys­te­ma­ti­sche Pra­xis grie­chi­scher Behör­den und wur­de tau­send­fach von Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen und Journalist*innen doku­men­tiert. Allein für den Zeit­raum zwi­schen März 2020 und März 2023 hat die Recher­che­agen­tur Foren­sic Archi­tec­tu­re mehr als 2.000 veri­fi­zier­te Vor­fäl­le doku­men­tiert, bei denen 55.445 Schutz­su­chen­de in manö­vrier­un­fä­hi­gen Schlauch­boo­ten oder Ret­tungs­in­seln auf dem offe­nen Meer aus­ge­setzt wur­den. Die New York Times hat im Mai 2023 sogar Video­auf­nah­men eines sol­chen ‚Drift­backs‘ auf der Insel Les­bos ver­öf­fent­licht.

Auch das Anti­fol­ter­ko­mi­tee des Euro­pa­rats (CPT) hat in sei­nem letz­ten Bericht erneut bestä­tigt, dass sol­che Drift- und Push­backs sys­te­ma­tisch statt­fin­den. Und der UN-Son­der­be­richt­erstat­ter für die Rech­te von Migrant*innen stell­te bereits 2022 fest, dass „in Grie­chen­land Zurück­wei­sun­gen an Land- und See­gren­zen de fac­to zur all­ge­mei­nen Poli­tik gewor­den [sind]“. Nichts­des­to­trotz leug­net die grie­chi­sche Regie­rung bis­her beharr­lich, dass sol­che ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen stattfinden.

EU-Kom­mis­si­on beschränkt sich bis­her auf „Besorg­nis“

Recher­chen von NDR und WDR haben Anfang 2024 auf­ge­deckt, dass auch Fron­tex-Ein­hei­ten wei­ter­hin an Drift- und Push­backs in Grie­chen­land betei­ligt sind. Die Vor­wür­fe wur­den vom Grund­rechts­be­auf­trag­ten von Fron­tex in einem inter­nen Unter­su­chungs­be­richt bestä­tigt. Die EU-Kom­mis­si­on hat bis­her immer nur ihre „Besorg­nis“ zum Aus­druck gebracht und Grie­chen­land ermahnt, die Vor­wür­fe auf­zu­klä­ren. Sank­tio­nen gegen Grie­chen­land wegen der mas­si­ven Rechts­ver­let­zun­gen im Rah­men von Push­backs wur­den jedoch bis­her nicht verhängt.

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