22.09.2022

Erneut rügt der EuGH Deutsch­land wegen euro­pa­rechts­wid­ri­ger Hand­lun­gen in Flücht­lings­fra­gen. Das BAMF hat­te wäh­rend der Covid-Pan­de­mie Über­stel­lungs­fris­ten nach der Dub­lin-Ver­ord­nung rechts­wid­rig aus­ge­setzt. Asyl­su­chen­den droh­te die Abschie­bung in ein ande­res EU-Land, obwohl die Zustän­dig­keit für ihr Asyl­ver­fah­ren auf Deutsch­land über­ge­gan­gen war.

Der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH) hat mit sei­nem heu­ti­gen Urteil fest­ge­stellt, dass Geflüch­te­te nicht die Leid­tra­gen­den sein dür­fen, wenn das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) pan­de­mie­be­dingt kei­ne Rück­füh­run­gen in ande­re EU-Mit­glied­staa­ten durch­füh­ren kann. „Das ist ein wich­ti­ges Urteil für den Flücht­lings­schutz in Euro­pa, das den Betrof­fe­nen Rechts­si­cher­heit gibt“, erklärt Wieb­ke Judith, rechts­po­li­ti­sche Refe­ren­tin von PRO ASYL. „Die Luxem­bur­ger Rich­ter und Rich­te­rin­nen haben deut­lich gemacht, dass ein Land nicht nach Belie­ben Fris­ten zur Über­stel­lung von Geflüch­te­ten in ein ande­res EU-Land aus­set­zen darf, nur weil es auf­grund der Covid-19-Pan­de­mie oder ande­ren Umstän­den Schwie­rig­kei­ten hat, schutz­su­chen­de Men­schen tat­säch­lich in ein ande­res EU-Land zu brin­gen. Die betrof­fe­nen Men­schen müs­sen jetzt end­lich in Deutsch­land ein inhalt­li­ches Asyl­ver­fah­ren bekom­men, denn nun steht höchst­ge­richt­lich fest, dass die vom BAMF betrie­be­ne Pra­xis euro­pa­rechts­wid­rig war“, erläu­tert Judith.

Nach der Dub­lin-Ver­ord­nung wer­den Asylbewerber*innen in den euro­päi­schen Mit­glieds­staat zurück­ge­schickt, in dem sie zuerst euro­päi­schen Boden betre­ten haben und regis­triert wur­den. Am 18. März 2020 beschloss das BAMF jedoch, auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie kei­ne Dub­lin-Über­stel­lun­gen mehr durch­zu­füh­ren. Bei einer nicht erfolg­ten Über­stel­lung inner­halb von sechs Mona­ten wird eigent­lich der Mit­glied­staat für die asyl­su­chen­de Per­son zustän­dig, der die Über­stel­lung ange­fragt hat – in die­sen Fäl­len also Deutsch­land. Um zu ver­hin­dern, dass die Ver­ant­wor­tung auf die Bun­des­re­pu­blik über­geht, hat­te das BAMF aber eine Aus­set­zung die­ser Über­stel­lungs­fris­ten ver­an­lasst. Mit die­sem juris­ti­schen Trick soll­te die Über­stel­lungs­frist bei erneu­ter Auf­nah­me des Ver­fah­rens kom­plett neu begin­nen. So woll­te sich das Bun­des­amt erneut sechs Mona­te Zeit ver­schaf­fen, um die Rück­füh­rung zu orga­ni­sie­ren. Die­ses Vor­ge­hen kün­dig­te das BAMF allen Per­so­nen im Dub­lin-Ver­fah­ren schrift­lich an. Über 21.000 Asyl­su­chen­de erhiel­ten laut Anga­ben der Bun­des­re­gie­rung ein ent­spre­chen­des Schrei­ben, bei ver­mut­lich cir­ca 9.000 Per­so­nen wur­de an der Aus­set­zung der Frist festgehalten.

EuGH rügt Bun­des­re­gie­rung das drit­te Mal bin­nen kur­zer Zeit für euro­pa­rechts­wid­ri­ges Verhalten

„Das Bun­des­amt hat Tau­sen­de Schutz­su­chen­de inmit­ten einer Pan­de­mie, in der zu Beginn auf­grund von Kon­takt­be­schrän­kun­gen der Zugang zu Bera­tung und Anwäl­ten kaum mög­lich war, mit ihren Schrei­ben zur Aus­set­zung der Dub­lin-Fris­ten mas­siv ver­un­si­chert. PRO ASYL hat von Anfang an auf die offen­sicht­li­che Euro­pa­rechts­wid­rig­keit hin­ge­wie­sen, die auch die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on in ihrer Mit­tei­lung zu Asyl­ver­fah­ren wäh­rend der Covid-Pan­de­mie vom 17. April 2020 fest­ge­stellt hat. Es ist ein Skan­dal, dass es über­haupt not­wen­dig war, einen sol­chen Fall bis vor den EuGH zu brin­gen. Leid­tra­gen­de sind die Men­schen, die durch das euro­pa­rechts­wid­ri­ge Han­deln des Bun­des­am­tes bis heu­te auf die Prü­fung ihrer Ver­fol­gungs­grün­de war­ten müs­sen“, kom­men­tiert Judith.

PRO ASYL unter­stützt gezielt ent­spre­chen­de Kla­ge­ver­fah­ren, dar­un­ter auch eines der Ver­fah­ren, das dem EuGH vor­ge­legt wurde.

Nach­dem der EuGH bereits im August in zwei Urtei­len zum Fami­li­en­nach­zug deut­schen Behör­den euro­pa­rechts­wid­ri­ges Ver­hal­ten beschei­nig­te, ist dies eine erneu­te Schlap­pe der Bun­des­re­gie­rung vor dem höchs­ten Gericht der EU. „Man fragt sich, war­um deut­sche Behör­den immer wie­der ver­su­chen, gel­ten­des Recht zum Nach­teil von Geflüch­te­ten aus­zu­le­gen und anzu­wen­den. Die neue Bun­des­re­gie­rung muss den Behör­den auf den Zahn füh­len und Kon­se­quen­zen zie­hen. Es braucht ganz offen­sicht­lich eine Ände­rung in der Behör­den­kul­tur, sodass der Schutz von Men­schen im Zen­trum steht – und nicht deren Abwehr“, so Judith.

Nach Frist­ab­lauf hat Deutsch­land die Pflicht zur Durch­füh­rung des Asylverfahrens

Für die Betrof­fe­nen hat eine Aus­set­zung der Fris­ten har­sche Kon­se­quen­zen: Die regu­lä­re Über­stel­lungs­frist von sechs Mona­ten beginnt von vor­ne, selbst wenn sie eigent­lich schon meh­re­re Mona­te der Frist hin­ter sich hat­ten. Wäh­rend die­ser Zeit haben die Asylbewerber*innen kei­nen Zugang zu einem inhalt­li­chen Asyl­ver­fah­ren und befin­den sich in einem zer­mür­ben­den Schwe­be­zu­stand. Dabei ist ein Kern­an­lie­gen der Dub­lin-Ver­ord­nung, genau einen sol­chen Schwe­be­zu­stand zu ver­hin­dern und durch die Fris­ten für kla­re Zustän­dig­kei­ten zu sorgen.

Am 26. Janu­ar 2021 leg­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt dem EuGH im Rah­men eines Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­rens drei Rechts­fra­gen vor. Zusam­men­ge­fasst geht es ins­be­son­de­re um fol­gen­de Fra­ge: Kann ein Mit­glied­staat auf­grund von Schwie­rig­kei­ten bei der recht­zei­ti­gen Über­stel­lung wegen der Coro­na-Pan­de­mie die Dub­lin-Frist unterbrechen?
Mit dem heu­ti­gen Urteil macht der EuGH klar: Die Aus­set­zung der Fris­ten ist nicht recht­mä­ßig. Die Dub­lin-III-Ver­ord­nung sieht eine sol­che Aus­set­zung nur für klar umfass­te Situa­tio­nen vor, ins­be­son­de­re um den Rechts­schutz der Betrof­fe­nen zu gewähr­leis­ten. Eine Frist­aus­set­zung wider­spricht dem Beschleu­ni­gungs­ge­bot, das vor­sieht, für Betrof­fe­ne zügig Rechts­si­cher­heit zu schaffen.

Im Ergeb­nis bedeu­tet das Urteil für die betrof­fe­nen Per­so­nen, dass ihre Über­stel­lungs­fris­ten je nach Ein­zel­fall über­schrit­ten wur­den. Nach der Dub­lin-III-Ver­ord­nung hat nach Frist­ab­lauf der Mit­glied­staat, in dem sich die Geflüch­te­ten auf­hal­ten – in die­sem Fall Deutsch­land – die Pflicht zur Durch­füh­rung des Asylverfahrens.

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