04.06.2021

PRO ASYL for­dert als Reak­ti­on einen sofor­ti­gen Abschie­be­stopp und eine neue Bewer­tung der Lage durch das Aus­wär­ti­ge Amt und das BAMF

Ange­sichts der eska­lie­ren­den und sich täg­lich ver­schlech­tern­den Situa­ti­on in Afgha­ni­stan und der Erkennt­nis­se einer heu­te ver­öf­fent­lich­ten Stu­die zur Gefähr­dungs­la­ge Abge­scho­be­ner for­dert PRO ASYL das Aus­wär­ti­ge Amt auf, sofort einen neu­en Lage­be­richt zu Afgha­ni­stan zu erstel­len. Die Abschie­bun­gen müs­sen gestoppt wer­den, zunächst der für Diens­tag, 8. Juni, geplan­te Flug, aber auch alle wei­te­ren. Die Stu­die, her­aus­ge­ge­ben von Dia­ko­nie und Brot für die Welt, legt nahe, dass es immer mehr Grün­de gibt, die Rich­tig­keit der bis­he­ri­gen Ableh­nungs- und Abschie­bungs­ent­schei­dun­gen anzu­zwei­feln und beim Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) Fol­ge­an­trä­ge zu stel­len. Der Voll­zug von Abschie­bun­gen basiert häu­fig auf lan­ge zurück­lie­gen­den nega­ti­ven BAMF-Ent­schei­dun­gen. Doch nun lie­gen neue Gefähr­dungs­grün­de vor, die berück­sich­tigt wer­den müs­sen. PRO ASYL for­dert das BAMF daher auf, die­se neu­en Erkennt­nis­se ein­zu­be­zie­hen und die oft kurz­fris­tig gestell­ten Fol­ge­an­trä­ge sorg­fäl­tig zu prüfen.

Die Reak­ti­on des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums (BMI) auf die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen ist „unglaub­lich“, so Gün­ter Burk­hardt, Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL: „Anstatt rea­lis­tisch die Situa­ti­on in Afgha­ni­stan zu reflek­tie­ren, herrscht stoi­sche Gleich­gül­tig­keit gegen­über dem Schick­sal der Abge­scho­be­nen. Fak­ten dür­fen nicht län­ger ver­schwie­gen wer­den, die Abschie­be­flü­ge müs­sen ein Ende haben.“ PRO ASYL ruft des­halb mit ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen für mor­gen zum Pro­test gegen die Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan auf.

Das BMI hat laut ARD-Tages­schau auf die Stu­die und die Ent­wick­lun­gen reagiert und for­mu­liert, die Bun­des­re­gie­rung ver­fol­ge „die Ent­wick­lung in Afgha­ni­stan sorg­fäl­tig. Wie sich der Abzug der inter­na­tio­na­len Trup­pen auf die Lage im Ein­zel­nen aus­wir­ken wird, kann aller­dings der­zeit noch nicht abge­schätzt wer­den.“ Burk­hardt hier­zu: „In eine zuse­hends eska­lie­ren­de Lage, in der die Tali­ban mit Ter­ror und Atta­cken den Abzug der NATO beglei­ten, darf nie­mand abge­scho­ben wer­den. Die west­li­chen Trup­pen wer­den eva­ku­iert und in Sicher­heit gebracht, gleich­zei­tig soll in ein Kriegs- und Kri­sen­ge­biet abge­scho­ben wer­den, in dem sich die Situa­ti­on täg­lich zuspitzt. Das kann und darf nicht sein.“

Gerich­te bestä­ti­gen: Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan sind unzumutbar

Im Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amts von Juli 2020, auf des­sen Grund­la­ge das BMI die Lage für Abzu­schie­ben­de ein­schätzt, heißt es laut tageschau.de : Dem Aus­wär­ti­gen Amt sei­en „kei­ne Fäl­le bekannt, in denen Rück­keh­rer nach­weis­lich auf­grund ihres Auf­ent­halts in Euro­pa Opfer von Gewalt­ta­ten wur­den“. Nach den Erkennt­nis­sen der Lang­zeit­re­cher­che sind aus Deutsch­land abge­scho­be­ne Afgha­nen aber einer erneu­ten Ver­fol­gung durch die Tali­ban aus­ge­setzt. Ihnen wird wegen der Flucht nach Euro­pa Ver­rat, Ver­west­li­chung, unmo­ra­li­sches Ver­hal­ten oder die Abkehr vom Islam vor­ge­wor­fen, heißt es in der am 4. Juni ver­öf­fent­lich­ten Stu­die. Eine neue, für Asyl­an­trä­ge fun­da­men­tal wich­ti­ge Erkennt­nis ist: Den Abge­scho­be­nen fehlt das für das Über­le­ben not­wen­di­ge sozia­le Netz. Gerich­te, dar­un­ter auch der Ver­wal­tungs­ge­richts­hof in Baden-Würt­tem­berg, haben fest­ge­stellt, dass abge­lehn­ten Afgha­nen eine Rück­kehr ohne ein sta­bi­les fami­liä­res oder sozia­les Netz­werk in Afgha­ni­stan nicht zuzu­mu­ten ist.

Die Stu­die wur­de von der Afgha­ni­stan-Gut­ach­te­rin Frie­de­ri­ke Stahl­mann von der Uni­ver­si­tät Bern ver­fasst und doku­men­tiert die Erfah­run­gen zwi­schen Dezem­ber 2016 und März 2020. Sie berück­sich­tigt noch nicht die sich täg­lich ver­schär­fen­de Situa­ti­on nach Bekannt­ga­be des Abzugs der west­li­chen Trup­pen sowie die Fol­gen der Coronapandemie.

Trotz­dem hal­ten das BMI und eine Rei­he von Bun­des­län­dern bis­her an Abschie­bun­gen fest. Der für Diens­tag vor­ge­se­he­ne Abschie­be­flug wäre der 39. Flug seit Wie­der­auf­nah­me der Sam­mel­ab­schie­bun­gen im Dezem­ber 2016. In den letz­ten vier Jah­ren wur­den ins­ge­samt 1035 afgha­ni­sche Män­ner in das Bür­ger­kriegs­land zurückverfrachtet.

Wei­te­re Ver­schär­fung der Sicher­heits­la­ge durch den Abzug der inter­na­tio­na­len Truppen

Die Befürch­tun­gen, dass das Land nach dem am 4. Juli voll­ende­ten Trup­pen­ab­zug der USA vor einer völ­lig neu­en, wei­ter eska­lie­ren­den Lage steht, bewahr­hei­ten sich. Seit Beginn des offi­zi­el­len Abzugs der inter­na­tio­na­len Trup­pen aus Afgha­ni­stan Anfang Mai hat sich die Gewalt im Land inten­si­viert. Die Tali­ban star­te­ten in meh­re­ren Pro­vin­zen Offen­si­ven. Täg­lich wer­den Zivi­lis­ten Opfer des Kon­flikts. Zehn­tau­sen­de Men­schen muss­ten UN-Anga­ben zufol­ge in den ver­gan­ge­nen Wochen aus ihren Dör­fern und Städ­ten vor den Kämp­fen flie­hen. Beob­ach­ter war­nen, dass sich die Sicher­heits­la­ge in dem Land nach dem voll­stän­di­gen Abzug der Nato-Trup­pen noch ver­schlech­tert.  US-Außen­mi­nis­ter Ant­o­ny Blin­ken äußer­te gegen­über CNN  die Befürch­tung, das Land kön­ne in einem Bür­ger­krieg ver­sin­ken und die erneu­te Macht­über­nah­me durch die Tali­ban dro­hen. Expert*innen des Afgha­ni­stan Ana­lyst Net­works sehen ein hohes Gefähr­dungs­po­ten­ti­al für die afgha­ni­sche Zivil­be­völ­ke­rung. Anga­ben des afgha­ni­schen Nach­rich­ten­diens­tes Tolo­news zufol­ge wur­den Anfang Mai inner­halb von nur 24 Stun­den 141 Angrif­fe durch die Tali­ban gezählt. Im ers­ten Quar­tal 2021 wur­den mehr als 570 Zivi­lis­ten getö­tet und 1210 ver­wun­det. Das sind fast 30 Pro­zent mehr als ein Jahr zuvor.

Auch die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on in Afgha­ni­stan ist desas­trös und hat sich durch die Covid-19-Pan­de­mie mas­siv ver­schlech­tert. Laut dem stell­ver­tre­ten­den UN-Chef für huma­ni­tä­re Hil­fe hat sich die Zahl der Men­schen in Not in Afgha­ni­stan von 9,4 Mil­lio­nen Anfang 2020 auf 18,4 Mil­lio­nen im Jahr 2021 ver­dop­pelt – bei einer Bevöl­ke­rung von 40,4 Mil­lio­nen. Im März 2021 befan­den sich danach fast 17 Mil­lio­nen Men­schen in einer Kri­se oder einem Not­stand der Ernährungssicherheit.

Zur Stu­die „Erfah­run­gen und Per­spek­ti­ven abge­scho­be­ner Afgha­nen im Kon­text aktu­el­ler poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Ent­wick­lun­gen Afgha­ni­stans“ sowie Fallbeispielen:

https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Journal_PDF/AFG_Monitoring-Studie_FINAL.pdf

sie­he auch www.diakonie.de/journal/erfahrungen-und-perspektiven-abgeschobener-afghanen

Infor­ma­tio­nen zum mor­gi­gen Aktionstag:

https://www.proasyl.de/pressemitteilung/bundesweiter-aktionstag-gegen-abschiebungen-nach-afghanistan/

 

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