02.01.2023

In einem von PRO ASYL, BAfF e.V. und Flücht­lings­rat Ber­lin initi­ier­ten Appell for­dern 62 Orga­ni­sa­tio­nen das glei­che Recht auf Sozi­al­leis­tun­gen für alle in Deutsch­land leben­den Men­schen, ohne dis­kri­mi­nie­ren­de Unter­schie­de. Leistungsempfänger*innen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz müs­sen in das regu­lä­re Sozi­al­leis­tungs­sys­tem und damit auch in das Bür­ger­geld inte­griert werden.

Der Appell im Wortlaut:

Gemein­sa­mes State­ment von 62 Organisationen

Es gibt nur eine Men­schen­wür­de – Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz abschaffen!

Vie­le Geflüch­te­te erhal­ten zum Leben ledig­lich Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz – und damit weni­ger als das neue Bür­ger­geld, das laut Gesetz das men­schen­wür­di­ge Exis­tenz­mi­ni­mum sicher­stel­len soll. Aber die Men­schen­wür­de kennt nicht zwei­er­lei Maß. Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Wohl­fahrts­ver­bän­de und Anwält*innenverbände for­dern glei­che Stan­dards für alle: Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz muss abge­schafft wer­den. Die Betrof­fe­nen müs­sen in das regu­lä­re Sozi­al­leis­tungs­sys­tem ein­ge­glie­dert werden.

Seit dem 1. Janu­ar 2023 erhal­ten mate­ri­ell bedürf­ti­ge Men­schen in Deutsch­land das soge­nann­te Bür­ger­geld. Das Bür­ger­geld tritt an die Stel­le der bis­he­ri­gen Hartz-IV-Leis­tun­gen. Geflüch­te­te wur­den dabei aller­dings nicht mit­ge­dacht: Denn wie schon bei Hartz IV blei­ben asyl­su­chen­de und gedul­de­te Men­schen auch vom Bür­ger­geld aus­ge­schlos­sen. Statt des regu­lä­ren Sozi­al­rechts gilt für sie das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz (Asyl­bLG).

Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz besteht seit 1993. Es ist ein Son­der­recht für geflüch­te­te Men­schen. Das Leis­tungs­ni­veau des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes unter­schrei­tet das sozi­al­recht­li­che Exis­tenz­mi­ni­mum erheb­lich. Die Regel­sät­ze sind viel nied­ri­ger. Oft wer­den Geld­leis­tun­gen durch Sach­leis­tun­gen ersetzt, die die Men­schen dis­kri­mi­nie­ren und ent­mün­di­gen. Weil Sach­leis­tun­gen den indi­vi­du­el­len Bedarf nie wirk­lich decken kön­nen, stel­len sie in der Kon­se­quenz eine wei­te­re dras­ti­sche Leis­tungs­kür­zung dar. Die Ein­schrän­kung der Gesund­heits­ver­sor­gung führt oft zu ver­schlepp­ter, ver­spä­te­ter und unzu­rei­chen­der Behand­lung. Sank­tio­nen füh­ren häu­fig zu wei­te­ren Kür­zun­gen, die mit­un­ter über vie­le Jah­re auf­recht­erhal­ten wer­den. Durch die feh­len­de Ein­bin­dung in das regu­lä­re Sozi­al­sys­tem wer­den die Betrof­fe­nen zudem von den Maß­nah­men der Arbeits­för­de­rung weit­ge­hend ausgeschlossen.

Erklär­ter­ma­ßen hoff­te man auf eine abschre­cken­de Wir­kung: Nied­ri­ge Geld­be­trä­ge und die Sach­leis­tungs­ver­sor­gung soll­ten Geflüch­te­te zur Aus­rei­se bewe­gen. Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Wohl­fahrts­ver­bän­de, Kir­chen und Anwält*innenverbände sind sich seit Ein­füh­rung des Geset­zes dar­in einig, dass das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz wie­der abge­schafft wer­den muss.

2012 hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in einer weg­wei­sen­den Ent­schei­dung dafür gesorgt, dass die Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz zumin­dest vor­über­ge­hend annä­hernd dem Hartz-IV-Niveau ent­spra­chen. Zugleich erteil­te das höchs­te deut­sche Gericht dem Ansin­nen, Sozi­al­leis­tun­gen zur Abschre­ckung Asyl­su­chen­der ein­zu­set­zen, eine deut­li­che Absa­ge: „Die in Art. 1 Abs. 1 Grund­ge­setz garan­tier­te Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu rela­ti­vie­ren“ (Beschluss vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10).

Trotz­dem kürz­te die gro­ße Koali­ti­on die Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz in den Jah­ren 2014 bis 2019 in meh­re­ren Schrit­ten erneut und wei­te­te den Anwen­dungs­zeit­raum von 15 auf 18 Mona­te aus. 2022 hat das Ver­fas­sungs­ge­richt die 2019 ein­ge­führ­ten zusätz­li­chen Leis­tungs­kür­zun­gen für Allein­ste­hen­de in Sam­mel­un­ter­künf­ten als ver­fas­sungs­wid­rig gekippt (Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21). Ein wei­te­res Ver­fah­ren ist anhän­gig (1 BvL 5/21).

Auch zu den Sank­tio­nen, die das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz vor­sieht, hat sich das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt geäu­ßert. Aus dem Urteil zu den Hartz-IV-Sank­tio­nen vom 5.11.2019 geht klar her­vor, dass die Sank­tio­nen des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes mit dem Grund­ge­setz nicht ver­ein­bar sind.

Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz ver­stößt damit gegen das Grund­recht auf ein men­schen­wür­di­ges Exis­tenz­mi­ni­mum, das Grund­recht auf Gleich­heit, das Sozi­al­staats­ge­bot (Art. 1, 3, 20 GG), das Grund­recht auf Gesund­heit und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit (Art. 2 Abs. 2 GG), die UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on und den UN-Sozialpakt.

Die Bun­des­re­gie­rung will das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz laut Koali­ti­ons­ver­trag von 2021 „im Lich­te der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts“ über­ar­bei­ten, doch das reicht nicht aus. Letzt­lich bleibt es damit beim dop­pel­ten Standard.

Unse­re Forderungen

Es kann nicht zwei­er­lei Maß für die Men­schen­wür­de geben. Wir for­dern das glei­che Recht auf Sozi­al­leis­tun­gen für alle in Deutsch­land leben­den Men­schen, ohne dis­kri­mi­nie­ren­de Unter­schie­de. Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz muss abge­schafft wer­den. Die Betrof­fe­nen müs­sen in das regu­lä­re Sozi­al­leis­tungs­sys­tem ein­be­zo­gen wer­den. Dies erfor­dert ins­be­son­de­re fol­gen­de Änderungen:

1. Abschaf­fung des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes und Ein­be­zie­hung Geflüch­te­ter ins Bür­ger­geld bzw. die Sozi­al­hil­fe (SGB II/XII). Auf migra­ti­ons­po­li­tisch moti­vier­te Kür­zun­gen und Sank­tio­nen ist gemäß dem Urteil des BVerfG aus 2012 aus­nahms­los zu verzichten.

2. Ein­be­zie­hung aller Geflüch­te­ten in die Sprach‑, Qua­li­fi­zie­rungs- und Arbeits­för­de­rungs­in­stru­men­te des SGB II.

3. Ein­be­zie­hung geflüch­te­ter Men­schen in die gesetz­li­che Kran­ken- und Pfle­ge­ver­si­che­rung (SGB V/XI). Dabei muss sicher­ge­stellt sein, dass auch Men­schen ohne Papie­re jeder­zeit ohne Angst vor Abschie­bung Zugang zum Gesund­heits­sys­tem haben. Ins­be­son­de­re muss ein Anspruch auf Sprach­mitt­lung bei Inan­spruch­nah­me von Leis­tun­gen im Gesund­heits­we­sen ver­an­kert werden.

4. Von Krank­heit, Trau­ma­ti­sie­rung, Behin­de­rung, Pfle­ge­be­dürf­tig­keit Betrof­fe­ne sowie schwan­ge­re, allein­er­zie­hen­de und älte­re Men­schen und geflüch­te­te Kin­der müs­sen – ent­spre­chend ihrem Recht aus der EU-Auf­nah­me­richt­li­nie – einen Anspruch auf alle auf­grund ihrer beson­de­ren Situa­ti­on erfor­der­li­chen zusätz­li­chen Leis­tun­gen erhal­ten (ins­be­son­de­re nach SGB IX, SGB VIII u.a.).

5. Leis­tun­gen zur Siche­rung des Lebens­un­ter­hal­tes sind als Geld­leis­tun­gen auszugestalten.

Die Lis­te der unter­zeich­nen­den Orga­ni­sa­tio­nen fin­den Sie hier.

Eine umfang­rei­che Ana­ly­se und Stel­lung­nah­me zu Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz, Hartz IV und Bür­ger­geld­ge­setz fin­den Sie hier.

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