Auch ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban sind in Afghanistan noch immer Zehntausende Menschen in Lebensgefahr, während die Bundesregierung ihre Pläne, gefährdete Menschen zu retten, nur ungenügend umsetzt. Die Zahl der Menschen, die Schutz bekommen sollen, ist viel zu gering.
Mit der Übergabe der Unterschriften zur Petition „Retten statt reden“ am Samstag im Rahmen des 1. Ortskräftekongresses in Berlin an die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Luise Amtsberg fordert PRO ASYL erneut: eine Reform des Ortskräfteverfahrens, ein den Namen verdienendes Bundesaufnahmeprogramm, die kontinuierliche Erteilung humanitärer Visa und die Beschleunigung des Familiennachzugs. Auch nach Beginn eines Bundesaufnahmeprogramms müssen Humanitäre Visa weiter erteilt werden. Rund 20.000 Menschen unterstützen diese Forderungen.
Jeder Tag des Wartens bedeutet Lebensgefahr
„Dass die Bundesregierung fast ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban und mehr als sechs Monate nach Regierungswechsel noch immer kein funktionierendes Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Menschen aus Afghanistan realisiert hat, ist unverantwortlich gegenüber den Menschen, die sich in Afghanistan für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben und in Gefahr sind“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Die Aufnahme muss sofort beginnen, denn jeder Tag des Wartens ist ein Tag in Lebensgefahr für die betroffenen Menschen.“
Bundesaufnahmeprogramm noch immer unklar
Die Zahl der Menschen, die über dieses Bundesaufnahmeprogramm in Sicherheit kommen sollen, ist immer noch umstritten und die Finanzmittel für das Programm sind viel zu niedrig. „Doch die Aufnahme aus Afghanistan darf nicht gedeckelt werden, sondern muss sich nach der Gefährdungslage der Menschen richten“, sagt Burkhardt. Es gibt weit mehr gefährdete Menschenrechtler*innen, Frauenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Kulturschaffende in Afghanistan, die Schutz in Deutschland brauchen, als die Bundesregierung retten will.
Unklar ist auch noch immer, wie die Menschen nach Deutschland kommen sollen. Charterflüge mit Erteilung von Visa bei der Ankunft in Deutschland wären ein Weg zur Beschleunigung. PRO ASYL fordert zudem, auch die bedrohten Familienangehörigen mit nach Deutschland zu holen, die nicht in die deutsche Definition von Kernfamilie fallen.
Aufnahme der Ortskräfte ist Verpflichtung, nicht Gnade
Überhaupt keine Fortschritte gibt es bisher bei der versprochenen Reform des Ortskräfteverfahrens. Die Definition, wer als Ortskraft gilt, muss alle Gefährdeten einschließen, zum Beispiel auch Subunternehmer*innen, die für die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet haben. PRO ASYL fordert deshalb: „Wer durch das Handeln Deutschlands in Gefahr gebracht wurde, muss als Ortskraft Aufnahme finden. Und dazu gehören selbstverständlich auch die Familienangehörigen. Diese Aufnahme ist kein Gnadenakt, sondern eine rechtliche gut begründete Verpflichtung Deutschlands“, sagte Günter Burkhardt mit Blick auf den 1. Ortskräftekongress in Berlin, zu dem das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V., der Bundeswehrverband , die Evangelische Akademie Berlin und PRO ASYL für Samstag eingeladen hatten.
Ortskräfteverfahren muss reformiert werden
Solange das Ortskräfteverfahren nicht reformiert ist, müssen alle Menschen Zugang zum Bundesaufnahmeprogramm erhalten, die für deutsche Institutionen und deren Subunternehmen gearbeitet haben und einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sind – aber nicht die engen Voraussetzungen für das Aufnahmeprogramm für Ortskräfte erfüllen. Denn die Taliban unterscheiden bei ihren Racheaktionen nicht nach der Art der Vertragsverhältnisse.
Auch eine kürzlich veröffentlichte Studie der FAU Human Rights Clinic (Universität Erlangen-Nürnberg) in Kooperation mit PRO ASYL zeigt, dass Deutschland seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen zur Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan bislang nicht ausreichend nachkommt. Zudem ist das Verfahren derart intransparent, dass viele Ortskräfte einen Antrag scheuen, weil sie weder Dauer und Zuständigkeiten noch die angewendeten Gefährdungskriterien einschätzen können.
Die Studie problematisiert darüber hinaus besonders die Rechtskonstruktion für die Aufnahme von Ortskräften, wonach die Aufnahme komplett im Ermessen der Regierung liegt. Das führt auch dazu, dass es kaum zu einer wirksamen rechtlichen Kontrolle durch die Gerichte kommt. Die Aufnahme ist aber kein Gnadenakt, sondern Pflicht.
Koalitionsvertrag muss eingehalten werden
Auch weitere Zusagen aus dem Koalitionsvertrag sind bisher ungenügend umgesetzt: die Erteilung von humanitären Visa für besonders gefährdete Afghan*innen und eine Beschleunigung beim Familiennachzug. Dazu haben PRO ASYL, Kabul Luftbrücke und das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte schon ein halbes Jahr nach dem Fall von Kabul den Zehn-Punkte-Plan „Vergesst Afghanistan nicht, handelt jetzt“ veröffentlicht. Darin enthalten waren schon damals Bundes- und Landesaufnahmeprogramme, der Verzicht auf bürokratische Visaverfahren und die Einführung von Visa on Arrival, die kontinuierliche Erteilung von humanitären Visa für Menschen in Lebensgefahr (Paragraf 22), Schutz bedrohter Ortskräfte und ein zügiger Familiennachzug.
Humanitäre Visa weiterhin ausstellen
Doch die im Koalitionsvertrag versprochenen humanitären Visa für stark gefährdete Einzelpersonen nach §22 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz werden nach wie vor nur schleppend erteilt. Hier muss großzügiger vorgegangen werden. Und die Erteilung humanitärer Visa darf auf keinen Fall mit der Eröffnung eines Bundesaufnahmeprogrammes enden, wie PRO ASYL nach Äußerungen des Auswärtigen Amts befürchtet.
Denn in der Zwischenbilanz sechs Monate „Aktionsplan Afghanistan“ des Auswärtigen Amts heißt es: „Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan befindet sich aber noch immer im Aufbau. Der Bundestag hat hierfür Mittel zur Verfügung gestellt. Aktuell laufen die Abstimmungen zwischen BMI und Auswärtigen Amt. Bis zu dessen Verwirklichung wurde für besonders dringende Fälle ein vereinfachtes Verfahren für humanitäre Visa vereinbart.“ (Hervorhebung durch PRO ASYL). PRO ASYL betont: Die Rettung von bedrohten Menschen über humanitäre Visa muss parallel zu einem Bundesaufnahmeprogramm weitergeführt werden.
Familiennachzug zu schleppend
Viel zu langsam voran geht es auch mit dem Familiennachzug, auch aus Afghanistan, auf den Ortskräfte und als Flüchtlinge anerkannte ein Recht haben. Doch nach wie vor sind die Hürden, die Behörden und das Auswärtige Amt aufbauen, zu hoch – und die Familienmitglieder bleiben unter Lebensgefahr in Afghanistan. Deshalb muss die Bearbeitung beschleunigt werden, zum Beispiel durch Vorabzustimmungen der lokalen Ausländerbehörden und mit Visa on Arrival.
Ministerin Faeser und Ministerin Baerbock haben wiederholt öffentlich deutlich gemacht, dass die Aufnahme aus Afghanistan für sie eine hohe politische Priorität hat. Auch im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir wollen diejenigen besonders schützen, die der Bundesrepublik Deutschland im Ausland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben.“
Zum Hintergrund: PRO ASYL hat 2021 den dringenden Handlungsbedarf vor allem für die Ortskräfte schon früh erkannt und schickte schon im April 2021 Vorschläge an deutsche Ministerien – unter anderem mit der Forderung nach einer sofortigen Ausreise mit Visaerteilung bei der Ankunft. Als sich die Sicherheitslage weiter zuspitzte, forderte PRO ASYL am 24. Juni eine rasche Evakuierung der Ortskräfte. Nach dem Vorschlag für ein „Programm zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ im April 2021 forderte PRO ASYL am 24. Juni 2021, fünf Tage vor dem endgültigen Abzug der Bundeswehr, erneut Schnelligkeit und unbürokratische Verfahren.
Doch statt Ortskräfte und ihre Familien auszufliegen, setzte die Bundeswehr andere Prioritäten. PRO ASYL erklärte: „Es ist mehr als irritierend, dass die Bundeswehr rund 22.000 Liter Bier, Wein und Sekt ausgeflogen hat, aber viele Menschen, die für Deutschland gearbeitet haben, zurückgelassen werden.“ Und als die Machtergreifung der Taliban unausweichlich schien, forderte PRO ASYL am 9. August 2021eine Luftbrücke für Gefährdete. Doch die Warnungen verhallten ungehört, eine Chronik des Versagens.
Eine Kurzfassung der Studie der FAU Human Rights Clinic (Universität Erlangen-Nürnberg) in Kooperation mit PRO ASYL zum Umgang mit den Ortskräften finden Sie hier.