13.08.2022

Auch ein Jahr nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban sind in Afgha­ni­stan noch immer Zehn­tau­sen­de Men­schen in Lebens­ge­fahr, wäh­rend die Bun­des­re­gie­rung ihre Plä­ne, gefähr­de­te Men­schen zu ret­ten, nur unge­nü­gend umsetzt. Die Zahl der Men­schen, die Schutz bekom­men sol­len, ist viel zu gering. 

Mit der Über­ga­be der Unter­schrif­ten zur Peti­ti­on „Ret­ten statt reden“ am Sams­tag im Rah­men des 1. Orts­kräf­te­kon­gres­ses in Ber­lin an die Men­schen­rechts­be­auf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung Lui­se Amts­berg for­dert PRO ASYL erneut: eine Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens, ein den Namen ver­die­nen­des Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm, die kon­ti­nu­ier­li­che Ertei­lung huma­ni­tä­rer Visa und die Beschleu­ni­gung des Fami­li­en­nach­zugs. Auch nach Beginn eines Bun­des­auf­nah­me­pro­gramms müs­sen Huma­ni­tä­re Visa wei­ter erteilt wer­den. Rund 20.000 Men­schen unter­stüt­zen die­se Forderungen.

Jeder Tag des War­tens bedeu­tet Lebensgefahr 

„Dass die Bun­des­re­gie­rung fast ein Jahr nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban und mehr als sechs Mona­te nach Regie­rungs­wech­sel noch immer kein funk­tio­nie­ren­des Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm für gefähr­de­te Men­schen aus Afgha­ni­stan rea­li­siert hat, ist unver­ant­wort­lich gegen­über den Men­schen, die sich in Afgha­ni­stan für Men­schen­rech­te und Demo­kra­tie ein­ge­setzt haben und in Gefahr sind“, sagt Gün­ter Burk­hardt, Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL. „Die Auf­nah­me muss sofort begin­nen, denn jeder Tag des War­tens ist ein Tag in Lebens­ge­fahr für die betrof­fe­nen Menschen.“

Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm noch immer unklar 

Die Zahl der Men­schen, die über die­ses Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm in Sicher­heit kom­men sol­len,  ist immer noch umstrit­ten und die Finanz­mit­tel für das Pro­gramm sind viel zu nied­rig. „Doch die Auf­nah­me aus Afgha­ni­stan darf nicht gede­ckelt wer­den, son­dern muss sich nach der Gefähr­dungs­la­ge der Men­schen rich­ten“, sagt Burk­hardt. Es gibt weit mehr gefähr­de­te Menschenrechtler*innen, Frauenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen  und Kul­tur­schaf­fen­de in Afgha­ni­stan, die Schutz in Deutsch­land brau­chen, als die Bun­des­re­gie­rung ret­ten will.
Unklar ist auch noch immer, wie die Men­schen nach Deutsch­land kom­men sol­len. Char­ter­flü­ge mit Ertei­lung von Visa bei der Ankunft in Deutsch­land wären ein Weg zur Beschleu­ni­gung. PRO ASYL for­dert zudem, auch die bedroh­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen mit nach Deutsch­land zu holen, die nicht in die deut­sche Defi­ni­ti­on von Kern­fa­mi­lie fallen.

Auf­nah­me der Orts­kräf­te ist Ver­pflich­tung, nicht Gnade 

Über­haupt kei­ne Fort­schrit­te gibt es bis­her bei der ver­spro­che­nen Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens. Die Defi­ni­ti­on, wer als Orts­kraft gilt, muss alle Gefähr­de­ten ein­schlie­ßen, zum Bei­spiel auch Subunternehmer*innen, die für die deut­sche Gesell­schaft für Inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit (GIZ) gear­bei­tet haben. PRO ASYL for­dert des­halb: „Wer durch das Han­deln Deutsch­lands in Gefahr gebracht wur­de, muss als Orts­kraft Auf­nah­me fin­den. Und dazu gehö­ren selbst­ver­ständ­lich auch die Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen. Die­se Auf­nah­me ist kein Gna­den­akt, son­dern eine recht­li­che gut begrün­de­te Ver­pflich­tung Deutsch­lands“, sag­te Gün­ter Burk­hardt mit Blick auf den 1. Orts­kräf­te­kon­gress in Ber­lin, zu dem das Paten­schafts­netz­werk  Afgha­ni­sche Orts­kräf­te e.V., der Bun­des­wehr­ver­band , die Evan­ge­li­sche Aka­de­mie Ber­lin und  PRO ASYL für Sams­tag ein­ge­la­den hatten.

Orts­kräf­te­ver­fah­ren muss refor­miert werden

Solan­ge das Orts­kräf­te­ver­fah­ren nicht refor­miert ist, müs­sen alle Men­schen Zugang zum Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm erhal­ten, die für deut­sche Insti­tu­tio­nen und deren Sub­un­ter­neh­men gear­bei­tet haben und einer Ver­fol­gung durch die Tali­ban aus­ge­setzt sind – aber nicht die engen Vor­aus­set­zun­gen für das Auf­nah­me­pro­gramm für Orts­kräf­te erfül­len. Denn die Tali­ban unter­schei­den bei ihren Rache­ak­tio­nen nicht nach der Art der Vertragsverhältnisse.

Auch eine kürz­lich ver­öf­fent­lich­te Stu­die der FAU Human Rights Cli­nic (Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg) in Koope­ra­ti­on mit PRO ASYL zeigt, dass Deutsch­land sei­nen men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen zur Auf­nah­me von Orts­kräf­ten aus Afgha­ni­stan bis­lang nicht aus­rei­chend nach­kommt. Zudem ist das Ver­fah­ren der­art intrans­pa­rent, dass vie­le Orts­kräf­te einen Antrag scheu­en, weil sie weder Dau­er und Zustän­dig­kei­ten noch die ange­wen­de­ten Gefähr­dungs­kri­te­ri­en ein­schät­zen können.

Die Stu­die pro­ble­ma­ti­siert dar­über hin­aus beson­ders die Rechts­kon­struk­ti­on für die Auf­nah­me von Orts­kräf­ten, wonach die Auf­nah­me kom­plett im Ermes­sen der Regie­rung liegt. Das führt auch dazu, dass es kaum zu einer wirk­sa­men recht­li­chen Kon­trol­le durch die Gerich­te kommt. Die Auf­nah­me ist aber kein Gna­den­akt, son­dern Pflicht.

Koali­ti­ons­ver­trag muss ein­ge­hal­ten werden

Auch wei­te­re Zusa­gen aus dem Koali­ti­ons­ver­trag sind bis­her unge­nü­gend umge­setzt: die Ertei­lung von huma­ni­tä­ren Visa für beson­ders gefähr­de­te Afghan*innen und eine Beschleu­ni­gung beim Fami­li­en­nach­zug. Dazu haben PRO ASYL, Kabul Luft­brü­cke und das Paten­schafts­netz­werk Afgha­ni­sche Orts­kräf­te schon ein hal­bes Jahr nach dem Fall von Kabul den Zehn-Punk­te-Plan „Ver­gesst Afgha­ni­stan nicht, han­delt jetzt“ ver­öf­fent­licht. Dar­in ent­hal­ten waren schon damals Bun­des- und Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­me, der Ver­zicht auf büro­kra­ti­sche Visa­ver­fah­ren und die Ein­füh­rung von Visa on Arri­val, die kon­ti­nu­ier­li­che Ertei­lung von huma­ni­tä­ren Visa für Men­schen in Lebens­ge­fahr (Para­graf 22), Schutz bedroh­ter Orts­kräf­te und ein zügi­ger Familiennachzug.

Huma­ni­tä­re Visa wei­ter­hin ausstellen

Doch die im Koali­ti­ons­ver­trag ver­spro­che­nen huma­ni­tä­ren Visa für stark gefähr­de­te Ein­zel­per­so­nen nach §22 Absatz 2 Auf­ent­halts­ge­setz wer­den nach wie vor nur schlep­pend erteilt. Hier muss groß­zü­gi­ger vor­ge­gan­gen wer­den. Und die Ertei­lung huma­ni­tä­rer Visa darf auf kei­nen Fall mit der Eröff­nung eines Bun­des­auf­nah­me­pro­gram­mes enden, wie PRO ASYL nach Äuße­run­gen des Aus­wär­ti­gen Amts befürchtet.

Denn in der Zwi­schen­bi­lanz sechs Mona­te „Akti­ons­plan Afgha­ni­stan“ des Aus­wär­ti­gen Amts heißt es: „Das im Koali­ti­ons­ver­trag ver­ein­bar­te Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm für Afgha­ni­stan befin­det sich aber noch immer im Auf­bau. Der Bun­des­tag hat hier­für Mit­tel zur Ver­fü­gung gestellt. Aktu­ell lau­fen die Abstim­mun­gen zwi­schen BMI und Aus­wär­ti­gen Amt. Bis zu des­sen Ver­wirk­li­chung wur­de für beson­ders drin­gen­de Fäl­le ein ver­ein­fach­tes Ver­fah­ren für huma­ni­tä­re Visa ver­ein­bart.“ (Her­vor­he­bung durch PRO ASYL). PRO ASYL betont: Die Ret­tung von bedroh­ten Men­schen über huma­ni­tä­re Visa muss par­al­lel zu einem Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm wei­ter­ge­führt werden.

Fami­li­en­nach­zug zu schleppend 

Viel zu lang­sam vor­an geht es auch mit dem Fami­li­en­nach­zug, auch aus Afgha­ni­stan, auf den  Orts­kräf­te und als Flücht­lin­ge aner­kann­te ein Recht haben. Doch nach wie vor sind die Hür­den, die Behör­den und das Aus­wär­ti­ge Amt auf­bau­en, zu hoch – und die Fami­li­en­mit­glie­der blei­ben unter Lebens­ge­fahr in Afgha­ni­stan. Des­halb muss die Bear­bei­tung beschleu­nigt wer­den, zum Bei­spiel durch Vor­ab­zu­stim­mun­gen der loka­len Aus­län­der­be­hör­den und mit Visa on Arrival.

Minis­te­rin Fae­ser und Minis­te­rin Baer­bock haben wie­der­holt öffent­lich deut­lich gemacht, dass die Auf­nah­me aus Afgha­ni­stan für sie eine hohe poli­ti­sche Prio­ri­tät hat. Auch im Koali­ti­ons­ver­trag heißt es: „Wir wol­len die­je­ni­gen beson­ders schüt­zen, die der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land im Aus­land als Part­ner zur Sei­te stan­den und sich für Demo­kra­tie und gesell­schaft­li­che Wei­ter­ent­wick­lung ein­ge­setzt haben.“

Zum Hin­ter­grund: PRO ASYL hat 2021 den drin­gen­den Hand­lungs­be­darf vor allem für die Orts­kräf­te schon früh erkannt und schick­te schon im April 2021 Vor­schlä­ge an deut­sche Minis­te­ri­en – unter ande­rem mit der For­de­rung nach einer sofor­ti­gen Aus­rei­se mit Visa­er­tei­lung bei der Ankunft. Als sich die Sicher­heits­la­ge wei­ter zuspitz­te, for­der­te PRO ASYL am 24. Juni eine rasche Eva­ku­ie­rung der Orts­kräf­te. Nach dem Vor­schlag für ein „Pro­gramm zur Auf­nah­me afgha­ni­scher Orts­kräf­te“ im April 2021 for­der­te PRO ASYL am 24. Juni 2021, fünf Tage vor dem end­gül­ti­gen Abzug der Bun­des­wehr, erneut Schnel­lig­keit und unbü­ro­kra­ti­sche Verfahren.

Doch statt Orts­kräf­te und ihre Fami­li­en aus­zu­flie­gen, setz­te die Bun­des­wehr ande­re Prio­ri­tä­ten. PRO ASYL erklär­te: „Es ist mehr als irri­tie­rend, dass die Bun­des­wehr rund 22.000 Liter Bier, Wein und Sekt aus­ge­flo­gen hat, aber vie­le Men­schen, die für Deutsch­land gear­bei­tet haben, zurück­ge­las­sen wer­den.“ Und als die Macht­er­grei­fung der Tali­ban unaus­weich­lich schien, for­der­te PRO ASYL am 9. August 2021eine Luft­brü­cke für Gefähr­de­te. Doch die War­nun­gen ver­hall­ten unge­hört, eine Chro­nik des Ver­sa­gens.

Eine Kurz­fas­sung der Stu­die der FAU Human Rights Cli­nic (Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg) in Koope­ra­ti­on mit PRO ASYL zum Umgang mit den Orts­kräf­ten fin­den Sie hier.

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