18.06.2021

PRO ASYL und Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) war­nen davor, dass das Recht auf Asyl und die Flücht­lings­kon­ven­ti­on von 1951 in Grie­chen­land – mit akti­ver Unter­stüt­zung der Euro­päi­schen Uni­on – gro­ßen Teils außer Kraft gesetzt wird. Wäh­rend Euro­pa das 70-jäh­ri­ge Bestehen der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on begeht, wer­den Ver­su­che unter­nom­men, deren Grund­prin­zi­pi­en zu verletzen. 

Grie­chen­land erklärt die Tür­kei zum siche­ren Dritt­staat für Flücht­lin­ge aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Paki­stan, Ban­gla­desch und Soma­lia. Seit dem 7. Juni 2021 wer­den Asyl­an­trä­ge von Antrags­stel­lern aus den genann­ten fünf Län­dern, so sie noch kei­ne Anhö­rung hat­ten, ledig­lich in Bezug auf die Tür­kei geprüft. Dies geschieht unab­hän­gig davon, ob die Ein­rei­se nach Grie­chen­land über die See- oder die Land­gren­ze erfolgt ist. Das Euro­päi­sche Unter­stüt­zungs­bü­ro für Asyl­fra­gen (EASO) hat in den ver­gan­ge­nen Tagen bereits Sachbearbeiter*innen in dem neu­en Asyl­re­gime geschult.

Die Ein­stu­fung der Tür­kei als siche­rer Dritt­staat hat gro­ße poli­ti­sche Bedeu­tung und ist Teil der Abschot­tungs­lo­gik des toxi­schen EU-Tür­kei-Deals. Die Ent­schei­dung demon­tiert im Wesent­li­chen die mini­ma­len Sicher­heits­vor­keh­run­gen des maro­den grie­chi­schen Asyl­sys­tems und gefähr­det Tau­sen­de von Schutz­su­chen­den in ekla­tan­ter Miss­ach­tung grund­le­gen­der rechts­staat­li­cher Prin­zi­pi­en. Im Jahr 2020 stam­men zwei von drei Asyl­su­chen­den in Grie­chen­land aus einem der fünf auf­ge­führ­ten Län­der (66 Pro­zent). 77 Pro­zent aller Men­schen, denen im glei­chen Zeit­raum in Grie­chen­land inter­na­tio­na­ler Schutz gewährt wur­de, stam­men aus einem der auf­ge­führ­ten Länder.

Feh­len­der Flücht­lings­schutz in Grie­chen­land wird dras­ti­sche Kon­se­quen­zen haben

Zehn­tau­sen­de Men­schen, Fami­li­en, Män­ner, Frau­en und unbe­glei­te­te Kin­der wer­den dem Risi­ko des Refou­le­ment aus­ge­setzt sein. Sie sind gefan­gen in der Hoff­nungs­lo­sig­keit auf den Inseln und dem Fest­land, in Haft, ohne Zugang zu Arbeit, Unter­brin­gung und staat­li­cher Unter­stüt­zung. Die Ent­schei­dung bringt eine wei­te­re Gene­ra­ti­on von „abge­lehn­ten“ Men­schen her­vor, die am Ran­de der Gesell­schaft ohne Doku­men­te und Rech­te leben. Dies eröff­net Schmugg­ler­netz­wer­ken gute Pro­fi­te und befeu­ert Aus­beu­tung auf allen Ebenen.

Jen­seits der unmit­tel­ba­ren Aus­wir­kun­gen auf das Leben von Geflüch­te­ten wird die Ent­schei­dung auch einen Vor­wand für den Rück­zug der Regie­rung aus grund­le­gen­den Maß­nah­men zum Schutz von Flücht­lin­gen und zur Gewähr­leis­tung ihres Zugangs zu Wohn­raum, Gesund­heits­ver­sor­gung, Bil­dung und Inte­gra­ti­on bil­den. Durch den gemein­sa­men Minis­te­ri­al­be­schluss 42799/7–6‑2021 wird Grie­chen­land erneut zu einem insti­tu­tio­nel­len Ver­suchs­la­bor flücht­lings­feind­li­cher Poli­tik. Es stellt sich poli­tisch und insti­tu­tio­nell auf die Sei­te der unga­ri­schen Regie­rung, die als ers­te in Euro­pa durch ähn­li­che Beschlüs­se eine kon­kre­te flücht­lings­feind­li­che Poli­tik vor­an­trieb, die von inter­na­tio­na­len und EU-Insti­tu­tio­nen als men­schen­rechts­wid­rig ver­ur­teilt wurde.

Wei­ter­wan­de­rung aner­kann­ter Flücht­lin­ge: Grie­chen­land unter Druck

Der­weil gewäh­ren die zustän­di­gen EU-Insti­tu­tio­nen und die Mit­glieds­staa­ten der grie­chi­schen Regie­rung eine „Car­te blan­che“. Es ist offen­sicht­lich im Inter­es­se der Staa­ten Euro­pas, dass Grie­chen­land die Ankunft von Flücht­lin­gen in der EU „vor Ort managt“ – mit mili­tä­ri­schen Mit­teln und unter Anwen­dung von Gewalt und ille­ga­len Push­backs – statt Schutz zu gewäh­ren und EU-weit Ver­ant­wor­tung für die Flücht­lings­auf­nah­me zu übernehmen.

Die Ent­schei­dung kommt nur weni­ge Tage, nach­dem sich Deutsch­land, Frank­reich und vier wei­te­re euro­päi­sche Regie­run­gen am 1. Juni 2021 mit einem Brief an die Kom­mis­si­on gewandt haben. In die­sem pran­ger­ten sie die „Sekun­där­be­we­gun­gen“ von aner­kann­ten Flücht­lin­gen mit Rei­se­do­ku­ment aus Grie­chen­land scharf an und dräng­ten auf Maß­nah­men, die Abschie­bung die­ser Grup­pe zu ermög­li­chen. Am 4. Juni 2021 wies die grie­chi­sche Regie­rung die Vor­wür­fe des „ekla­tan­ten Miss­brauchs von Rei­se­do­ku­men­ten für Flücht­lin­ge“ zurück und erin­ner­te dar­an, dass die Aus­stel­lung von Rei­se­do­ku­men­ten eine Pflicht nach inter­na­tio­na­lem und EU-Recht sei.

Grie­chen­land macht aus schutz­be­dürf­ti­gen Flücht­lin­gen Sta­tus­lo­se und Abschiebekandidat*innen

Nur drei Tage spä­ter bringt der gemein­sa­me Minis­te­ri­al­be­schluss die voll­stän­di­ge Demon­ta­ge des grie­chi­schen Asyl­sys­tems. Mit einem ein­zi­gen Trick ver­sucht Grie­chen­land, sei­ne Ver­pflich­tung, Asyl­an­trä­ge von Flücht­lin­gen aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Soma­lia, Paki­stan und Ban­gla­desch inhalt­lich zu prü­fen, zu umge­hen – im kras­sen Wider­spruch zum Recht­staat, zur Ver­fas­sung und zu inter­na­tio­na­len Ver­pflich­tun­gen. Das vor­ge­leg­te Ver­fah­ren ver­stößt auch gegen EU-Recht. Der Beschluss erklärt die Tür­kei als sicher, obwohl sie es offen­sicht­lich nicht ist, um Flücht­lin­ge aus dem Asyl­ver­fah­ren zu drän­gen. Mit der Ableh­nung ihrer Asyl­an­trä­ge als unzu­läs­sig wer­den aus schutz­be­dürf­ti­gen Flücht­lin­gen aus den genann­ten Län­dern Abschiebekandidat*innen in die Türkei.

Grie­chen­land erklärt die Tür­kei ein­sei­tig zu einem siche­ren Dritt­land für Flücht­lin­ge während

- die Tür­kei nicht in vol­lem Umfang an die Kon­ven­ti­on von 1951 und das Flücht­lings­pro­to­koll von 1967 gebun­den ist, da sie ihre Rati­fi­zie­rung für außer­eu­ro­päi­sche Asyl­be­wer­ber geo­gra­fisch beschränkt hält. Die Tür­kei bie­tet ihnen nur einen befris­te­ten Sta­tus, der in der Pra­xis kaum Schutz bie­tet. Dem­entspre­chend fal­len außer­eu­ro­päi­sche Flücht­lin­ge – in die­sem Fall Staats­an­ge­hö­ri­ge aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Soma­lia, Paki­stan und Ban­gla­desch, die in der grie­chi­schen Ent­schei­dung als „Rückkehrer*innen“ defi­niert wer­den – nicht unter einen inter­na­tio­na­len Schutz­sta­tus nach der Gen­fer Konvention.

-  offi­zi­el­le Berich­te und die stän­di­ge Recht­spre­chung inter­na­tio­na­ler Gerich­te und Gre­mi­en sys­te­ma­ti­sche und lang­jäh­ri­ge ekla­tan­te Ver­let­zun­gen der Men­schen­rech­te und der Rechts­staat­lich­keit in der Tür­kei bele­gen, die von der grie­chi­schen Regie­rung und der Mehr­heit der euro­päi­schen Län­der ange­pran­gert wer­den: Fol­ter und unmensch­li­che und ernied­ri­gen­de Behand­lung, Feh­len einer unab­hän­gi­gen und unpar­tei­ischen Jus­tiz, poli­ti­sche Will­kür, Straf­lo­sig­keit, Frei­heits­be­rau­bung, Ent­füh­run­gen und so weiter.

- die Tür­kei Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger ver­folgt, offe­ne mili­tä­ri­sche Fron­ten mit Min­der­hei­ten hat, in Syri­en ein­mar­schiert ist und zur Zwangs­ver­trei­bung bei­getra­gen hat.

For­de­run­gen von Refu­gee Sup­port Aege­an und PRO ASYL

Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) und PRO ASYL for­dern die grie­chi­sche Regie­rung auf, den Gemein­sa­men Minis­te­ri­al­be­schluss 42799/7–6‑2021 zurück­zu­zie­hen, da er gegen grund­le­gen­de Prin­zi­pi­en des Völker‑,  Ver­fas­sungs- und EU-Rechts verstößt.

RSA und PRO ASYL for­dern die zustän­di­gen inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen, ein­schließ­lich der EU-Insti­tu­tio­nen, auf, sich öffent­lich zu den Risi­ken der Ver­let­zung der Rech­te von Tau­sen­den von Flücht­lin­gen auf­grund der Umset­zung des genann­ten Beschlus­ses zu positionieren.

RSA und PRO ASYL unter­stüt­zen die grie­chi­sche Regie­rungs­po­si­ti­on, dass ein gemein­sa­mes euro­päi­sches Asyl­sys­tem auch beinhal­ten muss, dass die Mit­glied­staa­ten die Sta­tus­ent­schei­dun­gen der jeweils ande­ren voll aner­ken­nen und dass aner­kann­te Flücht­lin­ge die Frei­zü­gig­keit wie EU-Bür­ger genießen.

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