12.03.2021

Gut­ach­ten von PRO ASYL und JUMEN legt unsicht­ba­re Hür­den und Ver­fas­sungs­wid­rig­keit beim Fami­li­en­nach­zug offen

PRO ASYL und JUMEN zie­hen ein bit­te­res Fazit über die Situa­ti­on von getrenn­ten Fami­li­en von sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten. Vor fast fünf Jah­ren, am 16.03.2016, hat der Deut­sche Bun­des­tag beschlos­sen, für Flücht­lings­fa­mi­li­en, die vor Krieg und Ter­ror flie­hen, das Recht als Fami­lie zusam­men­zu­le­ben für zwei Jah­re voll­stän­dig aus­zu­set­zen. Das dann am 01.08.2018 in Kraft getre­te­ne Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­setz hat durch eine Kon­tin­gen­t­re­ge­lung aus einem Rechts­an­spruch einen Gna­den­akt des Staa­tes gemacht. Heu­te stel­len wir fest: Tau­sen­de Fami­li­en sind seit Jah­ren dau­er­haft getrennt und vie­len haben über­haupt kei­ne Chan­ce, zusam­men­zu­kom­men. Vor allem syri­sche und eri­tre­ische Schutz­su­chen­de sind von der Ein­schrän­kung des Fami­li­en­nach­zugs betrof­fen. Eine Rück­kehr, um als Fami­lie zusam­men­zu­le­ben, ist in die­se Län­der jedoch nicht möglich.

Die Orga­ni­sa­tio­nen haben seit August 2018 die Pra­xis des Nach­zugs­ver­fah­rens ana­ly­siert und zei­gen in dem Ergeb­nis­pa­pier „Zer­ris­se­ne Fami­li­en – Pra­xis­be­richt und Rechts­gut­ach­ten zum Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten“ die prak­ti­schen Pro­ble­me und die Ver­fas­sungs­wid­rig­keit der Rege­lung. Grund­ge­setz, Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on, EU-Grund­rech­te-Char­ta und UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on wer­den ver­letzt. Die Fami­li­en wer­den von den jah­re­lan­gen War­te­zei­ten zer­mürbt, ihr Leid wird noch nicht ein­mal mehr öffent­lich wahrgenommen.

PRO ASYL und JUMEN for­dern die Auf­he­bung des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes

Der Pra­xis­be­richt und das Rechts­gut­ach­ten zei­gen, dass die getrof­fe­nen gesetz­li­chen Rege­lun­gen fata­le Aus­wir­kun­gen haben. PRO ASYL und JUMEN for­dern die Auf­he­bung des Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­set­zes und somit die Gewähr­leis­tung des Rechts als Fami­lie zusam­men­zu­le­ben. Sub­si­di­är Geschütz­te müs­sen wie­der mit GFK-Flücht­lin­gen gleich­ge­stellt wer­den, da bei­den Grup­pen der Weg in das Her­kunfts­land län­ger­fris­tig ver­sperrt ist.

Außer­dem muss die Fami­li­en­ein­heit zeit­nah her­ge­stellt, das Visum zur Ein­rei­se spä­tes­tens inner­halb von drei Mona­ten erteilt wer­den. Wenn für erwünsch­te Arbeits­mi­gra­ti­on in weni­gen Wochen ein Visums­ver­fah­ren abge­schlos­sen ist, dann muss dies auch für geflüch­te­te Fami­li­en gel­ten. PRO ASYL und JUMEN hal­ten den Ver­weis auf die Coro­na-Pan­de­mie für vor­ge­scho­ben. Die Coro­na-Pan­de­mie hat die Situa­ti­on ver­schärft, ist jedoch nicht die Ursa­che: Schon zuvor im 1. Quar­tal 2020 sind die ana­ly­sier­ten Miss­stän­de festzustellen.

Aus­wär­ti­ges Amt ent­zieht sich gericht­li­cher Kontrolle

PRO ASYL und JUMEN wer­fen dem Aus­wär­ti­gen Amt vor, das Ver­fah­ren so zu steu­ern, dass die Rechts­wid­rig­keit von Gesetz­ge­bung und Ablauf des Ver­fah­rens von Gerich­ten nicht fest­ge­stellt wer­den kann: Es deckelt die Ter­min­ver­ga­be und schafft dadurch einen Fla­schen­hals – oft­mals wer­den kaum mehr als 1.000 Anträ­ge im Monat von den deut­schen Aus­lands­ver­tre­tun­gen an die Aus­län­der­be­hör­den in Deutsch­land wei­ter­ge­lei­tet (sie­he Deut­scher Bun­des­tag, Druck­sa­che 19/14640, S.10 ff.).

Es kann aber nur jemand kla­gen, des­sen Antrag über­haupt erst ein­mal bear­bei­tet und dann abge­lehnt wur­de. Dadurch kön­nen gera­de die Fäl­le, die mit ihren Anträ­gen nie durch­kom­men oder in War­te­schlei­fen hän­gen, nicht vor das zustän­di­ge Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin gebracht wer­den[1]. Das poli­tisch hoch­um­strit­te­ne Gesetz zur Kon­tin­gen­tie­rung wird somit einer gericht­li­chen Kon­trol­le ent­zo­gen. In gro­ßem Stil wird der Fami­li­en­nach­zug ver­hin­dert, ohne dass die Ent­schei­dun­gen trans­pa­rent nach­voll­zieh­bar sind und somit das Behör­den­han­deln durch Gerich­te geprüft wird. Die Betrof­fe­nen wer­den in einem, wegen der Betei­li­gung von IOM, Aus­wär­ti­ges Amt/Botschaften, Aus­län­der­be­hör­den und Bun­des­ver­wal­tungs­amt, auf­ge­bläh­ten und intrans­pa­ren­ten Ver­fah­ren jah­re­lang hingehalten.

Lan­ge War­te­zei­ten, feh­len­de Priorisierung

Der Antrag­stel­lung bei den Aus­lands­ver­tre­tun­gen gehen War­te­zei­ten für Ter­mi­ne, um vor­spre­chen zu dür­fen, von 12–18 Mona­ten vor­aus. Danach sind die Aus­län­der­be­hör­den am Zug – vie­le blo­ckie­ren durch im Gesetz nicht vor­ge­se­he­ne Prüf­an­for­de­run­gen. Bei­spiels­wei­se wird in der Pra­xis oft der Wohn­raum­nach­weis oder die Lebens­un­ter­halts­si­che­rung gefor­dert, wel­che aus­drück­lich kei­ne Vor­aus­set­zung sein sol­len. Das Ver­fah­ren ist vom Aus­wär­ti­gen Amt so orga­ni­siert, dass weder bei den Bot­schaf­ten, noch bei den Aus­län­der­be­hör­den noch beim Bun­des­ver­wal­tungs­amt eine Prio­ri­sie­rung von beson­de­rer Här­te stattfindet.

Das Rechts­gut­ach­ten zeigt die Ver­stö­ße gegen Grund- und Men­schen­rech­te auf:

  • Das Kon­tin­gent sowie die in der Pra­xis auf­tre­ten­den erheb­li­chen War­te­zei­ten und das nicht aus­ge­schöpf­te Kon­tin­gent ver­sto­ßen gegen das Recht auf Fami­li­en­le­ben in Art. 6 GG und in Art. 8 EMRK.
  • Das Kin­des­wohl gem. Art 3 UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on wird man­gels feh­len­der Prio­ri­sie­rung nicht berücksichtigt.
  • Die unter­schied­li­chen Rege­lun­gen für Men­schen mit Aner­ken­nung nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK-Flücht­lin­ge) und sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te ver­sto­ßen gegen das Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot des Grund­ge­set­zes und der EU-Grund­rech­te-Char­ta. Es gibt kei­nen Grund, poli­tisch Ver­folg­te aus Syri­en anders zu behan­deln, als vor Fol­ter, Todes­stra­fe oder unmensch­li­cher Behand­lung durch das Asad-Regime Geflo­he­ne. Bei­de Grup­pen kön­nen auf unbe­stimm­te Dau­er nicht in das Her­kunfts­land zurück.

PRO ASYL und JUMEN erhe­ben zudem den Vor­wurf, dass mit dem Argu­ment maß­los über­höh­ter Zuzugs­pro­gno­sen 2018 das Grund­recht auf Fami­lie für sub­si­di­är Geschütz­te besei­tigt wurde. 

Seit August 2018 wur­den ins­ge­samt nur 19.056 Fami­li­en­nach­zugs­vi­sa erteilt, aktu­ell lie­gen noch für 11.400 Per­so­nen ent­spre­chen­de Ter­min­an­fra­gen vor. Rech­net man dies zusam­men beträgt die aktu­el­le Zahl nur ein Zehn­tel der dama­li­gen Pro­gno­se. Der heu­ti­ge Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer hat­te in den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen mit der SPD Anfang 2018 gewarnt, bis zu 300.000 Ange­hö­ri­ge wür­den nach Deutsch­land kom­men wol­len, wenn der Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten wie­der ermög­licht würde.

Im gesam­ten Jahr 2020 wur­den nur 5311 Visa welt­weit an Ange­hö­ri­ge von sub­si­di­är Geschütz­ten durch die deut­schen Bot­schaf­ten erteilt, also 44,2 % des fest­ge­leg­ten 1000er Kon­tin­gents. In den 29 Mona­ten seit Beginn der Neu­re­ge­lung wur­den statt der zuge­sag­ten 29.000 Visa nur 19.056 Visa erteilt, das ent­spricht 65,7% der ver­spro­che­nen Zusage.

Ursprüng­lich war 2016 bei der Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs von der Poli­tik eigent­lich ver­spro­chen wor­den, dass die alte Rechts­la­ge nach zwei Jah­ren auto­ma­tisch wie­der in Kraft tre­ten und das Recht auf Fami­li­en­nach­zug dann wie­der mög­lich sein soll.

[1] Das Verwaltungsgericht Berlin ist zuständig, da sich die Klage gegen das Auswärtige Amt richtet. Derzeit sind laut telefonischer Auskunft ca. 170 Klagen gegen Entscheidungen im Familiennachzug anhängig (Stand 26.02.21).
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