16.12.2021

Frei­tal, Dres­den, Trög­litz, Chem­nitz und vie­le wei­te­re Orte ste­hen bis heu­te für Gewalt gegen Geflüch­te­te, die vor allem bis 2018 Schlag­zei­len mach­te. Die Auf­merk­sam­keit für flücht­lings­feind­li­che Gewalt ist abge­ebbt, obwohl es bis heu­te deutsch­land­weit zu durch­schnitt­lich zwei flücht­lings­feind­li­chen Vor­fäl­len täg­lich kommt. Das belegt eine Lang­zeit­aus­wer­tung der Ama­deu Anto­nio Stif­tung unter dem Titel „Leben in Gefahr – Gewalt gegen Geflüch­te­te in Deutsch­land“.

Allein für das Jahr 2020 erfasst die Chro­nik flücht­lings­feind­li­cher Vor­fäl­le mehr als 1600 Angrif­fe gegen Geflüch­te­te. Die Ama­deu Anto­nio Stif­tung und PRO ASYL kri­ti­sie­ren die man­gel­haf­te Erfas­sung von offi­zi­el­ler Sei­te und for­dern die Innen­mi­nis­te­ri­en von Bund und Län­dern zu einer voll­stän­di­gen und trans­pa­ren­ten Zäh­lung sowie der zeit­na­hen Ver­öf­fent­li­chung der Fäl­le auf.

Geflüch­te­te, die mit Base­ball­schlä­gern ver­prü­gelt wer­den oder Kin­der, die auf dem Weg in die Schu­le bespuckt und geschla­gen wer­den: Selbst kras­se Fäl­le von Kör­per­ver­let­zung wer­den – wenn es um Geflüch­te­te geht – durch die Ein­gangs­sta­tis­ti­ken der Poli­zei häu­fig nicht erfasst. Das offen­bart eine heu­te vor­ge­stell­te Lang­zeit­aus­wer­tung der Ama­deu Anto­nio Stif­tung und PRO ASYL. Dar­in wird auch deut­lich, dass die Sta­tis­tik durch das kom­pli­zier­te Nach­mel­de­pro­ze­de­re zeit­lich ver­zerrt wird, da Taten mit­un­ter erst zwei Jah­re spä­ter in der Zäh­lung auftauchen. 

Seit 2015 doku­men­tiert die Ama­deu Anto­nio Stif­tung flücht­lings­feind­li­che Vor­fäl­le in einer gemein­sa­men Chro­nik mit PRO ASYL. Mehr als 11.000 Vor­fäl­le, davon 284 Brand­an­schlä­ge und 1.981 Kör­per­ver­let­zun­gen, lis­tet die öffent­lich zugäng­li­che Chro­nik seit­dem. Die Bro­schü­re „Leben in Gefahr. Gewalt gegen Geflüch­te­te in Deutsch­land“ wer­tet die Doku­men­ta­ti­on aus und berei­tet sie in Form von Info­gra­fi­ken auf. Die Aus­wer­tung offen­bart eine ekla­tan­te Ver­zer­rung im Ver­gleich zur offi­zi­el­len Kri­mi­nal­sta­tis­tik, die die Delik­te nur man­gel­haft und mit gro­ßer zeit­li­cher Ver­zö­ge­rung erfasst.

Man­geln­de Sen­si­bi­li­tät und Res­sour­cen bei der Polizei

„Es kann nicht sein, dass wir zwar wis­sen, wie vie­le Hand­ta­schen 2020 gestoh­len wer­den, aber schwe­re Kör­per­ver­let­zun­gen, Anfein­dun­gen und Mord­ver­su­che gegen Geflüch­te­te in der offi­zi­el­len Sta­tis­tik nicht auf­tau­chen. Es fehlt bei der Poli­zei an Sen­si­bi­li­tät, Auf­merk­sam­keit und Res­sour­cen, die­se Straf­ta­ten zu ver­fol­gen. Gewalt gegen Geflüch­te­te bleibt ein mas­si­ves Pro­blem, das spä­tes­tens seit 2018 schlag­ar­tig aus Debat­ten und Schlag­zei­len ver­schwun­den ist“, sagt Tahe­ra Ameer, Lei­te­rin der Arbeit gegen Ras­sis­mus bei der Ama­deu Anto­nio Stif­tung. „Nur, weil dar­über nie­mand mehr spricht, hat sich die Situa­ti­on der Betrof­fe­nen nicht gebes­sert. Ganz im Gegen­teil: Nach wie vor wer­den Unter­künf­te ange­zün­det und Men­schen wer­den mehr­mals täg­lich Opfer von Gewalt. Es gibt für Betrof­fe­ne Angst­räu­me, die gan­ze Regio­nen umfas­sen. Der Rechts­staat hat ver­sagt, er schützt die Men­schen nicht. Wer die Gewalt durch mas­si­ve Unte­r­er­fas­sung unsicht­bar macht, macht auch die Men­schen unsichtbar.“

Die Orga­ni­sa­tio­nen for­dern das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um auf, die Zäh­lung zu ver­bes­sern und Fäl­le voll­stän­dig und zeit­nah mit einer Pres­se­mel­dung zu ver­öf­fent­li­chen. Die bis­he­ri­ge Erfas­sung hin­ter­lässt den Ein­druck, man wol­le flücht­lings­feind­li­che Gewalt unsicht­bar und eine zivil­ge­sell­schaft­li­che und jour­na­lis­ti­sche Doku­men­ta­ti­on unmög­lich machen.

„Wir füh­len uns allein gelassen“

„Die Bedro­hungs­si­tua­ti­on gegen Geflüch­te­te hat nicht abge­nom­men: Wir füh­len uns allein gelas­sen. Ich ken­ne kei­nen, der nicht auch ein Lied davon sin­gen kann, wie es sich anfühlt immer auf der Hut zu sein, ganz egal ob beim Ein­kau­fen oder beim Spa­zie­ren gehen. Fast jeder, den ich ken­ne, wur­de schon ein­mal beschimpft, bedroht oder geschla­gen. Die Angst vor sol­chen Erfah­run­gen ist unser täg­li­cher Beglei­ter“, berich­tet die Autorin und Stu­den­tin Naya Fahd, die 2016 nach Deutsch­land kam und sich in Meck­len­burg-Vor­pom­mern für Geflüch­te­te enga­giert. Mitt­ler­wei­le lebt und arbei­tet sie in Berlin.

Dass sich die täg­li­che Bedro­hung und Gewalt nach­hal­tig auf die Lage der Betrof­fe­nen aus­wir­ken, bestä­tigt Lukas Welz, Geschäfts­füh­ren­der Lei­ter des Bun­des­ver­bands psy­cho­so­zia­ler Zen­tren für Über­le­ben­de von Fol­ter, Krieg und Flucht, aus lang­jäh­ri­ger Erfah­rung: „Vie­le Geflüch­te­te haben schmerz­li­che Erfah­run­gen mit Gewalt und Ver­fol­gung in ihrem Hei­mat­land gemacht. Wenn sie dann all­täg­lich mit Ras­sis­mus kon­fron­tiert sind, mit stän­di­ger Bedro­hung und Gewalt auf der Stra­ße, wie kön­nen wir da von Sicher­heit, von einem men­schen­wür­di­gen Asyl sprechen?“

Der­zeit setzt die rechts­extre­me Sze­ne auf das The­ma Coro­na und hat gro­ßen Erfolg, damit Mas­sen zu mobi­li­sie­ren. Es sind jedoch die glei­chen Akteu­re, die seit 2013 zu Pro­tes­ten gegen Geflüch­te­te auf­ru­fen. Spä­tes­tens mit dem Ende der Pan­de­mie wird die rech­te Sze­ne wie­der auf das Asyl-The­ma umschwen­ken. Schon jetzt wird mit der Situa­ti­on an den EU-Außen­gren­zen Stim­mung gemacht. Mit dem Bild einer neu­en soge­nann­ten ’Mas­sen­mi­gra­ti­on’ wer­den Feind­bil­der geschürt und Angst verbreitet.

Auf­lö­sung von Mas­sen­un­ter­künf­ten als Prä­ven­ti­on gegen Rassismus

„Ras­sis­ti­sche Gewalt muss geahn­det wer­den, und damit Täter*innen vor Gericht ver­ur­teilt wer­den, müs­sen die Betrof­fe­nen in Deutsch­land sein, sonst kön­nen sie nicht aus­sa­gen. Nötig ist des­halb eine Blei­be­rechts­re­ge­lung für Opfer ras­sis­ti­scher Gewalt“, for­dert Gün­ter Burk­hardt, Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL. „Die­se Men­schen sind nicht nur kör­per­lich ver­letzt wor­den, es han­delt sich um Angrif­fe auf ihr Mensch­sein. Der Staat muss den Täter*innen zei­gen, dass er sich ihrem schänd­li­chen Anlie­gen, Men­schen aus dem Land zu ver­trei­ben, ent­ge­gen­stellt. Um wei­te­rer Gewalt vor­zu­beu­gen, muss die Iso­la­ti­on Geflüch­te­ter in Anker­zen­tren und ähn­li­chen Groß­un­ter­künf­ten, in denen Schutz­su­chen­de zer­mürbt wer­den, been­det wer­den. Die Koali­ti­on hat jetzt die Chan­ce, das poli­ti­sche Ver­sa­gen der letz­ten Jah­re zu kor­ri­gie­ren. Eine Befris­tung der Auf­ent­halts­dau­er in den Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen auf höchs­tens drei Mona­te wäre das mindeste.“

In der Publi­ka­ti­on „Leben in Gefahr – Gewalt gegen Geflüch­te­te in Deutsch­land“ erzäh­len Geflüch­te­te die Geschich­ten ihrer Flucht, ihres Ankom­mens, ihres Ein­sat­zes – und der Gewalt gegen sie. Die Lang­zeit­aus­wer­tung der Vor­fäl­le beleuch­tet die man­gel­haf­te Erfas­sung sol­cher Taten, ihre zeit­li­che und räum­li­che Ver­tei­lung und nennt not­wen­di­ge Maß­nah­men, um Hass­ge­walt gegen Geflüch­te­te zu begeg­nen und Betrof­fe­ne zu stärken.

Die Lang­zeit­aus­wer­tung kann kos­ten­frei hier her­un­ter­ge­la­den werden. 

Die Chro­nik flücht­lings­fein­der­li­cher Gewalt (Stand 16.12.2021) ist hier ein­seh­bar.

Eine digi­ta­le Pres­se­map­pe mit wei­te­re Infor­ma­tio­nen und Gra­fi­ken zum Abdruck steht hier zum Down­load bereit (Pass­wort: leben­in­ge­fahr).

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