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»Niemand will zugeben, welche Behörden und Strukturen versagt haben«
Die Opfer und ihre Namen ins Zentrum rücken: #SayTheirNames. Das gelingt der »Initiative 19. Februar Hanau« seit zwei Jahren. Doch mit der Erinnerung müssen sich Aufklärung und Konsequenzen verbinden, sagt Newroz Duman, Sprecherin der Initiative. Behörden und Gesellschaft müssen die Existenz von strukturellem Rassismus anerkennen und bekämpfen.
Zum zweiten Jahrestag des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau fordert die »Initiative 19. Februar Hanau« Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen. Ist Erinnerung die Basis?
Die Initiative hat sich damals sehr schnell nach dem rassistischen Anschlag gebildet und auch diese zentralen Forderungen entwickelt. Seitdem arbeiten wir parallel an Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen. Wir erinnern an den 19. Februar und an die Tat. Aber mit der Erinnerung müssen sich Aufklärung, Aufarbeitung und Konsequenzen verbinden, sonst ist sie nicht vollständig. Wir müssen uns klar machen, was passiert ist, warum es nicht verhindert wurde und was die Gesellschaft damit zu tun hat.
Und wir haben schon früh, 48 Stunden nach dem Anschlag, mit #SayTheirNames darauf gedrungen, die neun Opfer in den Mittelpunkt zu stellen, nicht den Täter.
Seitdem sind die Namen und Bilder der neun Ermordeten, acht Männer und eine Frau, an vielen Stellen, an den Straßen und auf Plätzen ebenso wie im Internet und auf Social Media-Plattformen, zu sehen: Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Păun, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. Funktioniert #SayTheirNames?
Ja, wir haben die Opfer ins Zentrum der Öffentlichkeit rücken können. Und weil die Initiative 19. Februar eine Selbstorganisation ist, kommen die Stimmen der Angehörigen und überlebenden Opfer hinzu. Niemand hat sich zurückgezogen, seit zwei Jahren kämpfen sie kontinuierlich für Aufklärung, sprechen bei Veranstaltungen, geben Interviews, leisten Lobby-Arbeit und haben den Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag mit erkämpft. Und sie haben immer wieder Fragen gestellt an Politikerinnen und Politiker, Behörden und andere Beteiligte. Aber sie haben keine Antworten bekommen, niemand will zugeben, dass Fehler passiert sind, welche Behörden und Strukturen versagt haben: schon bei der ganzen Reihe von rassistischen Anschlägen vor Hanau, am Tatabend selbst und in den Wochen und Monaten danach. Deshalb ist die Öffentlichkeit unser stärkstes Instrument, alles, was wir inzwischen wissen, ist durch die Angehörigen und die Medien ans Tageslicht gekommen.
Auch deshalb bittet die Initiative derzeit um Spenden, 100.000 Euro sollen zusammenkommen, um mit Hilfe von forensischen Untersuchungen den Tathergang lückenlos aufzuklären. Zudem tagt der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags seit Anfang Dezember 2021. Wird dort Aufklärung geleistet?
Das kann ich noch nicht sagen. Bisher gab es erst fünf Termine, bei den ersten vier haben Angehörige und überlebende Opfer berichtet, am fünften Tag berichtete ein Gutachter über den Täter. Aber ich habe den Eindruck, dass die Koalition aus CDU und Grünen versucht, vieles zu relativieren. Das schließe ich aus den Fragen, die sie den Angehörigen gestellt haben.
Nun steht mit dem 19. Februar 2022 der zweite Jahrestag des Mordanschlags an, viele Gedenkfeiern und Veranstaltungen sind geplant. Reicht das?
Auf jeden Fall ist es wichtig, am 19. Februar an die Tat zu erinnern. Aber die Erinnerung nur an einem Jahrestag reicht nicht aus. Die Erinnerung muss ganz unterschiedlich gestaltet werden, sie muss in der ganzen Gesellschaft und im Alltag Platz finden. Nur wenn wir sie überall lebendig halten, können wir die Gesellschaft verändern. Denn alle müssen Verantwortung übernehmen.
Wie soll die Gesellschaft die Erinnerung umsetzen und Verantwortung übernehmen?
Zum Beispiel im Bildungssystem. Dort muss die Kontinuität und Tradition des rechten Terrors in Deutschland thematisiert werden. Und auch der strukturelle Rassismus gehört auf die Lehrpläne. Denn der Täter von Hanau war kein Einzeltäter im luftleeren Raum, er hat sich ernährt aus der gesellschaftlichen Hetze, die überall gegenwärtig ist. Auch rassistische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und racial profiling müssen sichtbar gemacht werden. Und es geht auch um Gesetze. Da müssen Fragen beantwortet werden: Welche Menschen werden von Gesetzen ausgeschlossen? Sind wirklich alle Menschen gleichberechtigt? Werden alle gleich behandelt? Da gibt es sehr viele Menschen in Deutschland, die das verneinen. Auch unter den Opfern und Angehörigen sind viele, die wissen, wie es ist, von der Polizei kontrolliert zu werden, nur wegen der Hautfarbe oder Haarfarbe.
Können Sie beschreiben, welche Rolle der strukturelle Rassismus für den Anschlag in Hanau mit allen seinen Folgen spielt?
Das reicht schon weiter zurück. Zum Beispiel: Wieso konnte der Täter seine Waffen behalten? Er war den Behörden bekannt, aber seine Äußerungen wurden nicht ernst genommen. Und 2017 gab es einen Vorfall am Jugendzentrum in der Nähe des zweiten Tatorts und des Täterhauses: Ein bewaffneter Mann bedrohte die Jugendlichen dort. Doch die alarmierten Polizisten haben als erstes die Jugendlichen dort auseinandergenommen, der Bewaffnete wurde nicht gefunden. Und in der Tatnacht: Ein Schwerverletzter wurde nach seinem Ausweis gefragt. Der Umgang mit den Opfern und Angehörigen hat strukturelle Hintergründe. Struktureller Rassismus existiert, das müssen wir nicht mehr belegen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser will vor Ostern einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus vorlegen. Wie muss der Ihrer Ansicht nach aussehen?
Da gibt es viele Punkte. Ein paar Beispiele: Das Waffenrecht muss geändert werden, viel zu viele Rassisten in Deutschland dürfen legal Waffen besitzen. Zudem kämpfen wir für Opferentschädigungsgesetze. Opfer und Angehörige von rechtsterroristischen Taten müssen sozial und finanziell unterstützt werden, langfristig und unkompliziert. Außerdem muss es in den Behörden grundlegende Veränderungen geben: Sie müssen ihrem eigenen Versagen nachgehen. Und sie müssen sich mit der langen Geschichte des rechten Terrors in Deutschland und mit ihrer eigenen Rolle dabei auseinandersetzen – und Konsequenzen ziehen.
Newroz Duman ist Sprecherin der »Initiative 19. Februar Hanau«, in der sich Angehörige der Opfer des rassistisch motivierten Anschlags am 19. Februar 2020 in Hanau zusammengeschlossen haben. Sie ist zudem Mitglied im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL und bekannt durch ihre Arbeit bei »Jugendliche ohne Grenzen« (JoG), einem Zusammenschluss junger Flüchtlinge.
(wr)