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Gekürzte Leistungen an Flüchtlinge verfassungswidrig?
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet am 18. Juli 2012 über die Vorlagen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zur Frage, ob die sogenannten "Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz" verfassungsgemäß sind.
Flüchtlinge müssen in Deutschland mit weniger als zwei Drittel der Hartz-IV-Sätze auskommen – sie erhalten Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Diese werden häufig in Form entmündigender Lebensmittelpakete oder von Gutscheinen ausgegeben.
Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wurde 1993 ein Sondergesetz geschaffen, das deutlich abgesenkte Leistungen festsetzte und vorrangig Sachleistungen anstelle von Geldleistungen vorsah. Das Asylbewerberleistungsgesetz war Teil des sog. Asylkompromisses und wurde als Instrument der Abschreckung eingeführt.
Das Bundesverfassungsgericht hat am Weltflüchtlingstag, dem 20. Juni 2012, über die Leistungen für Asylbewerber mündlich verhandelt.
Derzeit seien rund 130.000 Menschen betroffen, von denen zwei Drittel seit mehr als sechs Jahren in Deutschland lebten, sagte die Berichterstatterin des Verfahrens, Verfassungsrichterin Susanne Baer. Dass trotz einer Preissteigerung um mehr als 30 Prozent seither keine Anpassung der Leistungen erfolgte, stieß bei den Richterinnen und Richtern auf Unverständnis. Der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, sagte zum Prozessvertreter der Bundesregierung: „Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die schon, könne es doch wohl nicht sein.“
Seit Einführung des Gesetzes gabe es keine Erhöhung der Leistungen. Stattdessen wurde der Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes im Laufe der Jahre ausgeweitet. Dieses Gesetz findet heute auf Menschen in rechtlich und tatsächlich sehr unterschiedlichen Lebenslagen Anwendung. Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und andere im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis befindliche Personen, Geduldete und vollziehbar Ausreisepflichtige sowie deren Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder.
Dass das AsylbLG verfassungswidrig sein könnte, hat auch die zuständige Ministerin Frau von der Leyen am 10.November 2010 in einer Antwort auf eine Bundestagsanfrage mitgeteilt. Allerdings blieb die Bundesregierung bis heute untätig. Seit 1993 wurden die Sätze für Asylsuchende nicht angehoben. Die Leittragenden sind die Betroffenen.
Länderpraxis sehr unterschiedlich
Wegen des hohen Verwaltungsaufwandes der Sachleistungsversorgung macht bundesweit inzwischen die Mehrzahl der Länder und Kreise von der Möglichkeit der Geldleistungsgewährung Gebrauch:
- Geldleistungen: Hamburg, Berlin, Bremen, Hessen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gewähren (flächendeckend), Schleswig-Holstein, NRW und Rheinland-Pfalz (überwiegend).
- Teilweise Geldleistungen: Manche Kreise in Brandenburg, Sachsen (Dresden, Leipzig u.a.).
- Gutscheine: Niedersachsen (flächendeckend), Thüringen (ganz überwiegend), Brandenburg und Sachsen (teilweise)
- Sachleistungen (Essenspakete usw.): Saarland, Bayern und Baden-Württemberg
Weiterführende Informationen:
Aufsatz von Marei Pelzer (PRO ASYL) und Matthias Lehnert (GGUA): Diskriminierendes Sondergesetz: Warum das Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig ist, aus: Kritische Justiz 2010, S. 452–459
Stellungnahme von Georg Classen, Berliner Flüchtlingsrat
Dokumente zum Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht:
Vorlagebeschluss LSG NRW L 20 AY 13/09 v. 26.07.2010 (AsylbLG-Leistungen für Alleinstehende)
Vorlagebeschluss LSG NRW L 20 AY 1/09 v. 22.11.2010 (AsylbLG-Leistungen für Kinder)
Hinweis: Die Urteilsverkündung findet statt am 18. Juli 2012, 10.00 Uhr im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, Amtssitz „Waldstadt“, Rintheimer Querallee 11, 76131 Karlsruhe