09.09.2014
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Auch Kinder müssen oft jahrelang in Flüchtlingslagern wie hier in Würzburg leben. Freundschaften außerhalb der Lager zu schließen ist schwer. Foto: Chris Grodotzki / visual-rebellion.com

Das UN Kinderhilfswerk (UNICEF) hat die Situation von Flüchtlingskindern in Deutschland untersucht. Die Ergebnisse sind alarmierend: Von Jungendämtern und Jugendhilfe vergessen leiden Flüchtlingskinder unter rechtlicher Diskriminierung und Isolation.

Der heu­te von UNICEF vor­ge­stell­te Bericht „Flücht­lings­kin­der in Deutsch­land“ belegt, was Flücht­lings­or­ga­ni­sa­tio­nen seit vie­len Jah­ren vehe­ment kri­ti­sie­ren: Die Unter­brin­gung in Flücht­lings­la­gern scha­det der Kin­des­ent­wick­lung, kin­der­spe­zi­fi­sche Flucht­grün­de wer­den igno­riert, ihre medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und ihr Zugang zu Bil­dung sind ein­ge­schränkt, sie erhal­ten zu wenig Unter­stüt­zung durch die Jugend­äm­ter. Kurz­um: Deutsch­lands dis­kri­mi­nie­ren­der Umgang mit Flücht­lings­kin­dern ver­letzt Kinderrechte.

Das Fazit der Autoren ist ver­nich­tend. „Ob beim Bil­dungs­zu­gang, den Mög­lich­kei­ten der Bera­tung und Unter­stüt­zung, der Beach­tung in asyl- und auf­ent­halts­recht­li­chen Ver­fah­ren oder durch sozia­le Aus­gren­zung: Die Benach­tei­li­gun­gen und Hin­der­nis­se machen die Kind­heit der Flücht­lings­kin­der zu einem Hür­den­lauf mit offe­nen Ausgang.“

Kin­des­wohl­ge­fähr­dung durch Unter­brin­gung in Flüchtlingslagern

Flücht­lings­kin­der müs­sen oft über vie­le Jah­re hin­weg in Flücht­lings­la­gern – den soge­nann­ten „Gemein­schafts­un­ter­künf­ten“ – leben. Die Unter­su­chung zeigt, dass die­se Form der Unter­brin­gung der  Kin­des­ent­wick­lung scha­det – ins­be­son­de­re wäh­rend der Puber­tät: In Flücht­lings­la­gern gibt es für die Kin­der und Jugend­li­chen oft kei­ner­lei Pri­vat­sphä­re und es fehlt ein kind­ge­rech­tes Lern­um­feld. Fami­li­en sind oft gezwun­gen, gemein­sam in ein bis zwei Räu­men zu leben. Bäder und Küchen wer­den zudem oft mit wei­te­ren Per­so­nen geteilt. Die den Betrof­fe­nen zuste­hen­de Min­dest­qua­drat­me­ter­zahl liegt  – sofern das jewei­li­ge Bun­des­land dies über­haupt defi­niert hat – weit unter dem Niveau von Hartz IV-Emp­fän­gern. Das Leben im Flücht­lings­la­ger wirkt dar­über hin­aus stig­ma­ti­sie­rend. Schul­freun­de wer­den aus Scham oft gar nicht erst in die Gemein­schafts­un­ter­kunft ein­ge­la­den. UNICEF emp­fiehlt daher die Unter­brin­gung in Wohnungen.

Asyl­be­wer­ber­leis­tun­gen: Drei­fa­che Diskriminierung

Laut UNICEF wir­ken die ver­min­der­ten Asyl­be­wer­ber­leis­tun­gen (Asyl­bLG) gleich mehr­fach dis­kri­mi­nie­rend auf Flücht­lings­kin­der. Medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung steht ihnen nur nach vor­he­ri­ger Geneh­mi­gung durch die Sozi­al­äm­ter und nur bei „aku­ten Erkran­kun­gen und Schmerz­zu­stän­den“ zu. Das so genann­te „Sach­leis­tungs­prin­zip“ garan­tiert ihnen noch immer nur eine Ver­sor­gung mit Essens­pa­ke­ten, die Eltern kei­ne Wahl las­sen, wie sie ihre Kin­der ernähren.

Gefähr­dun­gen für Kin­der wer­den im Asyl- und Dub­lin­ver­fah­ren oft ignoriert

Kin­der haben oft eige­ne Flucht­grün­de. Ihnen kön­nen Zwangs­re­ku­tie­rung als Kin­der­sol­da­ten, Beschnei­dung, inner­fa­mi­liä­re Gewalt oder auch Zwangs­ver­hei­ra­tun­gen dro­hen. Laut UNICEF-Stu­die wer­den die­se kin­der­spe­zi­fi­schen Flucht­grün­de im Asyl­ver­fah­ren kaum beach­tet. Die schlimms­te Fol­ge: Fami­li­en wer­den abge­scho­ben, obwohl nur geprüft wur­de, ob den Eltern eine Gefahr droht – ob die Kin­der gefähr­det sind, wird laut UNICEF meist gar nicht erst abgefragt.

Dies betrifft auch und ins­be­son­de­re Abschie­bung im Rah­men der Dub­lin-Ver­ord­nung – also die Abschie­bung in den­je­ni­gen EU-Staat, in dem die Flücht­lin­ge zuerst regis­triert wur­den. UNICEF kri­ti­siert, dass das Kin­des­wohl bei Abschie­bun­gen in Län­dern wie Bul­ga­ri­en, Ita­li­en, Mal­ta oder Zypern nicht aus­rei­chend beach­tet wird. In die­sen Län­dern dro­hen Flücht­lin­gen erheb­li­chen Gefah­ren durch Obdach­lo­sig­keit, Haft oder feh­len­de (medi­zi­ni­sche) Ver­sor­gung. All das trifft Kin­der am här­tes­ten. UNICEF for­dert daher eige­ne Anhö­run­gen von Kin­dern und Jugend­li­chen im Asyl- und Dub­lin­ver­fah­ren durch spe­zi­ell geschul­tes Personal.

Ein Leben auf Abruf: Kin­der im Sta­tus der Duldung

Der UNICEF Bericht belegt, dass Flücht­lings­kin­der häu­fig unter der auf­ent­halts­recht­li­chen Unsi­cher­heit lei­den. 25.000 Kin­der und Jugend­li­che leb­ten Ende 2013 nur gedul­det in Deutsch­land, 40.000 befan­den sich im Asyl­ver­fah­ren. Sie alle wis­sen nicht: Kann ich in Deutsch­land blei­ben? Wer­de ich abge­scho­ben? UNICEF kri­ti­siert, dass vie­le Kin­der über Jah­re hin­weg mit die­ser Unsi­cher­heit leben müs­sen. Die Autoren for­dern daher, dass das Auf­ent­halts­recht refor­miert wird und Flücht­lings­kin­dern und ihren Fami­li­en ein schnel­ler Zugang zu Auf­ent­halts­er­laub­nis­sen ermög­licht wird.

Von Jugend­hil­fe und Jugend­mi­gra­ti­ons­diens­ten vergessen 

UNICEF kri­ti­siert, dass die Hil­fe­sys­te­me der Jugend­äm­ter bei Kin­dern, die mit ihren Eltern in Flücht­lings­la­gern leben, fast nicht prä­sent sind. Zwar habe sich die Betreu­ungs­si­tua­ti­on von unbe­glei­te­ten min­der­jäh­ri­gen Flücht­lin­gen etwas ver­bes­sert, doch Kin­der und Jugend­li­che, die mit ihren Eltern geflo­hen sind, wür­den erst bei einer Unter­brin­gung in Pri­vat­woh­nung ins Blick­feld der Hil­fe­sys­te­me gera­ten. Auch von Sei­ten der Jugend­mi­gra­ti­ons­diens­te wür­den Kin­der mit unsi­che­rem Auf­ent­halts­sta­tus oft kei­ne Unter­stüt­zung erfah­ren. Dabei sind Flücht­lings­kin­der gezwun­gen, beson­ders früh erwach­sen zu wer­den. Laut UNICEF sind sie auf­grund ihrer bes­se­ren Sprach­kennt­nis­se häu­fig Dol­met­scher und Mitt­ler zwi­schen Eltern und Behör­den, Anwäl­ten oder Ärz­ten. Sie über­neh­men so einen Teil der Eltern­rol­le und sind mit exis­ten­zi­el­len The­men und Ent­schei­dun­gen kon­fron­tiert, die sie oft mas­siv über­for­dern. Umso drin­gen­der wären Hilfs­an­ge­bo­te nötig.

Bil­dungs­dis­kri­mi­nie­rung qua Gesetz

Sowohl beim Schul­zu­gang als auch beim Über­gang in Aus­bil­dungs­ver­hält­nis­se wer­den Flücht­lings­kin­der benach­tei­ligt. Vor allem für Schü­ler, die älter als 16 Jah­re sind, gibt es erheb­li­che Pro­ble­me: Gedul­de­ten Jugend­li­chen kann eine betrieb­li­che Aus­bil­dung durch die Aus­län­der­be­hör­de sogar voll­stän­dig unter­sagt wer­den. Wer mit mehr als 16 Jah­ren ein­reist hat zudem oft kei­ne Chan­ce eine Schu­le zu besu­chen, da kei­ne Schul­pflicht mehr besteht und lokal spe­zi­el­le Ange­bo­te feh­len. Für Jün­ge­re gibt es regel­mä­ßig Ver­zö­ge­run­gen bei der Ein­schu­lung sowie Defi­zi­te bei den Sprach­för­der­an­ge­bo­te. Gesetz­lich vor­ge­schrie­be­ne Min­dest­auf­ent­halts­zei­ten bei BAföG und Berufs­aus­bil­dungs­bei­hil­fe behin­dern zudem eine Auf­nah­me von Stu­di­um und Ausbildung.

UNICEF-Stu­die „In ers­ter Linie Kin­der – Flücht­lings­kin­der in Deutschland“