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We don’t want to go to DDR – Help us! Die Geschichte der “Doppelflüchtlinge”
PRO ASYL hat sich bereits anlässlich des 20. Jahrestages des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen in einer News vom 24. August 2012 zu der Geschichte der „Doppelflüchtlinge“ geäußert und gibt diese nun in einer erweiterten Fassung wieder.
Beim offiziellen Gedenken an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 hagelte es Bekenntnisse gegen Rechtsextremismus. Doch wo in der Debatte um Rostock bleiben eigentlich die Flüchtlinge? Zu Beginn der 1990er Jahre ließ Westdeutschland Flüchtlinge in großer Zahl nach Ostdeutschland bringen – trotz der anhaltenden Anschläge auf Asylsuchende und andere Nicht-Deutsche. Tausende flohen vor der rechtsextremen Gewalt zurück nach Westdeutschland.
Auch dort hatte es in den 1980er Jahren Fälle von rechtsextremer Gewalt gegeben. Aber der Osten stand für Pogromstimmung. Angestachelt durch einen rassistischen öffentlichen Diskurs kam es zu einer flächendeckenden Welle von Angriffen auf Migrantinnen und Migranten. Beispielhaft für viele andere steht der Angriff auf das Lager Leisnig/Sachsen.
Im Zuge des Anschlages wurde das Flüchtlingslager verwüstet, zahlreiche Schutzsuchende wurden schwer verletzt. 12 Jugendliche wurden vorläufig festgenommen, aber am nächsten Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Eine Gruppe von 30 Flüchtlingen aus dem Lager Leisnig – darunter zahlreiche Kinder – floh zurück nach Schwalbach/Hessen und bat um Wiederaufnahme und Schutz. Im Lager Schwalbach hatten sie zuvor einen Asylantrag gestellt und waren von dort zwangsweise nach Sachsen verteilt worden. „Wir sind nicht zurückgekehrt aus der DDR, wir sind geflohen aus der DDR“, so äußerte sich einer der betroffenen Asylsuchenden.
Infolge einer Regelung im Einigungsvertrag 1990 wurden Flüchtlinge, die im Westteil des vereinigten Deutschland einen Asylantrag gestellt hatten, in großer Zahl in die fünf neuen Länder geschickt. Innerhalb einer Übergangsfrist von zwei Monaten – zwischen dem 3. Oktober und dem 1. Dezember 1990 – mussten die ostdeutschen Bundesländer quasi über Nacht ein Flüchtlingsaufnahmesystem aus dem Boden stampfen. PRO ASYL stellte damals fest, dass Flüchtlinge quasi in einen rechtsfreien Raum verschickt wurden.
Die Lager und Unterbringungen verfügten kaum über eine funktionierende Infrastruktur und ausreichende Aufnahmekapazitäten. Flüchtlinge berichteten von „unzumutbaren Unterkünften, Isolation, fehlender Beratung und Hilfe, mangelnder Versorgung und vor allem von Diskriminierung und Angriffen aus der Bevölkerung“, heißt es in einer Dokumentation des Frankfurter Flüchtlingsbeirats vom April 1991.
Trotzdem karrten bereits am 10. Dezember 1990 Busse aus Hamburg und am 17. Dezember aus Hessen die ersten Asylsuchenden in den Osten der Republik: nach Hoyerswerda, nach Brandenburg, nach Rostock. Die Entwicklung, die 1992 im Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gipfelte, wurde billigend in Kauf genommen.
Zurück im Westen mussten die „Doppelflüchtlinge“ um ihre Wiederaufnahme kämpfen, während weiterhin Schutzsuchende in die ostdeutschen Lager und Unterbringungen geschickt wurden. Bei den Gedenkveranstaltungen 20 Jahre nach dem Pogrom von Rostock drohen ihre zweite Flucht und ihre verzweifelte Suche nach einer „inländische Fluchtalternative“ in Vergessenheit zu geraten.
Weitgehend unbeachtet blieb auch, dass bereits vor Beginn der Verteilung von Asylsuchenden in die östlichen Bundesländer rechtsextreme Gewalttaten an der Tagesordnung waren, die sich nicht nur gegen Einzelne richteten. Mehrere hundert Personen griffen im September 1991 ein Wohnheim für (DDR-) Vertragsarbeitnehmer in Hoyerswerda (Sachsen) an, später ein Flüchtlingswohnheim. Das Landratsamt kam zu einer bezeichnenden Einschätzung der Lage: Es bestehe eine einheitliche Auffassung dazu, dass eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden könne. Amtliche Kapitulationen vor dem rechten Mob bis hin zur Kollaboration haben eine lange Tradition.