04.06.2025

Eine Frau wur­de zu Unrecht kri­mi­na­li­siert, weil sie den von ihr betreu­ten Min­der­jäh­ri­gen gehol­fen hat, nach Ita­li­en ein­zu­rei­sen und einen Asyl­an­trag zu stel­len. PRO ASYL hat die Rechts­ver­tre­tung der Frau finan­zi­ell über den PRO ASYL-Rechts­hil­fe­fonds unterstützt. 

In einem weg­wei­sen­den Urteil vom 3. Juni 2025 hat das höchs­te Gericht der Euro­päi­schen Uni­on erklärt, dass es kei­ne Straf­tat ist, wenn eine Per­son Min­der­jäh­ri­gen, die unter ihrer Obhut ste­hen, dabei hilft, in die EU ein­zu­rei­sen und einen Asyl­an­trag zu stel­len. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH) ent­schied, dass ein sol­ches Ver­hal­ten kei­ne uner­laub­te „Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se“ im Sin­ne des EU-Rechts dar­stellt, wenn es Min­der­jäh­ri­ge und die Ein­heit der Fami­lie schützt. Das sind  zwei Rech­te, die in der EU-Grund­rech­te­char­ta ver­an­kert sind. „Ein Eltern­teil übt ledig­lich sei­ne Ver­ant­wor­tung gegen­über dem Kind aus“, stell­te der Gerichts­hof klar.

Die Richter*innen stell­ten klar, dass die Geset­ze zur Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se (soge­nann­te Anti-Schleu­ser ‑Geset­ze) nicht im Wider­spruch zu den in der EU-Char­ta ver­an­ker­ten Grund­rech­ten ste­hen dür­fen, ins­be­son­de­re zum Kin­des­wohl (Arti­kel 24), zum Recht auf Fami­li­en­le­ben (Arti­kel 7) und zum Recht auf Asyl (Arti­kel 18). Der Gerichts­hof beton­te, dass die Klä­ge­rin O.B. nicht wegen uner­laub­ter Ein­rei­se straf­recht­lich ver­folgt wer­den darf,   da sie einen Antrag auf inter­na­tio­na­len Schutz gestellt hatte.

„Dies ist ein sehr wich­ti­ger Tag für die­je­ni­gen, die an den Gren­zen Euro­pas Gerech­tig­keit suchen. Das Urteil zeigt, dass jedes natio­na­le und euro­päi­sche Recht unter dem Blick­win­kel der EU-Grund­rech­te­char­ta ange­foch­ten wer­den kann. Dies könn­te der Beginn einer Über­prü­fung der gesam­ten Anti-Schleu­ser-Gesetz­ge­bung sein, die kei­nen Raum für die Kri­mi­na­li­sie­rung von Migra­ti­on und Soli­da­ri­tät las­sen soll­te“, sagt Fran­ce­s­ca Can­cel­la­ro, Ver­tei­di­ge­rin von O.B.

Die Vor­ab­ent­schei­dung des Gerichts­hofs wur­de im Kin­sa-Fall (ehe­mals Kin­sha­sa, C‑460/23) bean­tragt, der eine kon­go­le­si­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge und ihre Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen betrifft. O.B. kam im August 2019 mit ihrer acht­jäh­ri­gen  Toch­ter und ihrer 13-jäh­ri­gen Nich­te am Flug­ha­fen Bolo­gna an. Die Fami­lie war mit gefälsch­ten Päs­sen nach Ita­li­en gereist, um dort inter­na­tio­na­len Schutz zu bean­tra­gen. Bei ihrer Ankunft wur­de O.B. fest­ge­nom­men, von den bei­den Kin­dern getrennt und wegen Bei­hil­fe zur ille­ga­len Ein­rei­se ange­klagt. Dar­auf steht  eine Frei­heits­stra­fe von bis zu fünf Jahren.

Rechts­an­wäl­tin Can­cel­la­ro leg­te dem Gericht in Bolo­gna einen Antrag auf Vor­ab­ent­schei­dung durch den EuGH vor. Kon­kret soll­te der Gerichts­hof die Ver­ein­bar­keit des EU-Schleu­ser-Pakets und sei­ner ita­lie­ni­schen Umset­zung (Arti­kel 12 des Ein­wan­de­rungs­ge­set­zes) mit der EU Grund­rech­te-Char­ta prüfen.

„Die­ses Urteil zeigt, dass die EU-Grund­rech­te­char­ta nicht nur sym­bo­lisch ist, son­dern auch Biss hat“, sagt Alli­son West, Seni­or Legal Advi­sor beim Euro­pean Cen­ter for Con­sti­tu­tio­nal and Human Rights (ECCHR). „Das Urteil beschränkt sich jedoch eng begrenzt auf Fäl­le, in denen Betreu­ungs­per­so­nen und Min­der­jäh­ri­ge betei­ligt sind, und lässt die dar­über hin­aus­ge­hen­de Pro­ble­ma­tik der Kri­mi­na­li­sie­rung huma­ni­tä­rer Hil­fe unbe­rührt. In künf­ti­gen gericht­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen soll­te auf­bau­end auf die­sem Urteil der umfas­sen­de­re Miss­brauch von Anti-Schleu­ser-Geset­zen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen, soli­da­risch Han­deln­de und Men­schen auf der Flucht selbst ange­foch­ten werden.“

Geset­ze zur Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se kri­mi­na­li­sie­ren in ers­ter Linie Men­schen auf der Flucht selbst. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren wur­den Tau­sen­de Men­schen auf der Grund­la­ge von Anti-Schleu­ser-Geset­zen zu lan­gen Haft­stra­fen ver­ur­teilt, nur weil sie wäh­rend ihrer eige­nen Flucht ein Boot oder Auto gesteu­ert oder ande­re Auf­ga­ben an Bord über­nom­men hat­ten – bei­spiels­wei­se die Nut­zung eines GPS-Geräts. Die­se Geset­ze kri­mi­na­li­sie­ren aber auch soli­da­ri­sches Ver­hal­ten drit­ter Per­so­nen wie Such- und Ret­tungs­ak­tio­nen und die Bereit­stel­lung von Unter­kunft, Was­ser, Nah­rung oder Klei­dung. Allein im Jahr 2024 waren min­des­tens 142 Per­so­nen wegen solch soli­da­ri­scher Hand­lun­gen in der EU mit Straf- oder Ver­wal­tungs­ver­fah­ren konfrontiert.

Das Urteil kommt zu einem kri­ti­schen Zeit­punkt, da die EU-Insti­tu­tio­nen der­zeit das soge­nann­te EU-Schleu­ser-Paket („Faci­li­ta­tors Packa­ge“) neu ver­han­deln. Das ist eine Samm­lung von Geset­zen, die bereits seit lan­gem die Kri­mi­na­li­sie­rung von Men­schen auf der Flucht sowie  von den­je­ni­gen, die ihnen hel­fen, ermög­licht. Das EuGH-Urteil unter­streicht nun mit Nach­druck, dass im EU-Recht aus­drück­lich huma­ni­tä­re Aus­nah­men ver­an­kert wer­den müs­sen, um den Miss­brauch der Anti-Schleu­ser-Geset­ze gegen Men­schen zu ver­hin­dern, die aus Für­sor­ge, Soli­da­ri­tät oder einer Not­la­ge her­aus handeln.

„Die soge­nann­ten Schleu­ser-Geset­ze haben zur Ver­fol­gung und Mas­sen­in­haf­tie­rung von Men­schen auf der Flucht geführt“, sagt Inés Mar­co von der NGO de:criminalize. „Das Leid, das dadurch ver­ur­sacht wur­de, ist uner­mess­lich und irrepa­ra­bel.“ Das heu­ti­ge Urteil muss jedoch der Anfang vom Ende die­ser Geset­ze sein. Die neue EU-Schleu­ser-Richt­li­nie sowie alle bis­he­ri­gen Kri­mi­na­li­sie­rungs­fäl­le müs­sen drin­gend im Lich­te des Grund­sat­zes über­prüft wer­den, der die­sem Urteil zugrun­de liegt:Grundrechte müs­sen immer Vor­rang vor dem Schutz der Gren­zen haben.“

„Wir fra­gen sel­ten, war­um Men­schen gezwun­gen sind, sich an Schleu­ser zu wen­den: Es feh­len siche­re und lega­le Ein­rei­se­we­ge, um inter­na­tio­na­len Schutz zu bean­tra­gen. In vie­len Fäl­len sind es gera­de Taten der soge­nann­ten Bei­hil­fe, die Grund­rech­te wie das Recht auf Leben und Selbst­be­stim­mung schüt­zen. Das muss sich auch im Recht wider­spie­geln“, sagt Sascha Gir­ke von der Iuven­ta-Crew, der 2024 von einem ita­lie­ni­schen Gericht vom Vor­wurf der Bei­hil­fe zur uner­laub­ten Ein­rei­se wäh­rend einer See­not­ret­tung frei­ge­spro­chen wurde.

„Die Bot­schaft des Euro­päi­schen Gerichts­hofs ist glas­klar: Sie bedeu­tet Gerech­tig­keit für die betrof­fe­ne Fami­lie, Ita­li­en hat sie zu Unrecht kri­mi­na­li­siert. Doch das kann nur ein ers­ter Schritt sein: Denn vie­le Men­schen, die ande­ren in Not hel­fen wol­len – dar­un­ter zahl­rei­che Schutz­su­chen­de – ris­kie­ren wei­ter­hin Straf­ver­fah­ren vor natio­na­len Gerich­ten. Des­halb ist es drin­gend erfor­der­lich, dass die EU im lau­fen­den Reform­pro­zess eine expli­zi­te Aus­nah­me für Men­schen, die aus huma­ni­tä­ren Grün­den han­deln, ein­führt. Denn Flucht und Soli­da­ri­tät sind kei­ne Verbrechen.“

Die Anwäl­tin von O.B. wird in dem Ver­fah­ren durch den PRO ASYL-Rechts­hil­fe­fonds unterstützt.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen, Ant­wor­ten auf häu­fig gestell­te Fra­gen, recht­li­che Ein­ord­nun­gen und Stim­men von Betrof­fe­nen, Aktivist*innen und ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen fin­den Sie auf der Web­site zum Kinsa-Fall.

Für Fra­gen oder Inter­view­an­fra­gen wen­den Sie sich bit­te an kinsa-case@solidarity-at-sea.org 

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