Eine Frau wurde zu Unrecht kriminalisiert, weil sie den von ihr betreuten Minderjährigen geholfen hat, nach Italien einzureisen und einen Asylantrag zu stellen. PRO ASYL hat die Rechtsvertretung der Frau finanziell über den PRO ASYL-Rechtshilfefonds unterstützt.
In einem wegweisenden Urteil vom 3. Juni 2025 hat das höchste Gericht der Europäischen Union erklärt, dass es keine Straftat ist, wenn eine Person Minderjährigen, die unter ihrer Obhut stehen, dabei hilft, in die EU einzureisen und einen Asylantrag zu stellen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied, dass ein solches Verhalten keine unerlaubte „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ im Sinne des EU-Rechts darstellt, wenn es Minderjährige und die Einheit der Familie schützt. Das sind zwei Rechte, die in der EU-Grundrechtecharta verankert sind. „Ein Elternteil übt lediglich seine Verantwortung gegenüber dem Kind aus“, stellte der Gerichtshof klar.
Die Richter*innen stellten klar, dass die Gesetze zur Beihilfe zur unerlaubten Einreise (sogenannte Anti-Schleuser ‑Gesetze) nicht im Widerspruch zu den in der EU-Charta verankerten Grundrechten stehen dürfen, insbesondere zum Kindeswohl (Artikel 24), zum Recht auf Familienleben (Artikel 7) und zum Recht auf Asyl (Artikel 18). Der Gerichtshof betonte, dass die Klägerin O.B. nicht wegen unerlaubter Einreise strafrechtlich verfolgt werden darf, da sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte.
„Dies ist ein sehr wichtiger Tag für diejenigen, die an den Grenzen Europas Gerechtigkeit suchen. Das Urteil zeigt, dass jedes nationale und europäische Recht unter dem Blickwinkel der EU-Grundrechtecharta angefochten werden kann. Dies könnte der Beginn einer Überprüfung der gesamten Anti-Schleuser-Gesetzgebung sein, die keinen Raum für die Kriminalisierung von Migration und Solidarität lassen sollte“, sagt Francesca Cancellaro, Verteidigerin von O.B.
Die Vorabentscheidung des Gerichtshofs wurde im Kinsa-Fall (ehemals Kinshasa, C‑460/23) beantragt, der eine kongolesische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen betrifft. O.B. kam im August 2019 mit ihrer achtjährigen Tochter und ihrer 13-jährigen Nichte am Flughafen Bologna an. Die Familie war mit gefälschten Pässen nach Italien gereist, um dort internationalen Schutz zu beantragen. Bei ihrer Ankunft wurde O.B. festgenommen, von den beiden Kindern getrennt und wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt. Darauf steht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren.
Rechtsanwältin Cancellaro legte dem Gericht in Bologna einen Antrag auf Vorabentscheidung durch den EuGH vor. Konkret sollte der Gerichtshof die Vereinbarkeit des EU-Schleuser-Pakets und seiner italienischen Umsetzung (Artikel 12 des Einwanderungsgesetzes) mit der EU Grundrechte-Charta prüfen.
„Dieses Urteil zeigt, dass die EU-Grundrechtecharta nicht nur symbolisch ist, sondern auch Biss hat“, sagt Allison West, Senior Legal Advisor beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). „Das Urteil beschränkt sich jedoch eng begrenzt auf Fälle, in denen Betreuungspersonen und Minderjährige beteiligt sind, und lässt die darüber hinausgehende Problematik der Kriminalisierung humanitärer Hilfe unberührt. In künftigen gerichtlichen Auseinandersetzungen sollte aufbauend auf diesem Urteil der umfassendere Missbrauch von Anti-Schleuser-Gesetzen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen, solidarisch Handelnde und Menschen auf der Flucht selbst angefochten werden.“
Gesetze zur Beihilfe zur unerlaubten Einreise kriminalisieren in erster Linie Menschen auf der Flucht selbst. In den vergangenen Jahren wurden Tausende Menschen auf der Grundlage von Anti-Schleuser-Gesetzen zu langen Haftstrafen verurteilt, nur weil sie während ihrer eigenen Flucht ein Boot oder Auto gesteuert oder andere Aufgaben an Bord übernommen hatten – beispielsweise die Nutzung eines GPS-Geräts. Diese Gesetze kriminalisieren aber auch solidarisches Verhalten dritter Personen wie Such- und Rettungsaktionen und die Bereitstellung von Unterkunft, Wasser, Nahrung oder Kleidung. Allein im Jahr 2024 waren mindestens 142 Personen wegen solch solidarischer Handlungen in der EU mit Straf- oder Verwaltungsverfahren konfrontiert.
Das Urteil kommt zu einem kritischen Zeitpunkt, da die EU-Institutionen derzeit das sogenannte EU-Schleuser-Paket („Facilitators Package“) neu verhandeln. Das ist eine Sammlung von Gesetzen, die bereits seit langem die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht sowie von denjenigen, die ihnen helfen, ermöglicht. Das EuGH-Urteil unterstreicht nun mit Nachdruck, dass im EU-Recht ausdrücklich humanitäre Ausnahmen verankert werden müssen, um den Missbrauch der Anti-Schleuser-Gesetze gegen Menschen zu verhindern, die aus Fürsorge, Solidarität oder einer Notlage heraus handeln.
„Die sogenannten Schleuser-Gesetze haben zur Verfolgung und Masseninhaftierung von Menschen auf der Flucht geführt“, sagt Inés Marco von der NGO de:criminalize. „Das Leid, das dadurch verursacht wurde, ist unermesslich und irreparabel.“ Das heutige Urteil muss jedoch der Anfang vom Ende dieser Gesetze sein. Die neue EU-Schleuser-Richtlinie sowie alle bisherigen Kriminalisierungsfälle müssen dringend im Lichte des Grundsatzes überprüft werden, der diesem Urteil zugrunde liegt:Grundrechte müssen immer Vorrang vor dem Schutz der Grenzen haben.“
„Wir fragen selten, warum Menschen gezwungen sind, sich an Schleuser zu wenden: Es fehlen sichere und legale Einreisewege, um internationalen Schutz zu beantragen. In vielen Fällen sind es gerade Taten der sogenannten Beihilfe, die Grundrechte wie das Recht auf Leben und Selbstbestimmung schützen. Das muss sich auch im Recht widerspiegeln“, sagt Sascha Girke von der Iuventa-Crew, der 2024 von einem italienischen Gericht vom Vorwurf der Beihilfe zur unerlaubten Einreise während einer Seenotrettung freigesprochen wurde.
„Die Botschaft des Europäischen Gerichtshofs ist glasklar: Sie bedeutet Gerechtigkeit für die betroffene Familie, Italien hat sie zu Unrecht kriminalisiert. Doch das kann nur ein erster Schritt sein: Denn viele Menschen, die anderen in Not helfen wollen – darunter zahlreiche Schutzsuchende – riskieren weiterhin Strafverfahren vor nationalen Gerichten. Deshalb ist es dringend erforderlich, dass die EU im laufenden Reformprozess eine explizite Ausnahme für Menschen, die aus humanitären Gründen handeln, einführt. Denn Flucht und Solidarität sind keine Verbrechen.“
Die Anwältin von O.B. wird in dem Verfahren durch den PRO ASYL-Rechtshilfefonds unterstützt.
Weitere Informationen, Antworten auf häufig gestellte Fragen, rechtliche Einordnungen und Stimmen von Betroffenen, Aktivist*innen und anderen Organisationen finden Sie auf der Website zum Kinsa-Fall.
Für Fragen oder Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an kinsa-case@solidarity-at-sea.org