30.11.2021

Die Bun­des­re­gie­rung ver­stößt gegen Euro­pa­recht, indem sie Straf­ge­fan­ge­ne und Men­schen, die abge­scho­ben wer­den sol­len, in der­sel­ben Unter­kunft inhaf­tiert. Das stell­te der Gene­ral­an­walt Jean Richard de la Tour vom Euro­päi­schen Gerichts­hof in sei­nen Schluss­an­trä­gen fest. PRO ASYL, der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen und Rechts­an­walt Peter Fahl­busch begrü­ßen die Klar­stel­lung und for­dern die Bun­des­re­gie­rung zum Han­deln auf. 

Nach Auf­fas­sung von Jean Richard de la Tour, Gene­ral­an­walt am Euro­päi­schen Gerichts­hof (EuGH) in Luxem­burg, ist das deut­sche Gesetz zur Abschie­bungs­haft teil­wei­se rechts­wid­rig. Das nie­der­säch­si­sche Abschie­bungs­haft­ge­fäng­nis genü­ge eben­falls nicht den euro­pa­recht­li­chen Anfor­de­run­gen. Dies stell­te der Gene­ral­an­walt in sei­nen Schluss­an­trä­gen am ver­gan­ge­nen Don­ners­tag fest. Das Urteil steht noch aus, häu­fig fol­gen die Richter*innen am EuGH der Linie des Generalanwalts.

Rechts­an­walt Peter Fahl­busch, PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen erwar­ten des­we­gen von der Ampel-Koali­ti­on, dass sie die Inhaf­tie­rung von Abschie­bungs­haft­ge­fan­ge­nen in Straf­an­stal­ten unver­züg­lich been­det. Von der Nie­der­säch­si­schen Lan­des­re­gie­rung for­dern sie, das Abschie­bungs­haft­ge­fäng­nis des Lan­des umge­hend zu schließen.

Bun­des­re­gie­rung igno­rier­te Trennungsgebot

Bereits im Jahr 2014 ent­schied der Euro­päi­sche Gerichts­hof in einem Ver­fah­ren gegen die Bun­des­re­pu­blik, dass Abschie­bungs­haft­ge­fan­ge­ne nicht in Straf­an­stal­ten und nicht zusam­men mit Straf­ge­fan­ge­nen inhaf­tiert wer­den dür­fen, son­dern grund­sätz­lich in spe­zi­el­len Haft­ein­rich­tun­gen unter­ge­bracht wer­den müs­sen. Den­noch setz­te die schwarz-rote Bun­des­re­gie­rung die­ses euro­pa­recht­li­che Tren­nungs­ge­bot im August 2019 mit dem soge­nann­ten „Geord­ne­te-Rück­kehr-Gesetz“ bis zum 30. Juni 2022 aus und erlaub­te die Inhaf­tie­rung von Abschie­bungs­haft­ge­fan­ge­nen in Straf­an­stal­ten. Das von Horst See­ho­fer (CSU) geführ­te Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um begrün­de­te die­sen Schritt mit einem unvor­her­seh­ba­ren Defi­zit an cir­ca 600 Abschie­bungs­haft­plät­zen auf­grund der „Migra­ti­ons­kri­se“ im Jahr 2015. Die Bun­des­län­der Meck­len­burg-Vor­pom­mern und Sach­sen-Anhalt haben bereits Abschie­bungs­haft­ge­fan­ge­ne in Straf­an­stal­ten inhaf­tiert. Die nie­der­säch­si­sche Lan­des­re­gie­rung belegt ein Gebäu­de auf dem Gelän­de des zen­tra­len Abschie­bungs­haft­ge­fäng­nis­ses in Lan­gen­ha­gen mit Strafgefangenen.

Wie Jean Richard de la Tour nun in sei­nen Schluss­an­trä­gen fest­stellt, dür­fen nach euro­päi­schem Recht Abschie­bungs­haft­ge­fan­ge­ne nur dann in Straf­an­stal­ten inhaf­tiert wer­den, wenn „eine außer­ge­wöhn­lich Zahl von Dritt­staa­t­an­ge­hö­ri­gen, deren Rück­kehr sicher­zu­stel­len ist, zu einer unvor­her­seh­ba­ren Über­las­tung der Kapa­zi­tä­ten der Haft­ein­rich­tun­gen füh­ren“ (Art. 18 Abs. 1 der Rück­füh­rungs­richt­li­nie (RL 2008/115/EG). Eine der­ar­ti­ge „Not­la­ge“ sei in Deutsch­land jedoch nicht gege­ben, so der EuGH-Generalanwalt. 

„Defi­zit an Rechtsstaatlichkeit“

Rechts­an­walt Peter Fahl­busch von der Kanz­lei LSFW in Han­no­ver, der das Ver­fah­ren vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof führt, PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen sehen sich in ihrer jah­re­lan­gen Kri­tik bestätigt.

Peter Fahl­busch, Kanz­lei LSFW (Han­no­ver):

„Der Bun­des­re­gie­rung ist es zu kei­nem Zeit­punkt auch nur im Ansatz gelun­gen, das behaup­te­te Defi­zit an Abschie­bungs­haft­plät­zen zu bele­gen. Dies war von Anfang an abseh­bar. Die EU-Kom­mis­si­on hat bei der Besich­ti­gung deut­scher Abschie­bungs­haft­an­stal­ten fest­ge­stellt, dass die Kapa­zi­tä­ten nicht über­las­tet sind. In Nie­der­sach­sen wur­den sogar Straf­ge­fan­ge­ne in der Abschie­bungs­haft­an­stalt unter­ge­bracht, weil dort gan­ze Gebäu­de leer ste­hen. Selbst als die EU-Kom­mis­si­on der Bun­des­re­gie­rung emp­foh­len hat, die Lage erneut zu bewer­ten und das Gesetz gege­be­nen­falls abzu­schaf­fen, ist die gro­ße Koali­ti­on untä­tig geblie­ben. Es gibt kein Defi­zit an Haft­plät­zen, aber dafür ein gro­ßes an Rechtsstaatlichkeit.“

Peter von Auer, rechts­po­li­ti­scher Refe­rent bei PRO ASYL:

„Die Argu­men­te des Gene­ral­an­walts müs­sen ernst genom­men wer­den. Die Ampel-Koali­ti­on muss auch im Bereich der Abschie­bungs­haft aktiv wer­den. Sie darf nicht weg­se­hen und muss ver­hin­dern, dass Geflüch­te­te auf der Suche nach einem Leben in Sicher­heit und Wür­de in deut­schen Gefäng­nis­sen ver­schwin­den und um ihre Rech­te gebracht wer­den. Wir erwar­ten von der zukünf­ti­gen Bun­des­re­gie­rung, der Inhaf­tie­rung von Abschie­bungs­häft­lin­gen in Straf­an­stal­ten unver­züg­lich ein Ende zu set­zen. Flucht ist kein Verbrechen.“

Muz­af­fer Öztür­ky­il­maz, Refe­rent der Geschäfts­füh­rung beim Flücht­lings­rat Niedersachsen:

„Seit Jah­ren kri­ti­sie­ren wir, dass die Bedin­gun­gen im nie­der­säch­si­schen Abschie­bungs­haft­ge­fäng­nis gegen die Vor­ga­ben des EU-Rechts ver­sto­ßen. Seit Jah­ren wei­sen wir auf die rechts­wid­ri­ge Haft­pra­xis hin und for­dern ein Abschie­bungs­haft­voll­zugs­ge­setz für Nie­der­sach­sen. Der EuGH-Gene­ral­an­walt Jean Richard de la Tour gibt uns nun Recht. Die Lan­des­re­gie­rung muss Kon­se­quen­zen aus dem Gut­ach­ten des Gene­ral­an­walts zie­hen und das Abschie­bungs­haft­ge­fäng­nis in Lan­gen­ha­gen umge­hend schließen.

PRO ASYL unter­stützt das Ver­fah­ren über sei­nen Rechtshilfefonds.

Kontakt:

Rechts­an­walt Peter Fahl­busch: Tel.:  0511 600 60 30 – fahlbusch@lsfw.de
Peter von Auer, PRO ASYL: Tel.: 069 2423 1430 – presse@proasyl.de
Muz­af­fer Öztür­ky­il­maz, Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen: Tel.: 0511 98 24 60 38 – moy@nds-fluerat.org

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