30.10.2025

Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist vom UN-Sozi­al­aus­schuss auf­ge­for­dert wor­den, einen 20-jäh­ri­gen Geflüch­te­ten im „Dub­lin-Ver­fah­ren“, der von den Behör­den im Thü­rin­ger Ilm-Kreis auf die Stra­ße gesetzt wor­den war, wie­der unter­zu­brin­gen und mit dem Lebens­not­wen­di­gen zu ver­sor­gen. Zum ers­ten Mal hat damit der UN-Sozi­al­aus­schuss Deutsch­land für einen Ver­stoß gegen die im UN-Sozi­al­pakt gewähr­ten sozia­len Men­schen­rech­te gerügt.

PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Thü­rin­gen for­dern, dass die Behör­den bun­des­weit die Pra­xis der Leis­tungs­strei­chun­gen umge­hend been­den und die Bun­des­län­der ent­spre­chen­de Anwei­sun­gen tref­fen. Die Bun­des­re­gie­rung ist auf­ge­for­dert, die Gesetz­ge­bung zu kor­ri­gie­ren und die zugrun­de lie­gen­de Rege­lung umge­hend aus dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz zu strei­chen (Para­graf 1 Abs. 4 AsylbLG).

Bla­ma­bel für Deutschland

Andrea Kothen, Refe­ren­tin von PRO ASYL, erklärt: „Die Ent­schei­dung des UN-Aus­schus­ses ist bla­ma­bel für Deutsch­land. Die Regie­rung muss sich jetzt von höchs­ter Stel­le erklä­ren las­sen, dass ein zivi­li­sier­tes Land nie­man­den dem Hun­ger und der Obdach­lo­sig­keit aus­setzt. Hät­te sich der Gesetz­ge­ber an die deut­sche Ver­fas­sung gehal­ten, wäre es gar nicht zur UN-Beschwer­de gekommen.“

Der 20 Jah­re alte syri­sche Kriegs­flücht­ling hat­te sich, unter­stützt von sei­nem Anwalt Dr. Schei­ben­hof und der Gesell­schaft für Frei­heits­rech­te (GFF), mit einer Beschwer­de an den UN-Aus­schuss für wirt­schaft­li­che, sozia­le und kul­tu­rel­le Rech­te gewandt.

Er war im Som­mer 2024 nach Deutsch­land geflüch­tet. Nach der EU-Dub­lin-Ver­ord­nung lehn­te das Bun­des­amt die Zustän­dig­keit für sein Asyl­ver­fah­ren ab, Mal­ta sei zustän­dig. Im Dezem­ber 2024 teil­te das Land­rats­amt des Ilm-Krei­ses ihm mit, dass er die staat­li­che Unter­kunft ver­las­sen muss, kei­ne Sozi­al­leis­tun­gen mehr erhält und sei­ne Gesund­heits­kar­te abge­ben muss. Ohne gere­gel­ten Zugang zu Unter­kunft, Essen, war­mer Klei­dung und Kran­ken­schutz leb­te er fort­an von der Hil­fe von Freun­den und Freiwilligen.

Etli­che Gerich­te haben ver­fas­sungs­recht­li­che Beden­ken gegen die Strei­chung der Leistungen 

Dass es so weit kom­men muss­te, liegt auch an den beson­ders restrik­ti­ven Thü­rin­ger Ver­hält­nis­sen. Sabi­ne Ber­nin­ger vom Vor­stand des Flücht­lings­rats Thü­rin­gen e.V.: „Leis­tungs­strei­chun­gen für Geflüch­te­te wer­den in etli­chen Orten in Thü­rin­gen rück­sichts­los durch­ge­setzt, selbst Kin­der sind davon betrof­fen. Die Thü­rin­ger Lan­des­re­gie­rung ist nun auf­ge­for­dert, die­se Behör­den­pra­xis unver­züg­lich zu stoppen.“

Der Beschwer­de vor dem UN-Sozi­al­aus­schuss war ein Eil­ver­fah­ren vor dem Sozi­al­ge­richt Gotha und dann vor dem Thü­rin­ger Lan­des­so­zi­al­ge­richt vor­aus­ge­gan­gen. Bei­de Thü­rin­ger Gerich­te hat­ten aber den Leis­tungs­aus­schluss nicht gestoppt – im Gegen­satz zu zahl­rei­chen ande­ren Sozi­al­ge­rich­ten bun­des­weit, die unter ande­rem uni­ons- und ver­fas­sungs­recht­li­che Beden­ken geäu­ßert hat­ten. Das dar­auf­hin ange­ru­fe­ne Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat­te den Rechts­streit inhalt­lich nicht ent­schie­den, son­dern auf das auf­ent­halts­recht­li­che Ver­fah­ren am Ver­wal­tungs­ge­richt ver­wie­sen. Als auch die­ses schei­ter­te, blieb nur der Weg zur UN-Beschwerde.

Bei der Eil­ent­schei­dung des UN-Sozi­al­aus­schus­ses vom 17. Okto­ber 2025 han­delt es sich um eine vor­läu­fi­ge Anord­nung (inte­rim mea­su­re). Wenn das Ver­fah­ren abschlie­ßend ent­schie­den wird, geht es neben der Fra­ge der Men­schen­rechts­ver­let­zung auch um etwa­igen Scha­dens­er­satz für den Betroffenen.

Für Fra­gen ste­hen zur Verfügung:

Andrea Kothen, PRO ASYL: presse@proasyl.de, 069 – 24231430
Emi­ly Thümm­ler, Flücht­lings­rat Thü­rin­gen:  0155 – 66060061

Hin­ter­grund und wei­te­re Informationen:

Ende Okto­ber 2024 trat eine gesetz­li­che Ände­rung des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes durch die Ampel-Regie­rung in Kraft (§ 1 Abs. 4 Asyl­bLG). Betrof­fen sind Geflüch­te­te im soge­nann­ten Dub­lin-Ver­fah­ren, für deren Asyl­ver­fah­ren nach Behör­den­ent­schei­dung ein ande­rer euro­päi­scher Staat zustän­dig ist. Ihnen wird seit­her laut Gesetz das Recht auf jeg­li­che sozia­le Leis­tung ent­zo­gen – das betrifft Unter­kunft, Nah­rung und Klei­dung, Kran­ken­ver­sor­gung und ande­re Sozi­al­leis­tun­gen. Ledig­lich wäh­rend einer 14-tägi­gen Über­gangs­frist und in beson­de­ren Här­te­fäl­len soll ein rudi­men­tä­rer Teil der Leis­tun­gen wei­ter gewährt wer­den können.

Begrün­det wird die Rege­lung damit, dass die Betrof­fe­nen angeb­lich frei­wil­lig in den zustän­di­gen Staat aus­rei­sen könn­ten. Im kon­kre­ten Fall hat­te die Behör­de nicht geprüft, ob es dem Betrof­fe­nen tat­säch­lich mög­lich war, nach Mal­ta aus­zu­rei­sen. Die EU-Dub­lin-Ver­ord­nung sieht eine frei­wil­li­ge, nicht­kon­trol­lier­te Aus­rei­se zudem gar nicht vor, son­dern ver­langt ein förm­li­ches, zwi­schen unter­schied­li­chen Stel­len der Staa­ten abge­stimm­tes, Überstellungsprozedere.

Fast alle Behör­den wen­den die Leis­tungs­strei­chung für Dub­lin-Fäl­le an. In der Pra­xis stel­len eini­ge Behör­den jedoch noch Unter­kunft und Fer­tig­es­sen, ande­re ver­wei­gern die Leis­tun­gen ganz, die Betrof­fe­nen wer­den obdach­los. Im Febru­ar 2025 hat PRO ASYL über den Fall einer kran­ken Frau berich­tet, die bei Minus­tem­pe­ra­tu­ren auf die Stra­ße gesetzt wor­den war.

Wenn die Betrof­fe­nen kla­gen, gewäh­ren die Sozi­al­ge­rich­te ihnen in ganz Deutsch­land nahe­zu ein­hel­lig vor­läu­fi­gen Recht­schutz und damit das vor­läu­fi­ge Recht auf wei­te­re Ver­sor­gung bis zur Ent­schei­dung im Haupt­sa­che­ver­fah­ren.

Inzwi­schen gibt es über 60 ent­spre­chen­de Gerichts­be­schlüs­se, dar­un­ter auch von meh­re­ren Lan­des­so­zi­al­ge­rich­ten. Den Gerichts­ent­schei­dun­gen liegt viel­fach die Ein­schät­zung zugrun­de, dass der Leis­tungs­ent­zug euro­pa­rechts- und/oder sogar ver­fas­sungs­wid­rig ist, wie bei­spiels­wei­se das Sozi­al­ge­richt Karls­ru­he aus­führ­lich dar­stellt. Dar­über hin­aus wei­sen Gerich­te dar­auf hin, dass Behör­den ver­pflich­tet sind, ver­fas­sungs­wid­ri­ge Rege­lun­gen nicht anzuwenden.

Das Land Rhein­land-Pfalz sieht mit Blick auf euro­pa­rechts- und ver­fas­sungs­recht­li­che Vor­ga­ben kei­ne recht­li­che Hand­ha­be für einen voll­stän­di­gen Leis­tungs­ent­zug. Selbst eine Leis­tungs­kür­zung (anstel­le der voll­stän­di­gen Strei­chung) ist nach Auf­fas­sung vie­ler Expert*innen nach EU-Recht unzu­läs­sig, das Bun­des­so­zi­al­ge­richts hat dazu ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen an den EuGH gestellt (sie­he Beschluss vom 25.07.2024, B 8 AY 6/23 R, Plä­doy­er des Gene­ral­an­walts vom 23. Okto­ber 2025).

Der Inter­na­tio­na­le Pakt für wirt­schaft­li­che, sozia­le und kul­tu­rel­le Rech­te, kurz auch UN-Sozi­al­pakt oder WSK-Pakt genannt (deut­sche Abkür­zung IPw­s­kR, eng­li­sche Abkür­zung ICESCR), ist eines der bei­den gro­ßen Men­schen­rechts­ab­kom­men. Er wur­de zusam­men mit dem Inter­na­tio­na­len Pakt für bür­ger­li­che und poli­ti­sche Rech­te (UN-Zivil­pakt) 1966 von der Gene­ral­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen ver­ab­schie­det. Deutsch­land hat den Pakt 1973 rati­fi­ziert, seit 2023 sind durch das Fakul­ta­tiv­pro­to­koll von 2008 auch indi­vi­du­el­le Beschwer­de­ver­fah­ren möglich.

Die zen­tra­len Men­schen­rech­te aus dem Sozi­al­pakt sind unter ande­rem das Men­schen­recht auf Gesund­heit, Bil­dung, Arbeit, Woh­nen, Was­ser, Sani­tär­ver­sor­gung und Teil­ha­be am kul­tu­rel­len Leben. Da die­se Rech­te laut Art. 2 Abs. 2 IPw­s­kR ohne Dis­kri­mi­nie­run­gen sicher­zu­stel­len sind, gel­ten sie unab­hän­gig vom Auf­ent­halts­sta­tus auch für geflüch­te­te Men­schen in Deutschland.

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