20.06.2022
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In Griechenland lässt sich bereits jetzt die faktische Inhaftierung von Geflüchteten beobachten. Foto: Europäische Union 2021

Die Innenminister*innen der EU haben sich zwar auf einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus für aus Seenot gerettete Menschen geeinigt. Aber ihre grundsätzliche Position zu Identitätsklärungs- und Grenzverfahren können die Lage von Schutzsuchenden in Europa stark verschlechtern, bis hin zu systematischer Haft an den EU-Außengrenzen.

Am 10. Juni 2022 wur­den im Rat der Euro­päi­schen Uni­on ent­schei­den­de Wei­chen für die künf­ti­ge Euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik gestellt. Zu begrü­ßen ist, dass sich die Staa­ten auf einen neu­en Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus zur Auf­nah­me von aus See­not geret­te­ten Men­schen eini­gen konn­te. Die­ser posi­ti­ve Schritt wird aber von wei­te­ren Ver­schär­fun­gen für Schutz­su­chen­de an den EU-Außen­gren­zen flan­kiert. PRO ASYL befürch­tet, dass die neue Posi­tio­nie­rung der EU-Innenminister*innen das Recht von Flücht­lin­gen, an Euro­pas Gren­zen Asyl zu suchen, wei­ter beschnei­den wird – so etwa ihre Posi­tio­nie­rung zur Scree­ning- und Euro­dac-Ver­ord­nung (der Daten­bank zur Iden­ti­fi­ka­ti­on von Schutz­su­chen­den) und zum Schen­ge­ner Grenz­ko­dex (der den Per­so­nen­ver­kehr zwi­schen den EU-Staa­ten regelt). Ins­be­son­de­re die vor­ge­se­he­nen Ver­schär­fun­gen bei der Grenz­si­che­rung im Fal­le von »Instru­men­ta­li­sie­rung von Migran­ten«, wenn etwa ein Dritt­staat Flücht­lin­gen den Weg an die EU-Außen­gren­ze erleich­tert und dar­in ein ver­meint­li­cher Destab­li­sie­rungs­ver­such für die EU gele­sen wird, bie­ten eine Steil­vor­la­ge für Mit­glied­staa­ten, die ihre rechts­wid­ri­gen Push­backs euro­pä­isch legi­ti­mie­ren wollen.

Die Ent­schei­dung im Rat vom 10. Juni 2022 steht im Kon­text der Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems (»New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um«), die seit den ers­ten Vor­schlä­gen der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on dazu im Sep­tem­ber 2020, vor­an­ge­trie­ben wird. Kurz zusam­men­ge­fasst beinhal­tet die Reform bis­her Folgendes:

  • Scree­ning-Ver­ord­nung: Alle Schutz­su­chen­den sol­len direkt nach Auf­griff an der Gren­ze eines euro­päi­schen Mit­glied­staa­tes für fünf bis zehn Tage für ein Scree­ning fest­ge­setzt wer­den und für die­sen Zeit­raum als »nicht ein­ge­reist« gel­ten. Auf Basis der Infor­ma­tio­nen, die in dem kur­zen Scree­ning­ver­fah­ren erho­ben wer­den, soll dann ent­schie­den wer­den, wel­ches Ver­fah­ren sich dem anschließt: Das nor­ma­le Asyl­ver­fah­ren oder das Asyl­grenz­ver­fah­ren, in dem der/die Schutz­su­chen­de als »nicht ein­ge­reist« gilt. Das Scree­ning­ver­fah­ren ist aber unge­eig­net, um zum Bei­spiel eine bei einem Flücht­ling vor­lie­gen­de Vul­nerabi­li­tät zu erken­nen, die nicht offen­sicht­lich ist. (Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020)
  • Kri­sen-Ver­ord­nung: Wäh­rend einer »Kri­se« könn­ten die Asyl­grenz­ver­fah­ren erheb­lich aus­ge­wei­tet wer­den, so dass sie für alle Schutz­su­chen­den gel­ten, die EU-weit eine Aner­ken­nungs­quo­te von 75 % oder nied­ri­ger haben. Außer­dem soll bei »Kri­sen« oder »höhe­rer Gewalt«, wie einer Pan­de­mie, Mög­lich­kei­ten eröff­net wer­den, erheb­lich von wich­ti­gen Stan­dards abzu­wei­chen. (Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020)
  • Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung: Das Asyl­grenz­ver­fah­ren soll für eini­ge Fäl­le ver­pflich­tend wer­den, u.a. wenn die Aner­ken­nungs­quo­te eines Her­kunfts­lan­des unter 20 % liegt, und es soll den Mit­glied­staa­ten frei­ge­stellt sein es dar­über hin­aus­ge­hend auf fast alle Asyl­su­chen­den anzu­wen­den. Das Asyl­grenz­ver­fah­ren könn­te bis zu 12 Wochen dau­ern, wor­an sich bei einer Ableh­nungs­ent­schei­dung ein neu­es Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren anschlie­ßen wür­de, was eben­falls 12 Wochen dau­ern kann. Wäh­rend die­ser gesam­ten Zeit sol­len die Betrof­fe­nen als »nicht ein­ge­reist« gel­ten. Die­se Fik­ti­on der »Nicht-Ein­rei­se« wird sich nur mit Haft durch­set­zen las­sen. Damit wären die Betrof­fe­nen für über 24 Wochen (cir­ca sechs Mona­te) in gro­ßen Lagern an den Außen­gren­zen der EU fest­ge­setzt und iso­liert. Ihre not­wen­di­ge recht­li­che und sozia­le Unter­stüt­zung kann so nicht gewähr­leis­tet wer­den. Und als ob das noch nicht genug wäre, kann sich dar­an direkt – auch gemäß  den vor­ge­leg­ten  Vor­schlä­gen  für  eine  neue  Rück­füh­rungs­richt­li­nie – noch die erwei­ter­te Abschie­bungs­haft von bis zu 18 Mona­ten anschlie­ßen. Im Extrem­fall dro­hen also zwei Jah­re Frei­heits­be­schrän­kung und –ent­zie­hung. (Geän­der­ter Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020).
  • Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment­ver­ord­nung: Das Zustän­dig­keits­re­gime – also die Fra­ge, wel­cher Staat für die Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens ver­ant­wort­lich ist – soll an der bis­he­ri­gen Dub­lin-Ver­ord­nun­gen fest­hal­ten. Ins­be­son­de­re durch die Bei­be­hal­tung des »Erst­ein­rei­se­prin­zips« bleibt die Zustän­dig­keit häu­fig bei Außen­grenz­staa­ten wie Grie­chen­land und Ita­li­en. Die vor­ge­schla­ge­nen Rege­lun­gen zu den Soli­da­ri­täts­maß­nah­men, die bei »Migra­ti­ons­druck« und bei Aus­schif­fung nach See­not­ret­tung die Außen­grenz­staa­ten ent­las­ten sol­len, sind kom­pli­ziert und rea­li­täts­fern. (Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020)

Was ist eigentlich der New Pact on Migration and Asylum?

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Eigent­lich soll­ten die­se Vor­schlä­ge gemein­sam ver­han­delt wer­den, denn schließ­lich bedin­gen sich die Rege­lun­gen auch viel­fach. Doch die fran­zö­si­sche Regie­rung, die im ers­ten Halb­jahr 2022 die Rats­prä­si­dent­schaft inne­hat und damit die Ver­hand­lun­gen lei­tet und lenkt, hat mas­si­ven Druck auf­ge­baut, sich im Rat bereits jetzt auf ein­zel­ne Rechts­ak­te zu eini­gen, um die­se als Erfol­ge vor Ende ihrer Rats­prä­si­dent­schaft Ende Juni prä­sen­tie­ren zu kön­nen. Das ist ihr mit den Eini­gun­gen über die Ent­wür­fe zur Scree­ning- und Euro­dac-Ver­ord­nung sowie dem Schen­ge­ner Grenz­ko­dex beim letz­ten Rats­tref­fen der Innenminister*innen auch weit­ge­hend gelungen.

Über einen wich­ti­gen Punkt soll noch ver­han­delt wer­den: Gel­ten schutz­su­chen­de Men­schen wäh­rend des Scree­nings als ein­ge­reist oder nicht?

Systematische Haft an den Außengrenzen wäre Konsequenz

Eine sol­che Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se trifft auf erheb­li­che Beden­ken. Ins­be­son­de­re ist zu erwar­ten, dass sie letzt­lich nur durch frei­heits­be­schrän­ken­de bzw. –ent­zie­hen­de Maß­nah­men durch­ge­setzt wer­den kann. Dies könn­te zu sys­te­ma­ti­scher Haft an den Außen­gren­zen füh­ren. In Grie­chen­land lässt sich die­ser Ansatz schon jetzt beobachten.

Die Ein­füh­rung einer ver­pflich­ten­den Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se wäh­rend des Scree­ning-Ver­fah­rens könn­te zudem Weg­be­rei­ter für eine ver­pflich­ten­de Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se auch wäh­rend der auf drei Mona­te aus­gwei­te­ten Asyl­grenz­ver­fah­ren sein. Fai­re Asyl­ver­fah­ren sind aber unter haft­ähn­li­chen Bedin­gun­gen an den Außen­gren­zen nicht mög­lich, da unter die­sen Umstän­den ins­be­son­de­re die not­wen­di­ge unab­hän­gi­ge recht­li­che Unter­stüt­zung nicht gewähr­leis­tet wer­den kann.

Schon im Flughafenverfahren problematisch, an anderen Grenzen dramatisch

Die Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se und die durch sie zu erwar­ten­de Kon­se­quenz der Inhaf­tie­rung wäh­rend Screening‑, Asylgrenz‑, und Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren für ins­ge­samt rund sechs Mona­te hat PRO ASYL von Beginn an als eins der Kern­pro­ble­me des New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um kri­ti­siert (sie­he Stel­lung­na­hem zum Pakt). Wie pro­ble­ma­tisch die Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se sich bereits im Rah­men des deut­schen Flug­ha­fen­ver­fah­rens am Frank­fur­ter Flug­ha­fen aus­wirkt, hat PRO ASYL mit einer Pra­xis­stu­die gezeigt. Obwohl es dort eine asyl­recht­li­che Bera­tung gibt und bei Ableh­nung die Ver­tre­tung durch eine*n Rechtsanwalt/Rechtsanwältin gesi­chert ist, hat sich gezeigt: Die anwal­ti­che Ver­tre­tung kann nur begrenzt wir­ken, da die Ver­fah­ren für die Betrof­fe­nen durch die de fac­to Frei­heits­ent­zie­hung extrem belas­tend sind, Unter­stüt­zungs­struk­tu­ren sozia­ler und psy­cho­lo­gi­scher Art feh­len und durch die Schnel­lig­keit der Ver­fah­ren Zeit für Ver­trau­ens­auf­bau und Infor­ma­ti­ons­ge­win­nung fehlt. Ein ver­gleich­ba­res Sys­tem ist für Tau­sen­de von Asyl­su­chen­den an ande­ren Außen­gren­zen, wie auf den grie­chi­schen Inseln, rein prak­tisch gese­hen unmög­lich. Es dro­hen unfai­re Asyl­ver­fah­ren und rechts­wid­rig ver­wei­ger­ter Schutz.

Die Bun­des­re­gie­rung muss ihren erheb­li­chen Ein­fluss in Brüs­sel nut­zen und sich gegen eine sol­che ver­pflich­ten­de Anwen­dung der Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se wenden.

Eine Posi­tio­nie­rung des Euro­pa­par­la­ments, das neben dem Rat der EU als Ko-Gesetz­ge­ber fun­giert, zu den vor­ge­schla­ge­nen Rechts­ak­ten, steht noch aus. Soll­te das Par­la­ment sich dar­auf ein­las­sen, ein­zel­ne Rechts­ak­te anstatt das gesam­te Paket zu ver­han­deln, wür­den die Ver­hand­lun­gen zwi­schen Rat, Par­la­ment und Kom­mis­si­on begin­nen und eine Rea­li­sie­rung die­ser bedenk­li­chen Vor­schlä­ge drohen.

(wj)