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Aufnahme aus dem Europaparlament. Foto: Pixabay

Über ein Jahr nach der Vorstellung des »New Pact on Migration and Asylum« wird es ernst im Europaparlament. Die ersten vorgestellten Berichte lassen die Alarmglocken läuten: Grenzverfahren sollen überall stattfinden können, die Vorschläge zur Zuständigkeit und Solidarität werden verschärft. Noch aber steht die Position des Parlaments nicht fest.

Vor über einem Jahr, am 23. Sep­tem­ber 2020, hat Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en den »New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um« vor­ge­stellt. Der Reform­vor­schlag für das Gemein­sa­me Euro­päi­sche Asyl­sys­tem wird seit­dem kon­tro­vers dis­ku­tiert. PRO ASYL kri­ti­sier­te mit Vor­stel­lung des »New Pacts«, dass die Vor­schlä­ge Schutz­su­chen­de an den Außen­gren­zen, durch die Ein­füh­rung von ver­pflich­ten­den Grenz­ver­fah­ren, wei­ter ent­rech­ten wür­den und es bei einer unglei­chen Ver­ant­wor­tungs­tei­lung zwi­schen den Mit­glied­staa­ten blei­ben würde.

Mit der eska­lie­ren­den Lage an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze, an der Euro­pa- und Völ­ker­recht jeden Tag gebro­chen wer­den, gewinnt der Reform­pro­zess eine zusätz­li­che Bri­sanz – könn­te die Situa­ti­on doch genutzt wer­den, um mit ihr neue Ver­schär­fun­gen – ver­meint­lich – zu legi­ti­mie­ren. In die­se Rich­tung geht u.a. der Brief von 12 Innenminister*innen an die Kom­mis­si­on, in der sie die Finan­zie­rung von Grenz­zäu­nen der EU sowie eine Anpas­sung der »exis­ting legal frame­work to the new rea­li­ties« for­dern, z.B. durch Ände­run­gen im Schen­ge­ner Grenz­ko­dex. Das wür­de sich auch auf das Gemein­sa­me Euro­päi­sche Asyl­sys­tem mas­siv aus­wir­ken. Hoff­nung, dass sich durch den Reform­pro­zess eine not­wen­di­ge Stär­kung der Rech­te von Schutz­su­chen­den errei­chen lässt, hat man auch mit Blick auf die ers­ten Berich­te aus dem Euro­päi­schen Par­la­ment zu zwei ent­schei­den­den Rechts­ak­ten nicht

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Seit der Vor­stel­lung des Pakts wird bei den euro­päi­schen Ko-Gesetz­ge­bern, dem Rat, in dem die Mit­glied­staa­ten zusam­men­kom­men, und dem Euro­pa­par­la­ment, dis­ku­tiert und bera­ten. Im Rat wur­den zwar u.a. von der slo­we­ni­schen Rats­prä­si­dent­schaft eini­ge Kom­pro­miss­vor­schlä­ge gemacht – zum Teil sehr pro­ble­ma­ti­sche wie eine Ver­län­ge­rungs­mög­lich­kei­ten des Grenz­ver­fah­rens – doch scheint bis­lang bei kei­nem der gro­ßen Streit­punk­te zwi­schen den Mit­glied­staa­ten eine Eini­gung zustan­de gekom­men zu sein (sie­he hier­zu unse­re News).

Heiße Phase im EU-Parlament

Im Euro­pa­par­la­ment ist nun im Herbst 2021 die hei­ße Pha­se der Ver­hand­lun­gen los­ge­gan­gen. Im zustän­di­gen LIBE-Aus­schuss (Aus­schuss für bür­ger­li­che Frei­hei­ten, Jus­tiz und Inne­res) wur­den am 26. Okto­ber die Berich­te der Berichterstatter*innen zu den Vor­schlä­gen der Kom­mis­si­on für eine Asyl­ver­fah­rens­ord­nung und für eine Ver­ord­nung zum Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment, dem neu­en Dub­lin, vor­ge­stellt – zum Teil sogar mit Ver­schär­fun­gen im Ver­gleich zum Vor­schlag der Kom­mis­si­on. Das zeigt ein­mal mehr: der »New Pact« muss gestoppt werden!

Im nächs­ten Schritt haben die Schattenberichterstatter*innen der ande­ren Frak­tio­nen nun die Mög­lich­keit, eige­ne Vor­schlä­ge zu machen, die dis­ku­tiert wer­den. Erst dann kommt es zu einer Posi­ti­on des Euro­pa­par­la­ments, mit dem die Parlamentarier*innen in den Tri­log mit Kom­mis­si­on und Rat gehen könn­ten – vor­aus­ge­setzt, dass auch der Rat zu einer Posi­ti­on kommt.

Asylverfahrensverordnung: EU-finanzierte Grenzverfahren überall?

Mit dem »New Pact« hat die Kom­mis­si­on eine mas­si­ve Aus­wei­tung von Asyl­grenz­ver­fah­ren vor­ge­schla­gen, unter ande­rem durch eine ver­pflich­ten­de Anwen­dung der Grenz­ver­fah­ren auf Asyl­su­chen­de aus Her­kunfts­län­dern mit einer Schutz­quo­te von unter 20 Pro­zent, eine Ver­län­ge­rung der erlaub­ten Dau­er von Grenz­ver­fah­ren von aktu­ell vier Wochen auf 12 Wochen und die Ein­füh­rung einer Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se. Obwohl die Men­schen schon auf dem Ter­ri­to­ri­um des jewei­li­gen EU-Mit­glied­staa­tes sind, sol­len sie als »nicht ein­ge­reist« gel­ten und die Mit­glied­staa­ten sol­len die­se Nicht-Ein­rei­se ent­spre­chen durch­set­zen. Das wird abseh­bar nur mit Inhaf­tie­run­gen mög­lich sein. Zudem hat die Kom­mis­si­on ein neu­es Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren vorgeschlagen.

Fabi­en­ne Kel­ler, fran­zö­si­sche Abge­ord­ne­te von Renew Euro­pe im Euro­päi­schen Par­la­ment und zustän­di­ge Bericht­erstat­te­rin, hat am 26. Okto­ber ihren Bericht zu den Vor­schlä­gen der Kom­mis­si­on für eine Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung vor­ge­stellt. Obwohl vie­le zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen in den letz­ten Mona­ten immer wie­der her­vor­ge­ho­ben haben, dass Grenz­ver­fah­ren abseh­bar zu huma­ni­tär kata­stro­pha­len Zustän­den und zu unfai­ren Asyl­ver­fah­ren füh­ren, dar­un­ter auch PRO ASYL mit einem Bericht zum deut­schen Flug­ha­fen­ver­fah­ren, hält die Abge­ord­ne­te in ihrem Bericht an die­sen fest und macht nur zwei grö­ße­re Änderungsvorschläge.

Über­all in Euro­pa könn­ten Zen­tren ent­ste­hen, in denen Schutz­su­chen­de das Grenz­ver­fah­ren unter haft-ähn­li­chen Bedin­gun­gen durchlaufen.

Grenzverfahren überall möglich

Zum einen sol­len die Zen­tren, in denen die Grenz­ver­fah­ren durch­ge­führt wer­den, nicht mehr zwin­gend an den Außen­gren­zen oder in deren Nähe sein, son­dern die Mit­glied­staa­ten sol­len frei dar­über ent­schei­den kön­nen, wo sie die­se Zen­tren ansie­deln. Dies macht die Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se, die von Fabi­en­ne Kel­ler bei­be­hal­ten wird, umso absur­der: Über­all in Euro­pa könn­ten damit Zen­tren ent­ste­hen, in denen Schutz­su­chen­de das Grenz­ver­fah­ren durch­lau­fen, aber offi­zi­ell als nicht-ein­ge­reist gel­ten und die Zen­tren ent­spre­chend nicht ver­las­sen dür­fen. Die­ser grund­recht­lich höchst bedenk­li­chen Tat­sa­che scheint sich die Abge­ord­ne­te bewusst zu sein, denn an ver­schie­de­nen Stel­len will sie die grund­recht­li­chen Stan­dards für Inhaf­tie­run­gen – wie eine indi­vi­du­el­le Prü­fung der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit durch eine*n Richter*in unter Berück­sich­ti­gung weni­ger ein­grei­fen­der Maß­nah­men – in die Rege­lung zum Grenz­ver­fah­ren schrei­ben. Letzt­lich bleibt aber damit das Grund­pro­blem bestehen, dass ver­mut­lich Tau­sen­de von Asyl­su­chen­den ihr Asyl­ver­fah­ren in Haft (oder zumin­dest haft­ähn­li­chen Umstän­den) durch­lau­fen müssten.

Finanzierung von Zentren für Grenzverfahren durch EU

Zum ande­ren sol­len die Zen­tren zur Durch­füh­rung der Asyl- und Rück­füh­rungs­grenz­ver­fah­ren kom­plett von der EU finan­ziert wer­den. Dies ist sicher­lich als Anreiz für die Mit­glied­staa­ten mit EU-Außen­gren­ze gedacht, die bis­lang von der Aus­wei­tung der Grenz­ver­fah­ren nicht begeis­tert waren, da sie damit ein­mal mehr in die Pflicht für die Durch­füh­rung von Asyl­ver­fah­ren genom­men wer­den. Dass aber EU-Finan­zie­rung nicht gleich­be­deu­tend mit men­schen­wür­di­ger Unter­brin­gung ist, zei­gen die Recher­chen zum neu­en »Clo­sed Con­trol­led Access Cen­ter« auf der grie­chi­schen Insel Samos, das von NATO-Sta­chel­draht umge­ben ist und in dem die Men­schen prak­tisch rund um die Uhr mit­hil­fe von Droh­nen und Kame­ras über­wacht werden.

»»Das Camp liegt mit­ten im Nir­gend­wo und wird von drei Zaun­rei­hen und Sta­chel­draht umgeben.««

Ärz­te ohne Gren­zen zum neu­en Lager auf Samos. So sieht die Zukunft für Geflüch­te­te an den EU-Gren­zen aus.

Auch soll laut dem Vor­schlag von Kel­ler expli­zit der Zugang von NGOs zu Zen­tren, die für Grenz­ver­fah­ren genutzt wer­den, garan­tiert wer­den. Zwar ist dies grund­sätz­lich rich­tig – und soll­te nicht nur für Grenz­ver­fah­ren gel­ten – doch stellt sich auch hier wie bei vie­len ande­ren Punk­ten die Fra­ge, ob sol­che Rege­lun­gen in Län­dern wie Grie­chen­land oder Ungarn ein­ge­hal­ten wer­den wür­den und damit ihre Wir­kung über­haupt ent­fal­ten kön­nen. Ange­sichts von pro­ble­ma­ti­schen NGO-Geset­zen in die­sen Län­dern ist zu befürch­ten, dass die jewei­li­gen Regie­run­gen unbe­lieb­te NGOs ausschließen.

Wirksame Menschenrechtskontrolle ist überfällig!

Um die Ein­hal­tung von Grund­rech­ten wäh­rend der Grenz­ver­fah­ren zu garan­tie­ren, schlägt die Abge­ord­ne­te einen unab­hän­gi­gen Moni­to­ring-Mecha­nis­mus vor, der von der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on in Zusam­men­ar­beit mit dem jewei­li­gen Mit­glied­staat ein­ge­setzt wer­den und sowohl die Asyl­ver­fah­ren als auch die Umstän­de der Unter­brin­gung unter­su­chen soll. Im Vor­schlag für eine Scree­ning-Ver­ord­nung wur­de bereits von der Kom­mis­si­on ein Moni­to­ring-Mecha­nis­mus vor­ge­se­hen. Ein Kri­tik­punkt an die­sem ist, dass er nur das Scree­ning umfas­sen soll und somit weder Men­schen­rechts­ver­let­zung vor Regis­trie­rung – wie aktu­ell die ille­ga­len Push-Backs von Polen nach Bela­rus – noch Men­schen­rechts­ver­let­zung nach dem Scree­ning, also zum Bei­spiel im Grenz­ver­fah­ren, erfas­sen würde.

Ange­sichts der zahl­rei­chen bekann­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an Euro­pas Gren­zen, von Grie­chen­land über Kroa­ti­en zu Polen, die bis­lang haupt­säch­lich von NGOs und Journalist*innen bekannt gemacht wur­den, ist eine unab­hän­gi­ge und effek­ti­ve Men­schen­rechts­kon­troll­in­stanz an den Gren­zen über­fäl­lig. Es muss dar­um gehen, eine sol­che Instanz mög­lichst robust zu gestal­ten, damit ihre Berich­te von den ein­schlä­gi­gen Regie­run­gen nicht ein­fach igno­riert wer­den kön­nen. Hier­zu gehö­ren u.a. das Recht zu unan­ge­kün­dig­ten Besu­chen an allen rele­van­ten Gren­zen und Ein­rich­tun­gen sowie aus­rei­chen­de gesi­cher­te finan­zi­el­len Ressourcen.

Dem Vor­schlag von Fabi­en­ne Kel­ler scheint zumin­dest in Tei­len der Wil­le zu Grun­de zu lie­gen, ver­fah­rens­recht­li­che Prin­zi­pi­en und den Grund­rechts­schutz im Grenz­ver­fah­ren zu stär­ken. Indem sie aber die Grund­prin­zi­pi­en der vor­ge­schla­ge­nen Grenz­ver­fah­ren bei­be­hält, sind die klei­nen Ände­run­gen nicht spiel­ent­schei­dend. Wer für alle Schutz­su­chen­den in der EU fai­re Asyl­ver­fah­ren will, der muss sich für die Abschaf­fung von Grenz­ver­fah­ren einsetzen.

Das Lager Fylakios in der Evros-Region
Bereits jetzt schot­tet sich die EU immer mehr ab: Das Lager Fyla­kio in der Evros-Regi­on, nahe der grie­chisch-tür­ki­schen Gren­ze. Foto: UNHCR / Achil­leas Zavallis
Flüchtlinge an der Polnisch-belarussischen Grenze
Bereits jetzt schot­tet sich die EU immer mehr ab: Schutz­su­chen­de wer­den an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze fest­ge­hal­ten. Foto: pic­tu­re alli­ance / Nur­Pho­to / Maciej Moskwa
Grenzmauer in der Evros-Region
Bereits jetzt schot­tet sich die EU immer mehr ab: Die neue Grenz­mau­er in der Evros-Regi­on. Foto: pic­tu­re alli­ance / ASSOCIATED PRESS / Gian­nis Papanikos
Bereits jetzt schot­tet sich die EU immer mehr ab: Patrouli­len­boot vor der grie­chi­schen Küs­te. Foto:picture alli­ance / Nur­Pho­to | Nico­las Economou
Bereits jetzt schot­tet sich die EU immer mehr ab: Die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che wird beschul­digt, Asyl­su­chen­de auf Ret­tungs­in­seln aus­zu­set­zen und auf dem Meer nahe der tür­ki­schen See­gren­ze hilf­los trei­ben zu las­sen. Foto der tür­ki­schen Küs­ten­wa­che, 25. Mai 2020. Cre­dit: Tur­ki­sh Coast Guard

Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement: Dublin 4.0

Die Fra­ge über die Zustän­dig­keit für Asyl­ver­fah­ren in der EU gehört zu den umstrit­tens­ten Fra­gen in der euro­päi­schen Asyl­po­li­tik. Mit dem »New Pact« zog die Kom­mis­si­on ihren Vor­schlag für eine Dub­lin-IV-Ver­ord­nung von 2016 zurück und prä­sen­tier­te statt­des­sen den Vor­schlag für eine Ver­ord­nung zum Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment. Doch den viel ver­spro­che­nen »fresh start« stellt der Vor­schlag nicht dar, hält er doch in der Bestim­mung der Zustän­dig­keit für Asyl­ver­fah­ren letzt­lich – mit weni­gen Aus­nah­men – an den Dub­lin-Kri­te­ri­en fest, ins­be­son­de­re auch an dem Kri­te­ri­um der Erst­ein­rei­se. Die Bei­be­hal­tung des Dub­lin-Sys­tems wur­de zwar in dem Vor­schlag um einen Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus ergänzt, doch ist die Aus­ge­stal­tung kom­pli­ziert und kein Garant für effek­ti­ve Solidarität.

Das Euro­päi­sche Par­la­ment war bezüg­lich der Vor­schlä­ge der Kom­mis­si­on von 2016 schon weit gekom­men und hat­te bereits eine Posi­ti­on zum Dub­lin-IV-Vor­schlag ange­nom­men. Die­ser, nach der dama­li­gen Bericht­erstat­te­rin benann­ten, Wik­ström-Bericht war ein pro­gres­si­ver Neu­auf­schlag für die Debat­te und sah etwa eine Ver­tei­lung von Asyl­su­chen­den unter Berück­sich­ti­gung ihrer Inter­es­sen auf alle Mit­glied­staa­ten vor.

Enttäuschende Verschlechterung des Kommissionsvorschlags

Ein ähn­lich fort­schritt­li­cher Bericht war vom nun zustän­di­gen kon­ser­va­ti­ven Bericht­erstat­ter Tho­mas Tobé nicht zu erwar­ten gewe­sen und trotz­dem kann selbst unter die­ser Prä­mis­se der nun prä­sen­tier­te Vor­schlag als Ent­täu­schung gewer­tet wer­den. Wie die ECRE-Geschäfts­füh­re­rin Cathe­ri­ne Wool­lard in ihrem Edi­to­ri­al kom­men­tier­te: »Ein schlech­ter Vor­schlag wur­de noch schlech­ter gemacht«.

Der auch im LIBE-Aus­schuss auf Kri­tik gesto­ße­ne Vor­schlag des Abge­ord­ne­ten sieht die Strei­chung bzw. Begren­zung der weni­gen posi­ti­ven Ände­rungs­vor­schlä­ge der Kom­mis­si­on bezüg­lich der Zustän­dig­keits­ver­tei­lung vor. Wäh­rend die Kom­mis­si­on den Fami­li­en­nach­zug auf Geschwis­ter aus­wei­ten will, begrenzt der Schwe­de Tobé die­se Mög­lich­keit auf min­der­jäh­ri­ge Antragsteller*innen. Das neu von der Kom­mis­si­on – und an den Wik­ström-Bericht ange­leg­te – Zustän­dig­keits­kri­te­ri­um eines Bil­dungs- oder Aus­bil­dungs­ab­schlus­ses in einem Mit­glied­staat wird kom­plett gestri­chen. Damit wür­den gera­de die zustän­dig­keits­be­grün­den­den Kri­te­ri­en weg­fal­len bzw. ein­ge­schränkt wer­den, die am ehes­ten in die Rich­tung einer Berück­sich­ti­gung der Inter­es­sen der Betrof­fe­nen gehen. Aus Sicht von PRO ASYL ist eine sol­che Berück­sich­ti­gung essen­ti­ell, damit ein gutes Ankom­men gelin­gen kann. Zudem wür­de ein Zustän­dig­keits­sys­tem auch auf mehr Akzep­tanz sto­ßen, wenn es nicht nur auf Zwang, Sank­tio­nen und will­kür­li­che Kri­te­ri­en wie den Ort der Erst­ein­rei­se set­zen würde.

Verschärfung bei Haft und Überstellung

Bis­lang darf die soge­nann­te Dub­lin-Haft, also Inhaf­tie­rung zur Durch­set­zung der Über­stel­lung bei »erheb­li­cher Flucht­ge­fahr« (Art. 28 Dub­lin-III-Ver­ord­nung), nicht län­ger als sechs Wochen dau­ern. Wenn die Über­stel­lung in dem Zeit­raum nicht statt­ge­fun­den hat, dann darf die Per­son nicht län­ger inhaf­tiert wer­den. Die Kom­mis­si­on hat­te vor­ge­schla­gen, die­sen Zeit­raum auf vier Wochen zu ver­kür­zen. Im Bericht von Tobé wird die Haft­zeit aber auf bis zu 12 Wochen aus­ge­wei­tet, also eine Ver­dopp­lung der aktu­ell erlaub­ten Haft­zeit. Für Betrof­fe­ne ist das eine mas­si­ve Ver­schär­fung, die ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund des star­ken Ein­griffs in das Recht auf Frei­heit abzu­leh­nen ist.

Eine wei­te­re gra­vie­ren­de Ver­schär­fung für Betrof­fe­ne, die Tobé vor­schlägt, ist die aus­ge­wei­te­te Ver­län­ge­rung der Über­stel­lungs­frist. Bis­lang kann die regu­lä­re Über­stel­lungs­frist von sechs Mona­ten auf ein Jahr aus­ge­wei­tet wer­den, wenn die Per­son auf­grund einer Inhaf­tie­rung in Straf­haft nicht erfol­gen konn­te oder auf 18 Mona­te, wenn die Per­son als flüch­tig gilt (Art. 29 Abs. 2 Dub­lin-III-Ver­ord­nung). Die Regel zur Flüch­tig­keit hat die Kom­mis­si­on in ihrem Vor­schlag dahin­ge­hend geän­dert, dass die Frist aus­ge­setzt wird, solan­ge eine Per­son als flüch­tig gilt – es also auch nicht zum Frist­ab­lauf und dem Über­gang von Ver­ant­wor­tung kommt. Tobé schlägt zusätz­lich vor, dass die Ver­län­ge­rung der Frist auf 12 Mona­te auch bei »Nicht­be­fol­gung der Über­stel­lungs­ent­schei­dung« greift.

Ver­län­ge­rung der Haft – Ja!
Soli­da­ri­tät – Nein!

Die­se sehr offe­ne For­mu­lie­rung könn­te in einer Viel­zahl von Fäl­len den Über­gang der Ver­ant­wor­tung ver­zö­gern und somit auch den Zugang zum Asyl­ver­fah­ren. Denn vie­le Men­schen haben gute Grün­de, war­um sie inner­halb der EU in einen ande­ren Mit­glied­staat zie­hen als den, der für sie als zustän­dig gilt. Dazu gehö­ren die zum Teil sehr schlech­ten Lebens­be­din­gun­gen für Asyl­su­chen­de in ande­ren Mit­glied­staa­ten aber auch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge und Freund*innen, die in einem Mit­glied­staat woh­nen und den Start des Lebens in Euro­pa unter­stüt­zen und ver­ein­fa­chen können.

Keine Solidarität nach Seenotrettung

Es gab eine Zeit, in der regel­mä­ßig neue soge­nann­te »stand-offs« in den Medi­en Schlag­zei­len mach­ten, also wenn See­not­ret­tungs­schif­fe tage- bis wochen­lang in kei­nen Hafen ein­fah­ren durf­ten. Das The­ma ist zwar wei­test­ge­hend von den Titel­sei­ten ver­schwun­den, doch auch jetzt kommt es immer wie­der zu kri­ti­schen Ver­zö­ge­run­gen bei der Zuwei­sung eines siche­ren Hafens für zivi­le See­not­ret­tungs­schif­fe – bei­spiels­wei­se war­te­ten die Oce­an Viking und die Sea-Eye 4 im Novem­ber 2021 tage­lang auf die Erlaub­nis, in einen siche­ren Hafen in Ita­li­en ein­zu­fah­ren. In der Zeit der größ­ten Kon­fron­ta­ti­on wur­de die Situa­ti­on oft erst dadurch gelöst, dass sich eini­ge Mit­glied­staa­ten bereit erklär­ten, die Schutz­su­chen­den aufzunehmen.

Mehr als 22.000

Geflüch­te­te star­ben seit 2014 auf dem Mittelmeer.

In ihrem Vor­schlag für die Ver­ord­nung zum Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment hat die Kom­mis­si­on einen an die­sen Pra­xis­fäl­len ori­en­tier­ten – kom­pli­ziert aus­ge­stal­te­ten – Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus vor­ge­schla­gen. Im Fal­le von »Migra­ti­ons­druck« oder See­not­ret­tung sol­len ande­re Mit­glied­staa­ten Soli­da­ri­täts­maß­nah­men zusa­gen. Die­se kön­nen von der Über­nah­me von Asyl­su­chen­den oder Aner­kann­ten hin zu prak­ti­scher Unter­stüt­zung wie capa­ci­ty buil­ding oder den umstrit­te­nen Rück­kehr­pa­ten­schaf­ten reichen.

Tobé schlägt nun vor, den Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus für die See­not­ret­tung zu strei­chen. Dies wird mit Sicher­heit Abge­ord­ne­ten aus Mit­glied­staa­ten wie Ita­li­en, Spa­ni­en, Grie­chen­land oder Mal­ta übel auf­sto­ßen – soll­te doch gera­de dies eine Ent­las­tung für sie dar­stel­len. Wenn für See­not­ret­tung kei­ne Soli­da­ri­tät garan­tiert wird, erhöht dies die Gefahr, dass es wie­der zu lan­gen, gesund­heits­ge­fähr­den­den und lebens­ge­fähr­li­chen »stand-offs« kommt.

Schwierige Diskussionen im LIBE-Ausschuss zu erwarten

Die Schattenberichterstatter*innen wer­den im Novem­ber nun ihre Gegen­vor­schlä­ge fer­tig stel­len und prä­sen­tie­ren. Wie sich bei der Vor­stel­lung des Berichts von Tho­mas Tobé zur Ver­ord­nung zum Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment schon zeigt, ste­hen den Parlamentarier*innen noch schwie­ri­ge Dis­kus­sio­nen bevor. Dass Tobé solch gra­vie­ren­de Ver­schär­fun­gen vor­ge­schla­gen hat, könn­te Tak­tik gewe­sen sein, um zum einen zu signa­li­sie­ren, dass es immer noch schlech­ter und mit weni­ger Soli­da­ri­tät geht. Zum ande­ren besteht so die Gefahr, dass die ande­ren Frak­tio­nen sich an sei­nen Ver­schär­fun­gen abar­bei­ten, anstatt – wie damals beim Wik­ström-Bericht – dem Kom­mis­si­ons­vor­schlag eine wirk­lich eige­ne und neue Posi­ti­on gegen­über zu stellen.

Wäh­rend bei die­ser Ver­ord­nung hit­zi­ge Dis­kus­sio­nen also gewiss sind, wäre es wün­schens­wert, wenn sich bezüg­lich des Vor­schlags von Fabi­en­ne Kel­ler zur Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung noch mehr Wider­spruch regt – ins­be­son­de­re zu der Bei­be­hal­tung der höchst pro­ble­ma­ti­schen Grenz­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gun­gen. Das darf nicht die Zukunft des euro­päi­schen Asyl­rechts sein!

Die­se ers­ten Vor­schlä­ge aus dem Euro­päi­schen Par­la­ment bekräf­ti­gen die Sor­gen und Kri­tik von PRO ASYL und zei­gen: Der »New Pact« muss gestoppt werden!