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Kundgebung von Geflüchteten vor dem Kanzleramt Ende 2020. Foto: Flüchtlingsrat Berlin

Vor fünf Jahren wurde der Familiennachzug für subsidiär Geschützte ausgesetzt, zwei Jahre darauf wurde die Regelung gar in Gesetzesform gegossen. Seitdem sind tausende Familien voneinander getrennt. Ein Gutachten von PRO ASYL und JUMEN legt unsichtbare Hürden und die Verfassungswidrigkeit beim verweigerten Familiennachzug offen.

Wenn kei­ne expli­zi­ten Grün­de poli­ti­scher Ver­fol­gung vor­lie­gen, erhal­ten Geflüch­te­te aus Kriegs­ge­bie­ten oft einen sub­si­diä­ren Schutz­sta­tus.  Vor fast fünf Jah­ren, am 16.03.2016, hat der Deut­sche Bun­des­tag beschlos­sen, für die­se Grup­pe von Men­schen das Recht, als Fami­lie zusam­men­zu­le­ben, für zwei Jah­re voll­stän­dig aus­zu­set­zen. Gerecht­fer­tigt wur­de das von der betei­lig­ten SPD damals auch mit der gerin­gen Zahl an Schutz­su­chen­den mit die­sem Schutz­sta­tus. Kurz dar­auf änder­te sich die Pra­xis im Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge und syri­sche Flücht­lin­ge erhiel­ten zuneh­mend den sub­si­diä­ren Schutz für Bür­ger­kriegs­flücht­lin­ge anstel­le des Flücht­lings­schut­zes nach der Gen­fer Konvention.

Ursprüng­lich war 2016 von der Poli­tik auch ver­spro­chen wor­den, dass die alte Rechts­la­ge nach zwei Jah­ren auto­ma­tisch wie­der in Kraft tre­ten und das Recht auf Fami­li­en­nach­zug wie­der mög­lich sein sol­le. Rea­li­tät wur­de aller­dings das trau­ri­ge Gegen­teil: Mit dem, am 01.08.2018 in Kraft getre­te­nen, Fami­li­en­nach­zugs­neu­re­ge­lungs­ge­setz wur­de eine Kon­tin­gen­t­re­ge­lung ein­ge­führt, die aus einem Rechts­an­spruch nur mehr einen Gna­den­akt des Staa­tes macht.

Heu­te stel­len wir fest: Tau­sen­de Fami­li­en sind seit Jah­ren dau­er­haft getrennt und vie­le haben über­haupt kei­ne Chan­ce, zusammenzukommen.

Heu­te stel­len wir fest: Tau­sen­de Fami­li­en sind seit Jah­ren dau­er­haft getrennt und vie­le haben über­haupt kei­ne Chan­ce, zusam­men­zu­kom­men. Vor allem syri­sche und eri­tre­ische Schutz­su­chen­de sind von der Ein­schrän­kung des Fami­li­en­nach­zugs betrof­fen. Eine Rück­kehr, um als Fami­lie zusam­men­zu­le­ben, ist in die­se Län­der jedoch nicht möglich.

Zermürbte Familien

Gemein­sam mit der Orga­ni­sa­ti­on JUMEN haben wir seit August 2018 die Pra­xis des Nach­zugs­ver­fah­rens ana­ly­siert und zei­gen in dem Ergeb­nis­pa­pier »Zer­ris­se­ne Fami­li­en – Pra­xis­be­richt und Rechts­gut­ach­ten zum Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten« prak­ti­sche Pro­ble­me und die Rechts­wid­rig­keit auf. Das Gut­ach­ten bestä­tigt die Ver­fas­sungs­wid­rig­keit der Rege­lung. Grund­ge­setz, Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on, EU-Grund­rech­te-Char­ta und UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on wer­den ver­letzt. Die Fami­li­en wer­den indes­sen von den jah­re­lan­gen War­te­zei­ten ein­fach zer­mürbt, ihr Leid wird noch nicht ein­mal mehr öffent­lich wahrgenommen.

Kha­led W.* hat es aus Afgha­ni­stan nach Deutsch­land geschafft – und ver­sucht seit Som­mer 2018, den Fami­li­en­nach­zug für sei­ne Frau und die Kin­der zu errei­chen. Sie haben alle Unter­la­gen zusam­men, der Bru­der von Kha­led unter­stützt sei­ne Frau in dem Ver­fah­ren. Aber es tre­ten neue Hür­den auf: Für die Voll­macht for­dert IOM nun extra eine nota­ri­el­le Beglau­bi­gung, was sonst unüb­lich ist. Das Ver­fah­ren ver­zö­gert sich weiter.

Auswärtiges Amt entzieht sich gerichtlicher Kontrolle

Das Ver­fah­ren zum Fami­li­en­nach­zug wird vom Aus­wär­ti­gen Amt so gesteu­ert, dass die Rechts­wid­rig­keit von Gesetz­ge­bung und Ablauf des Ver­fah­rens von Gerich­ten nicht fest­ge­stellt wer­den kann. Es wer­den nur 1.000 Anträ­ge pro Monat ent­ge­gen­ge­nom­men – eine Kla­ge­mög­lich­keit hat aber nur der­je­ni­ge, des­sen Antrag über­haupt erst ein­mal bear­bei­tet und dann abge­lehnt wurde.

Dadurch kön­nen gera­de die Fäl­le, die mit ihren Anträ­gen nie durch­kom­men oder in War­te­schlei­fen hän­gen, nicht vor das zustän­di­ge Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin gebracht wer­den. Das poli­tisch hoch­um­strit­te­ne Gesetz zur Kon­tin­gen­tie­rung wird somit einer gericht­li­chen Kon­trol­le ent­zo­gen. In gro­ßem Stil wird der Fami­li­en­nach­zug ver­hin­dert, ohne dass die Ent­schei­dun­gen trans­pa­rent nach­voll­zieh­bar sind und somit das Behör­den­han­deln durch Gerich­te geprüft wird.

Die Ver­fah­ren wer­den mit der Betei­li­gung von IOM, Aus­wär­ti­gem Amt, Bot­schaf­ten, Aus­län­der­be­hör­den und Bun­des­ver­wal­tungs­amt auf­ge­bläht und völ­lig intrans­pa­rent, Betrof­fe­ne wer­den jah­re­lang hingehalten.

Der 66-jäh­ri­ge Ahmed K.*, ein­ge­reist 2015, wird im Mai 2017 als sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ter aner­kannt. Sei­ne Frau bemüht sich mona­te­lang um einen Ter­min bei IOM in Bei­rut, Anfang Janu­ar 2020 erhält sie ihn end­lich – fünf Jah­re ist das Paar da bereits getrennt. Kurz danach, Mit­te März, wird das Visum erteilt, es ver­fällt jedoch wie­der, weil die Ein­rei­se unter Coro­na-Bedin­gun­gen nicht inner­halb der Frist gelingt. Der­zeit läuft ein neu­er Antrag auf Neuvisierung.

Lange Wartezeiten, fehlende Priorisierung

Allein der Antrag­stel­lung bei den Aus­lands­ver­tre­tun­gen gehen Ter­min-War­te­zei­ten von zwölf bis 18 Mona­ten vor­aus. Danach sind die Aus­län­der­be­hör­den am Zug – vie­le blo­ckie­ren durch im Gesetz nicht vor­ge­se­he­ne Prüf­an­for­de­run­gen. Bei­spiels­wei­se wird in der Pra­xis oft der Wohn­raum­nach­weis oder die Lebens­un­ter­halts­si­che­rung gefor­dert, wel­che aus­drück­lich kei­ne Vor­aus­set­zung sein sol­len. Das Ver­fah­ren ist vom Aus­wär­ti­gen Amt so orga­ni­siert, dass weder bei den Bot­schaf­ten, noch bei den Aus­län­der­be­hör­den, noch beim Bun­des­ver­wal­tungs­amt eine Prio­ri­sie­rung von beson­de­rer Här­te stattfindet.

Und durch eine gede­ckel­te Ter­min­ver­ga­be schafft das Aus­wär­ti­ge Amt einen wei­te­ren Fla­schen­hals: Oft­mals wer­den kaum mehr als 1.000 Anträ­ge im Monat von den Bot­schaf­ten im Aus­land an die Aus­län­der­be­hör­den in Deutsch­land wei­ter­ge­lei­tet (sie­he Deut­scher Bun­des­tag, Druck­sa­che 19/14640, S.10 ff.).

Frau X. möch­te ihre drei Kin­der im Alter von vier, sechs und acht Jah­ren aus Ugan­da zu sich holen. Die Aus­län­der­be­hör­de ver­wei­gert die Zustim­mung, weil die Mut­ter in Nacht­schicht arbei­tet und sich dann nicht um die Kin­der küm­mern könn­te, wenn die­se in Deutsch­land wären.

Falsche Zahlenprognosen als Grundlage

Um die gesetz­li­chen Rege­lun­gen zu erwir­ken, haben poli­tisch Ver­ant­wort­li­che mit mas­siv über­höh­ten  Zah­len­pro­gno­sen Angst geschürt. Der heu­ti­ge Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer hat­te bei­spiels­wei­se in den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen mit der SPD Anfang 2018 gewarnt, bis zu 300.000 Ange­hö­ri­ge wür­den nach Deutsch­land kom­men wol­len, wenn der Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten wie­der ermög­licht würde.

Es gibt kei­nen Grund, poli­tisch Ver­folg­te aus Syri­en anders zu behan­deln, als vor Fol­ter, Todes­stra­fe oder unmensch­li­cher Behand­lung durch das Assad-Regime Geflohene.

Die Rea­li­tät wider­legt ihn: Seit August 2018 wur­den ins­ge­samt nur 19.056 Fami­li­en­nach­zugs­vi­sa erteilt, aktu­ell lie­gen noch für 11.400 Per­so­nen ent­spre­chen­de Ter­min­an­fra­gen vor. Rech­net man dies zusam­men beträgt die aktu­el­le Zahl nur ein Zehn­tel der dama­li­gen Prognose.

Im gesam­ten Jahr 2020 wur­den nur 5311 Visa welt­weit an Ange­hö­ri­ge von sub­si­di­är Geschütz­ten durch die deut­schen Bot­schaf­ten erteilt, also 44,2 % des fest­ge­leg­ten 1000er Kon­tin­gents. In den 29 Mona­ten seit Beginn der Neu­re­ge­lung wur­den statt der zuge­sag­ten 29.000 Visa nur 19.056 Visa erteilt, das ent­spricht 65,7% der ver­spro­che­nen Zusage.

Das Familiennachzugsneuregelungsgesetz gehört aufgehoben!

Der Pra­xis­be­richt und das Rechts­gut­ach­ten zei­gen die Ver­stö­ße gegen Grund- und Men­schen­rech­te und die fata­len Aus­wir­kun­gen der getrof­fe­nen gesetz­li­chen Rege­lun­gen auf:

  • Das Kon­tin­gent sowie die in der Pra­xis auf­tre­ten­den, erheb­li­chen War­te­zei­ten und das nicht aus­ge­schöpf­te Kon­tin­gent ver­sto­ßen gegen das Recht auf Fami­li­en­le­ben in Art. 6 GG und in Art. 8 EMRK.
  • Das Kin­des­wohl gem. Art 3 UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on wird man­gels feh­len­der Prio­ri­sie­rung nicht berücksichtigt.
  • Die unter­schied­li­chen Rege­lun­gen für Men­schen mit Aner­ken­nung nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK-Flücht­lin­ge) und sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te ver­sto­ßen gegen das Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot des Grund­ge­set­zes und der EU-Grund­rech­te-Char­ta. Es gibt kei­nen Grund, poli­tisch Ver­folg­te aus Syri­en anders zu behan­deln, als vor Fol­ter, Todes­stra­fe oder unmensch­li­cher Behand­lung durch das Assad-Regime Geflo­he­ne. Bei­de Grup­pen kön­nen auf unbe­stimm­te Dau­er nicht in das Her­kunfts­land zurück.

Wir fordern:

Auch für sub­si­di­är Geschütz­te muss das Recht, als Fami­lie zusam­men­zu­le­ben, gewähr­leis­tet wer­den, sie müs­sen recht­lich wie­der mit GFK-Flücht­lin­gen gleich­ge­stellt wer­den da bei­den Grup­pen der Weg in das Her­kunfts­land län­ger­fris­tig ver­sperrt ist.

Außer­dem muss die Fami­li­en­ein­heit zeit­nah her­ge­stellt, das Visum zur Ein­rei­se spä­tes­tens inner­halb von drei Mona­ten erteilt wer­den. Wenn für erwünsch­te Arbeits­mi­gra­ti­on in weni­gen Wochen ein Visums­ver­fah­ren abge­schlos­sen ist, dann muss dies auch für geflüch­te­te Fami­li­en gel­ten. Dabei darf die Coro­na-Pan­de­mie nicht als Grund vor­ge­scho­ben wer­den. Sie hat die Situa­ti­on ver­schärft, ist jedoch nicht die Ursache.

*Namen geändert