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Dr. Neil Falzon vertritt als Rechtsanwalt die drei Angeklagten. Foto: MaltaToday

Wie es um den El Hiblu-Prozess um drei junge Geflüchtete steht und warum er mit Sorge auf die aktuellen Entwicklungen in Europa schaut, erklärt Rechtsanwalt Neil Falzon aus Malta im Interview.

Im März 2019 wur­de das Han­dels­schiff »El Hib­lu 1« von einem Flug­zeug der EU-Mili­tär­mis­si­on EUNAVFOR MED ange­wie­sen, 108 Men­schen aus See­not zu ret­ten. Nach der Ret­tung nahm der Kapi­tän Kurs auf Liby­en. Als den Schutz­su­chen­den dies bewusst wur­de, dräng­ten sie den Kapi­tän dazu, umzu­keh­ren. Dies gelang, er steu­er­te Mal­ta an. Drei der Geflüch­te­ten, zu dem Zeit­punkt 15, 16 und 19 Jah­re alt, wur­den dort nach Ankunft inhaf­tiert. Was wird ihnen vorgeworfen?

Es gibt eine lan­ge Lis­te mit Ankla­ge­punk­ten gegen die drei Jugend­li­chen. Das ist bis­her eine vor­läu­fi­ge Ankla­ge, noch nicht die end­gül­ti­ge, aber die Vor­wür­fe gegen die drei Jungs wie­gen schwer. Ihnen wird unter ande­rem Ter­ro­ris­mus vorgeworfen.

Waren sie denn bewaff­net oder haben sie den Kapi­tän und die Crew bedroht?

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Flücht­lin­ge wur­den im ers­ten Halb­jahr 2021 zurück nach Liby­en geschleppt.

Nein. Der Kapi­tän und die Crew haben aus­ge­sagt, dass sie um ihre Sicher­heit fürch­te­ten, aber nie­mand wur­de ver­letzt – dar­in stim­men alle über­ein –, das Schiff nicht beschä­digt, und vor Gericht sagen sie nun aus, dass laut ihrer Erin­ne­rung nie­mand bewaff­net war. Es waren ins­ge­samt 108 Migran­ten an Bord; dass aus­ge­rech­net die­se Drei nun ange­klagt sind, liegt dar­an, dass einer von ihnen eng­lisch spricht und zwi­schen der Schiffs­be­sat­zung und den Schutz­su­chen­den ver­mit­telt hat. Der Kapi­tän hat ihn sogar zu sich geru­fen und um Über­set­zung und Ver­mitt­lung gebe­ten; die zwei ande­ren Jungs beglei­te­ten ihn. Die Drei haben dann eine Schlüs­sel­rol­le dabei gespielt, die Men­schen an Bord zu beru­hi­gen und die Lage zu entspannen.

»Der Kapi­tän hat­te den Schutz­su­chen­den ver­spro­chen, sie in Sicher­heit zu brin­gen, nach Euro­pa. Aber ent­ge­gen die­ser Aus­sa­ge nahm er Kurs auf Libyen.«

Wie ist es mög­lich, dass in einem EU-Staat unter dem Vor­wand der Ter­ror­be­kämp­fung – einer All­zweck­waf­fe, die man sonst aus Dik­ta­tu­ren kennt – Men­schen ange­klagt werden?

Das liegt dar­an, dass der Kapi­tän des Han­dels­schif­fes die mal­te­si­schen Behör­den vor dem Ein­lau­fen in den Hafen dar­über infor­miert hat­te, dass das Schiff von den Migran­ten »über­nom­men« wor­den sei und er kei­ne Kon­trol­le mehr habe. Völ­lig außer Acht gelas­sen wird dabei aber der Kon­text: Der Kapi­tän hat­te den Schutz­su­chen­den ver­spro­chen, sie in Sicher­heit zu brin­gen, nach Euro­pa. Aber ent­ge­gen die­ser Aus­sa­ge nahm er Kurs auf Liby­en. Als die Geflüch­te­ten das begrif­fen und die Lich­ter Liby­ens sahen, fühl­ten sie sich zurecht getäuscht. Sie waren in Auf­ruhr und ver­such­ten ver­zwei­felt, die Besat­zung zur Umkehr zu bewe­gen. Aber um den Vor­wurf der Pira­te­rie und des Ter­ro­ris­mus zu ver­ste­hen, muss man auch die poli­ti­schen Zusam­men­hän­ge sehen: Mal­ta stellt eine Fes­tung dar, um ganz Euro­pa die Migran­ten vom Leib zu halten.

Wo steht das Ver­fah­ren momen­tan, wann ist mit einem Urteil zu rechnen?

Das ist schwer zu sagen. Momen­tan befin­den wir uns im Vor­ver­fah­ren, die Beweis­auf­nah­me läuft noch. Wir Anwäl­te haben von Anfang an dar­auf gedrun­gen, dass die ande­ren Migrant*innen an Bord als Zeug*innen gela­den wer­den. Doch das ist zu unse­rem gro­ßen Ärger zwei Jah­re lang nicht pas­siert. Statt­des­sen wur­den vor Gericht nur die Besat­zung und Beam­te befragt. Erst vor weni­gen Mona­ten wur­den erst­mals eini­ge der ande­ren Schutz­su­chen­den gela­den. Aber jetzt, fast zwei Jah­re spä­ter, sagt die Poli­zei, dass sie vie­le von ihnen nicht mehr fin­den kön­ne. Nicht über­ra­schend sind eini­ge Migrant*innen wei­ter gezo­gen. Gerichts­ter­mi­ne fin­den ein bis zwei Mal im Monat statt, bei dem lang­sa­men Tem­po, das wir bis­her haben, und der gro­ßen Anzahl an Zeug*innen kann es noch vie­le Mona­te dau­ern – zur gro­ßen Frus­tra­ti­on mei­ner Mandanten.

»Ihrer Ansicht nach haben sie das ein­zig Ver­nünf­ti­ge getan: näm­lich gehol­fen, dass sie nicht in die Fol­ter­kel­ler Liby­ens zurück­ge­bracht wer­den. Hier wer­den sie wie Ver­bre­cher behandelt.«

Sie ver­tre­ten die jun­gen Män­ner als Anwalt. Wie geht es ihnen heute?

Es geht ihnen psy­chisch nicht gut, die Unsi­cher­heit, in die das Gerichts­ver­fah­ren sie stürzt, ist zer­mür­bend. Sie sind extrem gestresst und ver­ste­hen nicht, war­um das so lan­ge dau­ert. Sie haben gedacht, in Euro­pa gäbe es schnell Gerech­tig­keit. »War­um wer­den wir wie Ver­bre­cher behan­delt?«, fra­gen sie mich immer wie­der. Die ande­ren Migrant*innen, die mit auf dem Schiff waren, nen­nen sie Hel­den. Ihrer Ansicht nach haben sie das ein­zig Ver­nünf­ti­ge getan: näm­lich gehol­fen, dass sie nicht in die Fol­ter­kel­ler Liby­ens zurück­ge­bracht wer­den, son­dern die Chan­ce haben, in Euro­pa einen Asyl­an­trag zu stellen.

Was droht ihnen?

Lebens­lan­ge Haft. Ver­ständ­li­cher­wei­se ist das eine irr­sin­ni­ge Last auf ihren Schul­tern. Das sind noch hal­be Kin­der, um die es hier geht! Die Drei wur­den im Novem­ber vor zwei Jah­ren auf Bewäh­rung aus der Haft ent­las­sen, aber nun igeln sie sich ein, haben kaum Kon­tak­te nach außen, tref­fen sich höchs­tens zu Dritt und spre­chen immer wie­der über das Ver­fah­ren. Wir ver­su­chen gemein­sam mit Unterstützer*innen, sie indi­vi­du­ell zu beglei­ten und bei­spiels­wei­se auch Sport­an­ge­bo­te für sie zu fin­den, damit sie eine Mög­lich­keit haben, sich abzu­len­ken von die­ser schreck­li­chen Situation.

Was sind das für Men­schen, wovon träu­men sie?

Der Ältes­te ist ver­hei­ra­tet und gera­de Vater gewor­den. Er hat eine gute Arbeit, aber er hat Angst vor der Insta­bi­li­tät, die der Pro­zess für ihn und sei­ne jun­ge Fami­lie bedeu­tet. Die bei­den jün­ge­ren Män­ner haben Gele­gen­heits­jobs, um ein biss­chen Geld zu ver­die­nen, aber eigent­lich wür­den sie ger­ne stu­die­ren oder eine Aus­bil­dung machen. Einer von ihnen nimmt gera­de an einem Online-Trai­nings­kurs zu IT-Sicher­heit teil.

Ein inter­na­tio­na­les Bünd­nis, zu dem auch PRO ASYL gehört, for­dert die sofor­ti­ge Ein­stel­lung des Ver­fah­rens gegen die »El Hib­lu 3«. Ist das recht­lich denn möglich?

Die Staats­an­walt­schaft ent­schei­det, wel­che Ankla­ge­punk­te letzt­lich zu einem Ver­fah­ren füh­ren oder ob die Ankla­ge ganz fal­len gelas­sen wird. Es ist momen­tan nicht abseh­bar, in wel­che Rich­tung es geht. Wir hof­fen, dass sie den Gesamt­zu­sam­men­hang berück­sich­tigt und mora­li­sches Urteils­ver­mö­gen an den Tag legt. Fest steht: Die Ankla­ge ist völ­lig über­zo­gen, die drei jun­gen Män­ner sind defi­ni­tiv kei­ne Pira­ten oder Terroristen!

»Was nützt es, wenn wir auf dem Papier ein schö­nes Asyl­sys­tem haben, aber die EU-Staa­ten den Zugang zu fai­ren Asyl­ver­fah­ren sys­te­ma­tisch erschwe­ren oder verhindern?«

Im grie­chi­schen Les­bos soll bald ein Pro­zess gegen die Syre­rin Sarah Mar­di­ni und den Deut­schen Seán Bin­der begin­nen. Bei­den dro­hen bis zu 25 Jah­re Gefäng­nis, weil sie 2018 eine grie­chi­sche Orga­ni­sa­ti­on dabei unter­stütz­ten, Men­schen aus See­not zu ret­ten. Was hat die­ser Fall mit den El Hib­lu 3 gemeinsam?

In vie­len Regio­nen Euro­pas beob­ach­ten wir, dass die Regie­run­gen gericht­lich gegen Geflüch­te­te und ihre Unterstützer*innen vor­ge­hen – die­se Kri­mi­na­li­sie­rung ist eine erschre­cken­de Ten­denz, die lei­der zunimmt. Für NGOs wird die Luft immer dün­ner, vie­le Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen sehen sich restrik­ti­ven Geset­zen gegen­über, sie wer­den sank­tio­niert oder straf­recht­lich ver­folgt. Schutz­su­chen­den wer­den seit eini­gen Jah­ren immer mehr Hür­den in den Weg gelegt, Euro­pa zu errei­chen. Das erle­ben wir ja gera­de sehr ein­drucks­voll an der pol­ni­schen Gren­ze. Was nützt es, wenn wir auf dem Papier ein schö­nes Asyl­sys­tem haben, aber die EU-Staa­ten den Zugang zu fai­ren Asyl­ver­fah­ren sys­te­ma­tisch erschwe­ren oder ver­hin­dern? Genau das pas­siert: Über­all zieht Euro­pa Mau­ern hoch, und für Geflüch­te­te ist es fast unmög­lich gewor­den, über­haupt ins Asyl­ver­fah­ren zu gelangen.

»Anstatt Men­schen im Mit­tel­meer ertrin­ken oder an der Ost­gren­ze erfrie­ren zu las­sen, braucht es end­lich mehr lega­le Zugangswege.«

Las­sen sich Schutz­su­chen­de und Flüchtlingsaktivist*innen Ihrer Erfah­rung nach ein­schüch­tern von der­ar­ti­gen Verfahren?

Wir beob­ach­ten viel Mut sei­tens der Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen und Aktivist*innen. Trotz der poli­ti­schen Abschre­ckungs­ver­su­che sind da drau­ßen im Mit­tel­meer noch immer pri­va­te Seenotretter*innen unter­wegs. Es gibt nach wie vor Europäer*innen, die Geflüch­te­te recht­lich bera­ten, sie medi­zi­nisch ver­sor­gen oder sie beglei­ten und infor­mie­ren. Aber irgend­wann ist man als Einzelne*r schon ein­ge­schüch­tert. Nie­mand will mit Stra­fen belegt wer­den, nie­mand will ins Gefäng­nis gehen, alle machen sich Gedan­ken um ihre Fami­li­en, die das eben­falls betrifft. Man­che Leu­te über­le­gen es sich unter die­sen Umstän­den sicher zwei Mal, ob sie sich wirk­lich für Schutz­su­chen­de ein­set­zen sollen.

Und Schutz­su­chen­de, las­sen sie sich abschrecken?

Solan­ge es Krie­ge gibt, wer­den Men­schen ihre Hei­mat ver­las­sen auf der Suche nach einem bes­se­ren Leben. Solan­ge es unfai­re Wirt­schafts- und Han­dels­sys­te­me gibt, wer­den Men­schen aus­wan­dern. Nie­mand wird sie davon abhal­ten kön­nen – egal wie vie­le Mau­ern wir hoch­zie­hen und wie vie­le Sta­chel­draht­zäu­ne wir bau­en. Euro­pa ist das Ver­spre­chen auf ein bes­se­res Leben. Anstatt Men­schen im Mit­tel­meer ertrin­ken oder an der Ost­gren­ze erfrie­ren zu las­sen, braucht es end­lich mehr lega­le Zugangswege.

In Grie­chen­land ist »Men­schen­schmug­gel« der zweit­häu­figs­te Inhaf­tie­rungs­grund. Im Gefäng­nis lan­den Geflüch­te­te, die sich irgend­wie her­vor­ge­tan haben, indem sie etwa ein Schlauch­boot gesteu­ert haben. Gelingt der Ver­such der Poli­tik, mit­hil­fe absur­der Gerichts­ver­fah­ren die Men­schen­rech­te aus­zu­he­beln, oder hält die Jus­tiz stand?

Es gibt eini­ge Fäl­le und Gerichts­ur­tei­le, die mich opti­mis­tisch stim­men, muti­ge Richter*innen, die sich mit ihren Urtei­len gegen den Ver­such poli­ti­scher Ver­ein­nah­mung weh­ren und gegen das Bestre­ben, Geflüch­te­te und ihre Unterstützer*innen zu kri­mi­na­li­sie­ren. Ich den­ke da bei­spiels­wei­se an das Urteil von Ita­li­ens obers­tem Gericht, das die Frei­las­sung der deut­schen Kapi­tä­nin Caro­la Racke­te bestä­tig­te, oder auch an das jüngs­te Urteil, bei dem ein Gericht in Nea­pel den Kapi­tän eines Han­dels­schif­fes zu einer Haft­stra­fe ver­ur­teil­te, weil er Geflo­he­ne nach Liby­en zurück­brach­te. Ich hof­fe, dass sich unse­re Staats­an­walt­schaft in Mal­ta im El Hib­lu-Fall ein Bei­spiel dar­an neh­men wird.

Haben Sie den Ein­druck, dass die Europäer*innen begrei­fen, um was es hier geht – um die Aus­höh­lung des Rechts­staats, wesent­li­ches Fun­da­ment der EU und unse­rer Demokratien?

Man­che schon – aber wir befin­den uns in einem Infor­ma­ti­ons­krieg. Es ist eine mora­li­sche und recht­li­che Pflicht, Men­schen in Not zu ret­ten, aber der Migra­ti­ons­dis­kurs ist in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren zuneh­mend aggres­si­ver gewor­den. Euro­pa bewegt sich rück­wärts: Eine Wel­le von Natio­na­lis­mus hat die EU erfasst, die ein­her­geht mit popu­lis­ti­scher Rhe­to­rik. Wir bewe­gen uns immer wei­ter weg von der drin­gend nöti­gen Soli­da­ri­tät. Das spie­gelt sich auch in der media­len und öffent­li­chen Debat­te wider, in der häu­fig von Geflüch­te­ten als Gefahr gespro­chen wird. Umso wich­ti­ger ist es, die Men­schen mit Fak­ten auf­zu­klä­ren und zudem die mensch­li­chen Tra­gö­di­en zu erzäh­len, die sich hin­ter den Flucht­ge­schich­ten ver­ber­gen. Aber es ist ein schwie­ri­ger Infor­ma­ti­ons­krieg, den wir hier aus­fech­ten. Denn wir Menschenrechtler*innen sind mit unse­ren Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gnen nicht so gut auf­ge­stellt wie die Regierungen.

(er)

Dr. Neil Fal­zon ver­tritt als Rechts­an­walt die drei Ange­klag­ten. Er ist Grün­der und Direk­tor von »adit­us foun­da­ti­on«, einer NGO in Mal­ta, lehrt als Dozent für Men­schen­rechts­fra­gen an der Uni­ver­si­tät von Mal­ta und koor­di­niert die Platt­form der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen des Lan­des (PHROM). Zuvor lei­te­te er das Mal­te­ser Büro des UNHCR.