23.09.2021
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Die neue Grenzmauer in der Evros-Region. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Giannis Papanikos

Vor einem Jahr präsentierte Kommissionspräsidentin von der Leyen den »New Pact on Migration and Asylum«. Das Gesetzespaket hat es in sich: Grenzverfahren unter Haftbedingungen, aber kaum Solidarität bei der Aufnahme von Schutzsuchenden. Noch ist eine Einigung nicht in Sicht, aber im Windschatten des Pakts wird weiter an der Abschottung gearbeitet.

Am 23. Sep­tem­ber 2020 stell­te Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en nach dem Brand des Elend­sla­gers Moria auf Les­bos den »New Pact on Migra­ti­on and Asyl­um« vor. Die­ser soll­te als »fri­scher Start« die seit 2016 fest­ge­fah­re­nen Reform­plä­ne für das Gemein­sa­me Euro­päi­sche Asyl­sys­tem (GEAS) neu bele­ben. Doch ein wirk­li­cher Neu­start waren die­se Plä­ne von Beginn an nicht, wie PRO ASYL schnell ana­ly­sier­te, wird doch wei­ter­hin auf einer unfai­ren Ver­ant­wor­tungs­tei­lung zwi­schen den Mit­glied­staa­ten sowie auf Grenz­ver­fah­ren gesetzt.

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Ins­ge­samt ist nach einem Jahr »New Pact« die Bilanz aus Sicht der Kom­mis­si­on nüch­tern: die gro­ßen Streit­punk­te, wie die Ver­tei­lung von Asyl­su­chen­den in der EU, sind wei­ter­hin nicht geklärt und ent­spre­chend ist eine tat­säch­li­che Eini­gung wei­ter­hin nicht abseh­bar. Für Schutz­su­chen­de ist das ange­sichts der mas­si­ven Ver­schär­fun­gen, ins­be­son­de­re durch die Grenz­ver­fah­ren und die Fik­ti­on der »Nicht-Ein­rei­se«, eine gute Nachricht.

Bis zu zwei Jah­re Frei­heits­ent­zug für Men­schen, deren Ansin­nen es war, in Euro­pa Schutz und Frie­den zu finden.

Doch neben den Geset­zes­vor­schlä­gen gibt es auch eine exter­ne Dimen­si­on des »New Pact«, die stets vor­an­ge­trie­ben wird. Dazu gehört ins­be­son­de­re die Zusam­men­ar­beit mit Dritt­staa­ten, um Migra­ti­on zu »steu­ern« – was letzt­lich »ver­hin­dern« meint.

Was sich im Pakt alles versteckt

Seit einem Jahr wird mitt­ler­wei­le also in den bei­den ent­schei­den­den Gre­mi­en, dem Rat der EU und dem Euro­pa­par­la­ment, der »New Pact« ver­han­delt. Die­ser umfasst als Paket ver­schie­de­ne Geset­zes­vor­schlä­ge, die zum Teil bereits seit 2016 auf dem Tisch lie­gen, zum Teil neu in 2020 gemacht wurden:

  • Scree­ning-Ver­ord­nung: Alle Schutz­su­chen­den sol­len fünf bis zehn Tage für das Scree­ning fest­ge­setzt wer­den und als »nicht ein­ge­reist« gel­ten. Das Scree­ning ist unge­eig­net, um nicht offen­sicht­li­che Vul­nerabi­li­tä­ten zu erken­nen. Alles was im Scree­ning fest­ge­stellt wird, führt aber zu der wich­ti­gen Ent­schei­dung, wel­ches Ver­fah­ren anschließt: Das nor­ma­le Asyl­ver­fah­ren oder das Asyl­grenz­ver­fah­ren ohne Ein­rei­se. (Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020)
  • Kri­sen-Ver­ord­nung: Wäh­rend einer »Kri­se« könn­ten die Grenz­ver­fah­ren erheb­lich aus­ge­wei­tet wer­den und auf alle Schutz­su­chen­den mit einer Aner­ken­nungs­quo­te von bis zu 75 % ange­wen­det wer­den. Außer­dem soll bei »Kri­sen« oder »höhe­rer Gewalt«, wie einer Pan­de­mie, Mög­lich­kei­ten eröff­net wer­den, erheb­lich von wich­ti­gen Stan­dards abzu­wei­chen. (Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020)

Die not­wen­di­ge recht­li­che und sozia­le Unter­stüt­zung kann unter die­sen Bedin­gun­gen nicht gewähr­leis­tet werden. 

Bis zu 2 Jahre

Frei­heits­be­schrän­kung und –ent­zie­hung dro­hen im Extremfall

  • Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung: Das Asyl­grenz­ver­fah­ren soll für eini­ge Fäl­le ver­pflich­tend wer­den, u.a. wenn die Aner­ken­nungs­quo­te eines Her­kunfts­lan­des unter 20 % liegt. Es wür­de den Mit­glied­staa­ten aber auch frei ste­hen, das Grenz­ver­fah­ren auf fast alle Asyl­su­chen­den anzu­wen­den. Das Asyl­grenz­ver­fah­ren könn­te bis zu 12 Wochen (cir­ca drei Mona­te) dau­ern, wor­an sich bei Ableh­nung ein neu­es Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren anschlie­ßen wür­de, was eben­falls 12 Wochen dau­ern kann. Wäh­rend die­ser gesam­ten Zeit sol­len die Betrof­fe­nen als »nicht ein­ge­reist« gel­ten. Die­se Fik­ti­on der »Nicht-Ein­rei­se« wird sich nur mit Haft durch­set­zen las­sen. Damit wären die Betrof­fe­nen für über 24 Wochen (cir­ca sechs Mona­te) in gro­ßen Lagern an den Außen­gren­zen der EU fest­ge­setzt und iso­liert. Die not­wen­di­ge recht­li­che und sozia­le Unter­stüt­zung kann so nicht gewähr­leis­tet wer­den. Und als ob das noch nicht genug wäre, kann sich dar­an direkt – auch gemäß  den vor­ge­leg­ten  Vor­schlä­gen  für  eine  neue  Rück­füh­rungs­richt­li­nie – noch die erwei­ter­te Abschie­bungs­haft von bis zu 18 Mona­te anschlie­ßen. Im Extrem­fall dro­hen also zwei Jah­re Frei­heits­be­schrän­kung und –ent­zie­hung. (Geän­der­ter Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020).
  • Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment­ver­ord­nung: Das Zustän­dig­keits­re­gime – also die Fra­ge, wel­cher Staat für die Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens ver­ant­wort­lich ist – soll an der bis­he­ri­gen Dub­lin-Ver­ord­nun­gen fest­hal­ten. Ins­be­son­de­re durch die Bei­be­hal­tung des »Erst­ein­rei­se­prin­zips« bleibt die Zustän­dig­keit bei Außen­grenz­staa­ten wie Grie­chen­land und Ita­li­en. Die vor­ge­schla­ge­nen Rege­lun­gen zu den Soli­da­ri­täts­maß­nah­men, die bei »Migra­ti­ons­druck« und bei Aus­schif­fung nach See­not­ret­tung die Außen­grenz­staa­ten ent­las­ten sol­len, sind kom­pli­ziert und rea­li­täts­fern. (Ver­ord­nungs­vor­schlag von 2020)

Hin­zu kom­men noch die Vor­schlä­ge für eine Qua­li­fi­ka­ti­ons­ver­ord­nung (2016), eine Ände­rung der Auf­nah­me­richt­li­nie (2016), eine Resett­le­ment-Ver­ord­nung (2016), eine Ände­rung der Euro­dac-Ver­ord­nung (2016, 2020) und eine Ver­ord­nung für eine EU-Asyl­agen­tur (2016).

Paket-Ansatz oder Schritt für Schritt-Verhandlungen?

Eine grund­sätz­li­che Fra­ge bei den Ver­hand­lun­gen ist, ob die Vor­schlä­ge als Paket gemein­sam ver­han­delt wer­den oder ein­zeln. Wäh­rend die Kom­mis­si­on und Mit­glied­staa­ten wie Deutsch­land am liebs­ten ein­zel­ne Ver­ord­nun­gen, die schon weit­ge­hend ver­han­delt sind, beschlie­ßen wür­den, ver­tei­digt u.a. das Euro­päi­sche Par­la­ment einen Paket-Ansatz, da die Vor­schlä­ge mit­ein­an­der ver­zahnt sind.

Als Aus­nah­men von dem Paket-Ansatz einig­ten sich Rat und Euro­päi­sches Par­la­ment im Mai 2021 auf die »Blue Card«-Verordnung und im Juni 2021 auf die Ver­ord­nung für eine EU-Asyl­agen­tur, die ab Inkraft­tre­ten das Euro­päi­sche Unter­stüt­zungs­bü­ro für Asyl­fra­gen (EASO) ablö­sen wird. Bei der Ver­ord­nung für eine EU-Asyl­agen­tur wur­den jedoch drei Arti­kel aus­ge­klam­mert, die erst mit Ver­ab­schie­dung des Gesamt­pa­kets in Kraft tre­ten sol­len. Dar­an ist bri­sant: Davon ist auch die neue vor­ge­se­he­ne Moni­to­ring-Funk­ti­on der Asyl­agen­tur betrof­fen, die es ihr erlau­ben wür­de, die Umset­zung des GEAS in den Mit­glied­staa­ten zu über­prü­fen (sie­he hier­zu das ECRE Edi­to­ri­al). Das aus­ge­rech­net die­se Funk­ti­on zunächst nicht greift, schwächt die Agentur.

Ob der »New Pact« noch wei­ter auf­ge­schnürt wird ist aktu­ell noch unklar. Ein kürz­lich gele­ak­ter Vor­schlag der Slo­we­ni­schen EU-Rats­prä­si­dent­schaft sieht vor, auch die neue Euro­dac-Ver­ord­nung vor zu zie­hen. Euro­dac ist die bio­me­tri­sche Daten­bank, in der sen­si­ble Daten wie etwa Fin­ger­ab­drü­cke von Asyl­su­chen­den zum Abgleich zwi­schen den Mit­glieds­staa­ten gespei­chert wer­den. Mit der vor­ge­schla­ge­nen Ver­ord­nung droht eine deut­li­che Aus­wei­tung der Datenbank.

In einem offe­nen Brief an den Aus­schuss für bür­ger­li­che Frei­hei­ten, Jus­tiz und Inne­res des Euro­päi­schen Par­la­ments wur­de der Vor­schlag erst kürz­lich als »macht­vol­les Instru­ment für die Mas­sen­über­wa­chung« (»powerful tool for mass sur­veil­lan­ce«) kri­ti­siert, da zukünf­tig bei­spiels­wei­se auch Bil­der von Gesich­tern gespei­chert wer­den sol­len und bio­me­tri­sche Daten bereits von Kin­dern ab sechs Jah­ren regis­triert wer­den sollen.

Reaktion auf Afghanistan-Krise: Einmaleins der Abschottung

Bereits umge­setzt wer­den hin­ge­gen Maß­nah­men, die im »New Pact« in Bezug auf die Koope­ra­ti­on mit Dritt­staa­ten vor­ge­stellt wur­den, das macht ein­mal mehr die Reak­ti­on der EU auf die Macht­über­nah­me der Tali­ban in Afgha­ni­stan deut­lich, die unter Rück­griff auf das »Migra­ti­on Pre­pared­ness and Cri­sis Blue­print« statt­fin­det. Die­ses im Pakt vor­ge­stell­te Instru­ment stellt eine Art Koor­di­na­ti­ons­rah­men im Kri­sen­fall vor. Ein ers­tes Tref­fen des seit­her regel­mä­ßig tagen­den Koor­di­na­ti­ons­gre­mi­ums in Bezug auf Afgha­ni­stan wur­de am 17. August ein­be­ru­fen. In dem Gre­mi­um hat die Gene­ral­di­rek­ti­on Migra­ti­on und Inne­res den Vor­sitz. Obwohl ein Schwer­punkt auf außen­po­li­ti­schen Maß­nah­men liegt, domi­nie­ren innen­po­li­ti­sche Akteu­re und Inter­es­sen die Agenda.

Ein neu­er­li­cher Tief­punkt auf euro­päi­scher Ebe­ne wur­de mit der Erklä­rung des Rats, also der Mit­glied­staa­ten, vom 31. August 2021 erreicht. Statt den Schwer­punkt auf den Zugang zu Eva­ku­ie­run­gen, Flucht­mög­lich­kei­ten und Schutz zu legen, wur­de pri­mär ein sicher­heits­po­li­ti­scher Fokus gelegt. So heißt es dar­in, die EU und ihre Mit­glieds­staa­ten sei­en ent­schlos­sen »unkon­trol­lier­te ille­ga­le Migra­ti­ons­be­we­gun­gen von gro­ßem Umfang« gemein­sam zu verhindern.

In die­sem Sin­ne wer­den auf euro­päi­scher Ebe­ne bereits Vor­schlä­ge dis­ku­tiert. In einem gele­ak­ten Ent­wurf eines Akti­ons­plans zu Afgha­ni­stan vom 10. Sep­tem­ber 2021 wird zwar zu Beginn auch von Eva­ku­ie­rung von Menschenrechtsverteidiger*innen und Resett­le­ment gespro­chen, doch der Fokus bleibt auf der Ver­hin­de­rung von Flucht, die durch Info­kam­pa­gnen und der Koope­ra­ti­on mit den Nach­bar­län­dern Afgha­ni­stans und rele­van­ten Tran­sit­län­dern erfol­gen soll. Etwa soll kurz­fris­tig eine Fron­tex-Ver­bin­dungs­per­son in Paki­stan ein­ge­setzt wer­den. Erneut rückt auch die Tür­kei in den Fokus der Koope­ra­ti­on. Wie bereits im Juni 2021 in Aus­sicht gestellt, soll Staats­prä­si­dent Erdo­gan bis 2024 wei­te­re 3 Mil­li­ar­den ange­bo­ten wer­den, um die Auf­nah­me von Flücht­lin­gen und die »migra­ti­on manage­ment capa­ci­ty« an der öst­li­chen Gren­ze zu stärken.

Wäh­rend Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan auf abseh­ba­re Zeit als »nicht sicher« gese­hen wer­den und die Joint Decla­ra­ti­on on Migra­ti­on Coope­ra­ti­on mit Afgha­ni­stan aus­ge­setzt wur­de, wird vor­ge­schla­gen »Dritt­staat­ler-Klau­seln« in Ver­ein­ba­run­gen mit rele­van­ten Tran­sit­staa­ten zu nut­zen. Das heißt: Die EU-Staa­ten kön­nen aktu­ell nicht nach Afgha­ni­stan abschie­ben, des­we­gen sol­len Afghan*innen in ande­re Staa­ten abge­scho­ben wer­den! Eine sol­che Klau­sel gibt es zum Bei­spiel im Rück­über­nah­me­ab­kom­men mit der Tür­kei. Doch die Lage von afgha­ni­schen Flücht­lin­gen in der Tür­kei ist sehr schwie­rig und meist leben sie in Armut am Ran­de der Gesell­schaft, ohne recht­li­chen Schutz und in der stän­di­gen Gefahr auch aus der Tür­kei nach Afgha­ni­stan abge­scho­ben zu werden.

Neuer Push für die Verhandlungen um den »New Pact«

In den Reak­tio­nen zum Afgha­ni­stan-Dra­ma wur­de auf EU-Ebe­ne auch oft auf die Not­wen­dig­keit für eine Ver­ab­schie­dung des »New Pact« gedrun­gen, ins­be­son­de­re bezüg­lich der pro­ble­ma­ti­schen Kri­sen-Ver­ord­nung. Im Okto­ber tref­fen sich die EU-Innenminister*innen und dort soll das The­ma wie­der auf­ge­grif­fen wer­den. Auch im Euro­päi­schen Par­la­ment geht die Arbeit im Okto­ber zum »New Pact« wei­ter und es sind ers­te Berich­te zu den Vor­schlä­gen der zustän­di­gen Berichterstatter*innen zu erwar­ten. Doch die letzt­lich ent­schei­den­de Fra­ge, ob die gro­ßen poli­ti­schen Streit­punk­te abseh­bar geklärt wer­den, ist damit noch lan­ge nicht gesagt. Von ent­schei­den­der Rol­le wird hier­bei auch die Bun­des­tags­wahl und die Hal­tung der neu­en deut­schen Regie­rung sein (sie­he hier für die Posi­tio­nen der Par­tei­en zur euro­päi­schen und deut­schen Asyl­po­li­tik) sowie auch die Wah­len in Frank­reich im kom­men­den Jahr.