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Vor der griechischen Insel Farmakonisi starben in der Nacht zum 20. Januar 2014 drei Frauen und acht Kinder aus Afghanistan. Gemeinsam mit den Überlebenden und ihren Familienangehörigen in Hamburg erwartet PRO ASYL eine restlose Aufklärung und zumindest eine späte Gerechtigkeit.

Heute hat ein Anwaltsteam mit Unterstützung durch PRO ASYL Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Griechenland eingereicht. Drei Frauen und acht Kinder aus Afghanistan starben vor genau einem Jahr als ihr Boot im Schlepptau der griechischen Küstenwache sank. Was geschah am 20. Januar 2014? Wir haben die Fallakten analysiert.

Vor der grie­chi­schen Insel Farm­a­ko­ni­si star­ben in der Nacht zum 20. Janu­ar 2014 drei Frau­en und acht Kin­der aus Afgha­ni­stan. Ein mit 27 Flücht­lin­gen aus Afgha­ni­stan und Syri­en besetz­tes Fischer­boot sank im Schlepp­tau der grie­chi­schen Küstenwache.

Die Über­le­ben­den wer­fen der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che vor, sie sei­en bei stür­mi­scher See mit vol­ler Kraft zurück in Rich­tung Tür­kei gezo­gen wor­den. Die Küs­ten­wa­che behaup­tet, sie hät­te das Boot mit lang­sa­mer Fahrt in Rich­tung Farm­a­ko­ni­si geschleppt. Die Flücht­lin­ge schil­dern eine Push-Back-Ope­ra­ti­on (völ­ker­rechts­wid­ri­ge  Zurück­schie­bung), die grie­chi­schen Behör­den behaup­ten, eine See­not­ret­tungs­maß­nah­me durch­ge­führt zu haben.

Die Küs­ten­wa­che­be­diens­te­ten geben zudem an, dass die­ser töd­li­che Ein­satz im Rah­men der Fron­tex-Ope­ra­ti­on Posei­don statt­fand. Fron­tex strei­tet bis heu­te jeg­li­che Mit­ver­ant­wor­tung bezo­gen auf den elf­fa­chen Tod und die anhal­ten­den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in der Ägä­is ab. Nach Recher­chen von PRO ASYL sind sol­che Push-Back Ope­ra­tio­nen gän­gi­ge Pra­xis, um Flücht­lings­boo­te in die Tür­kei zurückzudrängen.

Fata­le Feh­ler beim Schlep­pen, alle Prin­zi­pi­en der See­not­ret­tung verletzt

Sowohl die staat­an­walt­li­chen Ermitt­lungs­ak­ten als auch das Gut­ach­ten eines unab­hän­gi­gen Schiff­fahrts­exper­ten las­sen nur einen Schluss zu: Es fand kei­ne Ret­tungs­ope­ra­ti­on statt. Alle inter­na­tio­na­len Stan­dards der See­not­ret­tung wur­den miss­ach­tet. Schon die Art und Wei­se wie die Schlepp­ope­ra­ti­on ver­lief, war nach Ein­schät­zung des Exper­ten ursäch­lich für die Zer­stö­rung des bereits manö­vrier­un­fä­hi­gen Flücht­lings­boo­tes und des­sen anschlie­ßen­den Untergang.

Die Küs­ten­wa­che hat ein­fachs­te Geset­ze der Phy­sik miss­ach­tet: Mit einem viel zu kur­zen Tau – ledig­lich zehn Meter – wur­de das Fischer­boot gezo­gen. In fata­ler Wei­se wur­de in Kauf genom­men, dass der Fisch­kut­ter auf­grund hoher Wel­len­bil­dung ersäuft und die Schlepp­kräf­te so groß sind, dass das Schiff beschä­digt wird und untergeht.

Unstrit­tig ist, dass das klei­ne Fischer­boot von dem Küs­ten­wach­schiff gezo­gen wur­de. Unstrit­tig ist auch, dass das manö­vrier­un­fä­hi­ge Flücht­lings­boot von zwei Küs­ten­wach­be­am­ten betre­ten wur­de, um ein Tau zu befestigen.

Am Ein­satz betei­lig­te Beam­te geben spä­ter zu Pro­to­koll, dass das Boot nach der Befes­ti­gung des Taus zehn Minu­ten geschleppt wur­de. Nach dem die Ver­an­ke­rung geris­sen und das Tau not­dürf­tig neu befes­tigt wor­den war, wur­de das Flücht­lings­boot noch ein­mal fünf Minu­ten gezo­gen. Das Flücht­lings­schiff ist also min­des­tens 15 Minu­ten im Schlepp­tau der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che gewe­sen – war also unter vol­ler Kon­trol­le, bevor es sank.

Es gab man­nig­fal­ti­ge Mög­lich­kei­ten die Schutz­su­chen­den zu ret­ten, es wur­den jedoch kei­ne See­not­ret­tungs­maß­nah­men ein­ge­lei­tet. Die Flücht­lin­ge wur­den nicht an Bord des Schiffs der Küs­ten­wa­che geholt, es wur­den noch nicht ein­mal Ret­tungs­wes­ten ausgeteilt.

Kei­ne See­not­ret­tungs­ak­ti­on, son­dern Grenzüberwachungseinsatz

Die Behaup­tung der Küs­ten­wa­che, es habe sich um eine See­not­ret­tungs­ak­ti­on gehan­delt, deckt sich nicht mit der Ermitt­lungs­ak­te. Fakt ist: Die Küs­ten­wa­che hat erst um 02:13 Uhr, nach dem Unter­gang des Boo­tes, die zustän­di­ge Ein­satz­zen­tra­le für See­not­ret­tung in Pirä­us infor­miert. Vor­her  wur­de ledig­lich die für Grenz­über­wa­chung zustän­di­ge Ein­satz­zen­tra­le kon­tak­tiert. Es fand also auch for­mal kei­ne See­not­ret­tungs­ak­ti­on statt, son­dern ein Grenz­über­wa­chungs­ein­satz. Ein Aspekt, der die Anga­ben der Über­le­ben­den unter­mau­ert, es habe sich um eine Push-Back-Ope­ra­ti­on gehandelt.

Das Flücht­lings­boot ken­ter­te, nach­dem sich um 02:13 Uhr die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che – nach eige­nen Anga­ben – gezwun­gen sah, das Tau zu kap­pen, das ihr Schiff mit dem Flücht­lings­schiff ver­band. Das Boot wur­de mit den Frau­en und Kin­der unter Deck in die Tie­fe geris­sen. Eine Mut­ter und ihr Sohn wur­den am dar­auf fol­gen­den Tag von der tür­ki­schen Küs­ten­wa­che tot gebor­gen, der Leich­nam eines Babys wur­de Tage spä­ter vor der Insel Samos gefun­den. Die übri­gen acht toten Kör­per wur­den Wochen spä­ter aus dem Rumpf des Schif­fes gebor­gen. 16 Men­schen konn­ten sich auf das Küs­ten­wach­schiff retten.

Ver­tu­schun­gen: Zeit­li­che Abläu­fe wur­den ver­än­dert, alle tech­ni­schen Sys­te­me außer Funktion

Die zustän­di­ge Hafen­be­hör­de von Leros berich­tet am frü­hen Mor­gen des 20. Janu­ar 2014, dass das Flücht­lings­boot um 01:25 Uhr von der Küs­ten­wa­che auf­ge­grif­fen wur­de. In einer kor­ri­gie­ren­den Mel­dung Stun­den spä­ter am glei­chen Tag sprach die Hafen­be­hör­de von einem Auf­griff um 02:00 Uhr – also 35 Minu­ten spä­ter. Die­se Dif­fe­renz von 35 Minu­ten ist von gro­ßer Bedeu­tung. Ein Auf­griff um 02:00 Uhr und das Sin­ken des Boo­tes um 02:13 wür­den bedeu­ten, dass in die­sen 13 Minu­ten zwei Beam­te an Bord gegan­gen sei­en müss­ten, danach das Boot zwei­mal gezo­gen wur­de und dann noch die 16 Über­le­ben­den auf das Küs­ten­wach­boot hät­ten gelan­gen können.

Die­se Dar­stel­lung des zeit­li­chen Ablau­fes ist bereits aus rein rech­ne­ri­schen Grün­den nicht mög­lich. Neben den diver­gie­ren­den Zeit­an­ga­ben exis­tie­ren kei­ne tech­ni­schen Auf­zeich­nun­gen vom töd­li­chen Ein­satz: kei­ne GPS- und Radar­auf­zeich­nun­gen, kei­ne Doku­men­ta­ti­on der Tele­fon- und Funk­kom­mu­ni­ka­ti­on, kei­ne Foto- oder Film­auf­nah­men. Nach Anga­ben der Grenz­agen­tur Fron­tex wur­den auch kei­ne Daten im neu­en Grenz­über­wa­chungs­sys­tem EUROSUR eingespeist.

Die Über­le­ben­den

Bereits seit dem 24. Janu­ar 2014 unter­stützt PRO ASYL die Über­le­ben­den recht­lich und huma­ni­tär. Fünf der Über­le­ben­den haben Ange­hö­ri­ge in Deutsch­land und konn­ten nach mona­te­lan­gen Ver­hand­lun­gen am 21. und 22. Novem­ber 2015 legal nach Ham­burg und Ber­lin rei­sen. Zehn wei­te­ren Über­le­ben­den wur­de das huma­ni­tä­res Visum, das ihnen ermög­li­chen wür­de, sicher zu ihren Ver­wand­ten in ande­re euro­päi­sche Staa­ten zu gelan­gen, ver­wei­gert. Sie muss­ten wie alle ande­ren Schutz­su­chen­den in Grie­chen­land auf gefähr­li­chen, irre­gu­lä­ren Wegen das Land verlassen.

Der sech­zehn­te Über­le­ben­de der Farm­a­ko­ni­si-Kata­stro­phe, ein jun­ger Flücht­ling aus Syri­en, sitzt in Unter­su­chungs­haft in Grie­chen­land. In den nächs­ten Wochen fin­det sein Pro­zess statt. Die grie­chi­schen Behör­den behaup­ten, er sei Kapi­tän des Schif­fes gewe­sen und wol­len ihn als Schlep­per für Jahr­zehn­te hin­ter Git­ter brin­gen. Die Über­le­ben­den beto­nen: Er ist wie wir. Ein Flücht­ling. Es gab über­haupt kei­nen Schlep­per an Bord.

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