19.03.2021
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Demonstration von Geflüchteten nach dem Brand im EU-Hotspot Moria. Foto: Alea Horst

Die Türkei habe sich als »sehr verlässlicher Partner« erwiesen, vermeldet die Bundesregierung. Sie bewertet den Flüchtlingsdeal mit Erdogan als »klaren Erfolg«. Dabei haben fünf Jahre Deal die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei in eine menschenrechtsfreie Zone verwandelt.

Die Bestands­auf­nah­me der Bun­des­re­gie­rung igno­riert das Leid der Opfer des Deals in den EU-Hot­spots und blen­det bewusst den dra­ma­ti­schen Men­schen- und Bür­ger­rechts­ab­bau in der Tür­kei aus.

Die Bun­des­re­gie­rung paart die­se Schön­fär­be­rei mit den übli­chen alten Text­bau­stei­nen. Ein Drei­klang, der in Euro­pa bei jeder flücht­lings­po­li­ti­schen Saue­rei, genutzt wird: Es sei gelun­gen, das »töd­li­che Geschäfts­mo­dell« der Schleu­ser in der Ägä­is wir­kungs­voll zu bekämp­fen, die Zahl der »ille­gal Ein­rei­sen­den nach Grie­chen­land« sei erheb­lich zurück­ge­gan­gen, eben­so die Zahl der Todes­fäl­le in der Ägäis.

Der Deal

In dem am 18. März 2016 unter­zeich­ne­ten EU-Tür­kei-Deal ging es um die Aus­la­ge­rung der Ver­ant­wor­tung für den Schutz von Flücht­lin­gen an die Tür­kei. Euro­pa ent­zieht sich damit sei­nen Ver­pflich­tun­gen nach inter­na­tio­na­lem und euro­päi­schem Asyl- und Men­schen­recht. Es ging nie ernst­haft dar­um, Schutz­su­chen­den eine Alter­na­ti­ve zu bie­ten, ihr Leben aufs Spiel zu set­zen. Auch gab es nie rechts­staat­li­che Asyl­ver­fah­ren im Cha­os und Elend der EU-Hot­spots in Griechenland.

Beim EU-Tür­kei Deal ging es nie ernst­haft dar­um, Schutz­su­chen­den eine Alter­na­ti­ve zu bie­ten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Weder die Bun­des­re­gie­rung noch die EU-Kom­mis­si­on haben sich ernst­haft dar­um geschert, dass die Lebens­be­din­gun­gen und Asyl­ver­fah­ren in den EU-Hot­spots gegen Völ­ker­recht und EU-Recht ver­sto­ßen. Im Gegen­teil: In den letz­ten fünf Jah­ren wur­den nach mas­si­vem Druck aus Ber­lin und Brüs­sel in Grie­chen­land gan­ze sechs­mal die Asyl­ge­set­ze verschärft.

In der recht­li­chen Ana­ly­se »Rule of law cap­tu­red by a State­ment« zeich­nen Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) und die Stif­tung PRO ASYL die Kon­struk­ti­on des Deals nach, durch die demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen und recht­li­che Kon­trol­le umgan­gen wur­de. Zum ande­ren wird die Aus­wir­kung des Deals auf das grie­chi­sche Asyl­recht nach­voll­zo­gen, das mit sechs Refor­men in fünf Jah­ren eine bei­spiel­lo­se Umge­stal­tung erleb­te und sich immer wei­ter in den Dienst der Abschot­tung stellte.

Kollateralschäden des Deals in Griechenland

Das Elend der Schutz­su­chen­den in der Ägä­is ist umfas­send doku­men­tiert. Man­chen Beobachter*innen drängt sich noch die Fra­ge auf, wie meh­re­re Mil­li­ar­den EU-Finanz­mit­tel ein sol­ches Elend ver­ur­sa­chen kön­nen? Die EU-Hot­spots in Grie­chen­land sind die teu­ers­ten Elends­zelt­la­ger der Welt. Über 140.000 Schutz­su­chen­de – Ankünf­te auf den Inseln seit dem 20. März 2016 – wur­den in die­sem zyni­schen EU-Expe­ri­ment ihrer Rech­te beraubt und phy­sisch und psy­chisch verletzt.

Die Bestands­auf­nah­me der Bun­des­re­gie­rung igno­riert das Leid der Opfer des Deals in den EU-Hot­spots. Der Labor­ver­such in Ägä­is schuf eine per­ma­nen­te huma­ni­tä­re Kri­se, Frei­luft­ge­fäng­nis­se auf den Inseln und desta­bi­li­sier­te die Gesell­schaft dort nach­hal­tig. Der Deal befeu­ert Ras­sis­mus und gefähr­det Schutz­su­chen­de zusätzlich.

Deal mit Erdogan um jeden Preis

Die Bun­des­re­gie­rung blen­det bewusst den dra­ma­ti­schen Men­schen- und Bür­ger­rechts­ab­bau in der Tür­kei aus.

Zur Erin­ne­rung: Nur vier Mona­te nach Imple­men­tie­rung des Flücht­lings­deals am 20. März 2016 setz­te in der Tür­kei nach dem Putsch­ver­such Mit­te Juli 2016 eine mas­si­ve Repres­si­ons­wel­le ein. Die­se hält bis heu­te an. Das gesam­te Staat­s­ys­tem wur­de umge­krem­pelt, etwa eine hal­be Mil­lio­nen Ermitt­lungs­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet, zehn­tau­sen­de von Erdo­gan aus­ge­mach­te »Staats­fein­de« wur­den inhaf­tiert, dar­un­ter Menschenrechtsanwält*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen. Zahl­lo­se Oppo­si­tio­nel­le aus der Tür­kei flo­hen nach Euro­pa – über 35.000 von ihnen allein nach Deutsch­land. Dar­über hin­aus hat das Erdo­gan-Regime mit sei­nen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angrif­fen in Nord­sy­ri­en und anders­wo immenses Leid und neue Ver­trei­bun­gen produziert.

Um den Flücht­lings­deal mit der Tür­kei um jeden Preis am Leben zu hal­ten, gewähr­te Brüs­sel und Ber­lin dem auto­ri­tä­ren Prä­si­den­ten vor allem eins: freie Hand.

Um den Flücht­lings­deal mit der Tür­kei um jeden Preis am Leben zu hal­ten, gewähr­te Brüs­sel und Ber­lin dem auto­ri­tä­ren Prä­si­den­ten vor allem eins: freie Hand.

Aus­druck die­ser Hal­tung ist die weit­ge­hen­de Untä­tig­keit der EU gegen­über den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen im eige­nen Land oder dem Krieg im tür­ki­schen Teil Kur­di­stans. Die Zer­stö­rung der letz­ten Res­te des Rechts­staats in der Tür­kei hat zwangs­läu­fig auch mas­si­ve Fol­gen für Schutz­su­chen­de dort. Die Tür­kei ist kein siche­res Dritt­land für Flücht­lin­ge und kein siche­res Herkunftsland.

Die EU-Hilfsmittel und die völkerrechtswidrigen Wünsche Erdogans 

Es ist unstrit­tig, dass die EU-Unter­stüt­zung für 3,6 Mil­lio­nen syri­sche Flücht­lin­ge in der Tür­kei not­wen­dig ist. Die Unter­stüt­zung muss wei­ter gehen und deut­lich erhöht wer­den. Die­ser Ansatz gilt im Übri­gen für alle Haupt­auf­nah­me­län­der von Schutz­su­chen­den und darf nicht gekop­pelt sein mit »Deals« zur Fluchtverhinderung.

Aber alle Finanz­leis­tun­gen im Flücht­lings­be­reich in der Tür­kei dür­fen nur mit den not­wen­di­gen Sicher­heits­vor­keh­run­gen und Über­wa­chungs­maß­nah­men gesche­hen. Es muss sicher­ge­stellt sein, dass kei­ne EU-Mit­tel tür­ki­schen Regie­rungs­stel­len oder Insti­tu­tio­nen zugu­te­kom­men, die in Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Ver­trei­bun­gen ver­wi­ckelt sind.

Dazu gehört auch ein kla­res Nein zu den Vor­stel­lun­gen des Erdo­gan-Regimes, EU-Finanz­mit­tel in den tür­kisch besetz­ten Gebie­ten in Nord-Syri­en ein­zu­set­zen, um Flücht­lin­ge aus der Tür­kei dort zwangsanzusiedeln.

Push-Backs: die Fortsetzung des Deals mit anderen Mitteln

Als der »ver­läss­li­che Part­ner« Tür­kei im März 2020 den Deal auf­kün­dig­te, indem die Gren­ze nach Grie­chen­land für »offen« erklär­te wur­de, ver­lor Erdo­gan zum ers­ten Mal das zyni­sche wech­sel­sei­ti­ge Erpres­sungs­ma­nö­ver – auf dem Rücken zehn­tau­sen­der leid­tra­gen­der Flüchtlinge.

Grie­chen­land und die EU geben eine ein­deu­ti­ge und bru­ta­le Ant­wort: Der Schutz der Gren­ze ist wich­ti­ger als der Schutz der Men­schen­rech­te. Zeit­wei­se Aus­set­zung des Asyl­rechts in Grie­chen­land, töd­li­che Schüs­se an der Gren­ze, ille­ga­le Push-Backs – von den EU-Spit­zen erhält die grie­chi­sche Regie­rung Applaus und die poli­ti­sche und logis­ti­sche Unter­stüt­zung für die Ver­let­zung von Euro­pa­recht und ele­men­ta­ren Menschenrechten.

Die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che in der Ägä­is führt bru­ta­le Push-Backs unter den Augen und mit Betei­li­gung der EU-Grenz­agen­tur Fron­tex in bis­her unbe­kann­ter Sys­te­ma­tik durch. Heu­te gibt es auch Push-Backs von den Inseln, wie sie bis­her aus der Regi­on Evros bekannt waren. Ankom­men­de Flücht­lin­ge müs­sen sich ver­ste­cken, weil sie befürch­ten müs­sen, gewalt­sam und ille­gal zurück­ge­schafft zu werden.

2021 lässt sich nur bit­ter fest­stel­len: die Außen­gren­ze zwi­schen Grie­chen­land und der Tür­kei ist eine men­schen­rechts­freie Zone. Mis­si­on accomplished.

Seit April 2020 sind ledig­lich 2.675 Boots­flücht­lin­ge (Stand 16. März 2021) über die Ägä­is nach Grie­chen­land ein­ge­reist und regis­triert wor­den. In der Evros-Regi­on wird ein neu­er, 63 Mil­lio­nen Euro teu­rer, Zaun gebaut. Push-Backs durch die grie­chi­sche Grenz­po­li­zei haben dazu geführt, dass seit April 2020 ledig­lich 4.326 Schutz­su­chen­de (Stand 16. März 2021) die Gren­ze über­quert haben und regis­triert wur­den. Die gesun­ke­nen Ankunfts­zah­len ver­kauft auch die grie­chi­sche Regie­rung als Erfolg.

Vic­tor Orban und Sebas­ti­an Kurz – die größ­ten Kri­ti­ker des Deals mit Erdo­gan –  haben immer gefor­dert, dass Euro­pa an der Gren­ze här­ter sein soll. Euro­pa müs­se bereit sein, selbst »die häss­li­chen Bil­der« zu pro­du­zie­ren. 2021 lässt sich nur bit­ter fest­stel­len: die Außen­gren­ze zwi­schen Grie­chen­land und der Tür­kei ist eine men­schen­rechts­freie Zone. Mis­si­on accomplished.