21.10.2022
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Demonstration zur IMK in Würzburg. Foto: Jonas Bickmann / PRO ASYL

Auf das bereits im Koalitionsvertrag angekündigte und nun gestartete Bundesaufnahmeprogramm haben viele gefährdete Afghan*innen lange gewartet. Bis Ende 2025 sollen monatlich 1000 Personen aufgenommen werden. Wenngleich der Start des Programms erfreulich ist, lassen sich bei genauerem Blick einige Unzulänglichkeiten erkennen.

Am 17. Okto­ber 2022 haben das Aus­wär­ti­ge Amt und das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um auf einer eigens ein­ge­rich­te­ten Web­site bekannt gege­ben, dass das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm für gefähr­de­te Afghan*innen beginnt. Die Not von gefähr­de­ten Men­schen aus Afgha­ni­stan ist rie­sen­groß – und somit auch das Inter­es­se an einem sol­chen Pro­gramm: Allein bei PRO ASYL gin­gen in den ers­ten fünf Tagen nach Bekannt­ga­be rund 600 Anfra­gen dazu ein.

Für das Auf­nah­me­pro­gramm ließ die Bun­des­re­gie­rung  ein Online-Tool mit mehr als 100 Fra­gen ent­wi­ckeln. Dabei wer­den neben den Daten zur Per­son auch medi­zi­ni­scher Behand­lungs­be­darf, Lebens­um­stän­de, tätig­keits­be­zo­ge­ne Gefähr­dun­gen, Vul­nerabi­li­tät auf­grund von Geschlecht, Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung oder Geschlechts­iden­ti­tät sowie ein mög­li­cher Bezug zu Deutsch­land und eine Inte­gra­ti­ons­pro­gno­se abge­fragt. Die Anga­ben sol­len, soweit mög­lich, mit Doku­men­ten belegt wer­den. Am Ende ver­gibt ein IT-Sys­tem Punk­te und soll so fest­stel­len, wer als indi­vi­du­ell gefähr­det ein­ge­stuft wer­den kann.

Zu der Online-Ein­ga­be haben aber nur aus­ge­wähl­te Orga­ni­sa­tio­nen über­haupt einen Zugang. Wer die­se Orga­ni­sa­tio­nen sein wer­den, war bis zur Ver­öf­fent­li­chung die­ses Tex­tes noch nicht bekannt.

Afghan*innen können sich aktuell nicht direkt bewerben

Zu der Online-Ein­ga­be haben aber nur aus­ge­wähl­te Orga­ni­sa­tio­nen über­haupt einen Zugang. Wer die­se Orga­ni­sa­tio­nen sein wer­den, war bis zur Ver­öf­fent­li­chung die­ses Tex­tes noch nicht bekannt. Aus den Fra­gen und Ant­wor­ten geht her­vor, dass die­se »mel­de­be­rech­tig­ten Stel­len«  selbst dar­über ent­schei­den sol­len, ob sie sich als sol­che zu erken­nen geben. Kon­tak­te der Betrof­fe­nen zu gro­ßen Orga­ni­sa­tio­nen sind folg­lich Grund­vor­aus­set­zung, um einen Antrag stel­len zu kön­nen. Durch Intrans­pa­renz und Exklu­si­vi­tät wird so ein künst­li­cher Fla­schen­hals geschaffen.

Da die Bun­des­re­gie­rung angibt, dass zu Beginn des Pro­gram­mes der Fokus auf bereits vor­lie­gen­den Fäl­le lie­gen soll, soll­te schnellst­mög­lich eine Öff­nung und somit ein trans­pa­ren­ter Zugang für wei­te­re Schutz­su­chen­de sicher­ge­stellt wer­den. Eine Alter­na­ti­ve liegt auf der Hand: Die Online-Ein­ga­be­mas­ke soll­te auf der Home­page zum Auf­nah­me­pro­gramm bereit­ge­stellt wer­den, so dass Betrof­fe­ne sich selbst regis­trie­ren können.

Afghan*innen haben also aktu­ell kei­ne eige­ne Hand­lungs­op­ti­on und wis­sen nicht, an wen sie sich wen­den sol­len. Wür­de eine »mel­de­be­rech­tig­ten Stel­len« bekannt geben, Anträ­ge anzu­neh­men, wäre mit einer enorm hohen Anzahl an Anfra­gen zu rech­nen, die von den häu­fig ohne­hin schon unter­fi­nan­zier­ten Orga­ni­sa­tio­nen kaum zu bewäl­ti­gen wäre. Folg­lich müss­ten Mit­ar­bei­ten­de aus­wäh­len, wel­che Ersu­che sie bear­bei­ten und wel­che nicht.

Antragstellende aus Drittstaaten werden ausgeschlossen

Um über­haupt für das Pro­gramm in Fra­ge zu kom­men, müs­sen die Men­schen die afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit besit­zen und sich aktu­ell in Afgha­ni­stan auf­hal­ten. Letz­te­res ist höchst pro­ble­ma­tisch: Men­schen, die auf­grund ihrer aku­ten Gefähr­dung und der spä­ten Bereit­stel­lung von lega­len Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten bereits seit August 2021 in Nach­bar­län­der von Afgha­ni­stan geflo­hen sind, wer­den aus­ge­schlos­sen. Es wird nicht berück­sich­tigt, dass sie dort in aller Regel kei­ne Blei­be­per­spek­ti­ve haben und unmit­tel­bar von Abschie­bung bedroht sind. War­um die Antrag­stel­len­den sich bei Antrag­stel­lung in Afgha­ni­stan auf­hal­ten müs­sen, wird von der Bun­des­re­gie­rung nicht wei­ter begründet.

Men­schen, die auf­grund ihrer aku­ten Gefähr­dung und der spä­ten Bereit­stel­lung von lega­len Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten bereits seit August 2021 in Nach­bar­län­der von Afgha­ni­stan geflo­hen sind, wer­den ausgeschlossen.

Die Macht liegt beim Algorithmus

Durch den Fra­gen­ka­ta­log sol­len Men­schen iden­ti­fi­ziert wer­den, die auf­grund ihres Ein­sat­zes für Frau­en- und Men­schen­rech­te, ihrer Tätig­keit in den Berei­chen Jus­tiz, Poli­tik, Medi­en, Bil­dung, Kul­tur, Sport oder Wis­sen­schaft, auf­grund ihres Geschlechts, ihrer sexu­el­len Ori­en­tie­rung oder Geschlechts­iden­ti­tät oder wegen ihrer Reli­gi­on beson­ders gefähr­de­tet sind. Dar­über hin­aus sol­len auch Ver­fol­gun­gen oder Gefähr­dun­gen berück­sich­tigt wer­den, die sich aus „den beson­de­ren Umstän­den des Ein­zel­fal­les erge­ben«, heißt es. Nach der Ein­ga­be der Daten wird zunächst anhand geschlos­se­ner Ja-Nein-Fra­gen durch einen Algo­rith­mus prio­ri­siert und somit vor­sor­tiert. Erst danach sol­len sich Mit­ar­bei­ten­de der Bun­des­be­hör­den die gefil­ter­ten Ein­zel­fäl­le anschau­en und Kurz­be­grün­dun­gen lesen.

Die­ses Ver­fah­ren ist ins­ge­samt jedoch unge­eig­net. Es kann weder indi­vi­du­el­le Bio­gra­fien begrei­fen noch außer­ge­wöhn­li­che Fall­kon­stel­la­tio­nen berück­sich­ti­gen. Eine indi­vi­du­el­le Gewich­tung der Anträ­ge ist somit nicht vor­ge­se­hen. Bei dem vor­ge­se­he­nen IT-Scoring­sys­tem, wonach die Anträ­ge gefähr­de­ter Afghan*innen mit digi­ta­len Punk­te­sys­tem und Algo­rith­men bewer­tet wer­den, besteht außer­dem die Gefahr, dass ernst­haft gefähr­de­te Men­schen, die aber zum Bei­spiel mög­li­cher­wei­se nicht die nöti­gen Sprach- oder IT-Kennt­nis­se mit­brin­gen, durch das Ras­ter fallen.

Landesaufnahmeprogramme sind in der Planung

Eine mög­li­che Alter­na­ti­ve für gefähr­de­te Afghan*innen mit Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in Deutsch­land kön­nen geplan­te Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­me sein. Bis zum 20. Okto­ber hat­ten  mit Schles­wig-Hol­steinBre­men, Ber­lin, Thü­rin­gen und Hes­sen fünf Bun­des­län­der Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­me kon­kret beschlos­sen. Die­se wür­den  kom­ple­men­tär zum Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm exis­tie­ren und in der Regel eine Lebens­un­ter­halts­si­che­rung in Form einer Ver­pflich­tungs­er­klä­rung voraussetzen.

Damit die Pro­gram­me umge­setzt wer­den kön­nen, muss jedoch noch das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um sei­ne Zustim­mung ertei­len, was es nach eige­nen Anga­ben in Kür­ze tun wird. Kei­nes der geplan­ten Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­me war bis zum 20. Okto­ber angelaufen.

Ortskräfteverfahren muss reformiert werden

Auch die Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens ist noch immer nicht beschlos­sen: Wei­ter­hin erhal­ten nur die­je­ni­gen eine Auf­nah­me­zu­sa­ge, die nach Ende 2012 in einem direk­ten Anstel­lungs­ver­hält­nis stan­den (zum Bei­spiel als Dol­met­scher bei der Bun­des­wehr). Dies schließt Men­schen aus, die in Sub­un­ter­neh­men für die deut­sche Regie­rung tätig waren oder Hono­rar­ver­trä­ge hat­ten. Men­schen, die bei der Gesell­schaft für Inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit (GIZ) ange­stellt waren und Pro­jek­te der deut­schen Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit durch­ge­führt haben, erhal­ten nur eine Auf­nah­me­er­laub­nis, wenn sie zusätz­lich glaub­haft machen, dass eine indi­vi­du­el­le Gefähr­dung vor­liegt. Dabei ist zu beden­ken: Erst durch das Han­deln der west­li­chen Staa­ten wur­den die­se Men­schen in Afgha­ni­stan in Gefahr gebracht. Wer als »ver­west­licht « gilt, muss aus Afgha­ni­stan eva­ku­iert und auf­ge­nom­men werden.

Mehr Infor­ma­tio­nen zum Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm ste­hen auf der Infor­ma­ti­ons­sei­te zum Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums und des Aus­wär­ti­gen Amtes. Dort gibt es auch ein FAQ.

(Anni­ka Hes­sel­mann, Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen und Mit­ar­bei­te­rin des PRO ASYL-Afghanistannetzwerkes)