17.08.2021
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Keine zwei Monate nach dem Abzug der westlichen Truppen: Afghan*innen versuchen verzweifelt, noch auf den Flughafen in Kabul und von dort in Sicherheit zu gelangen. Foto: picture alliance / AA / Haroon Sabawoon

Taliban, die sich im Präsidentenpalast breitmachen. Ein öffentliches Leben, aus dem Frauen von jetzt auf gleich fast komplett verschwunden sind. Die Ereignisse der letzten Tage am Kabuler Flughafen: Wenn man diese Bilder sieht - wie surreal mutet es da an, dass Deutschland noch vor kurzem nach Afghanistan abschieben wollte?

Das Aus­maß der Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung und des Ver­sa­gens der Bun­des­re­gie­rung zeigt sich allein dar­an, dass Anfang August erst der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) eine Abschie­bung aus Öster­reich ver­hin­dern und anschlie­ßend die Zivil­ge­sell­schaft einen Abschie­be­stopp erkämp­fen muss­te, damit nicht noch mehr Men­schen in das lebens­ge­fähr­li­che Cha­os in Afgha­ni­stan zurück­ge­schickt wer­den. Aber das ist nur der letz­te Bau­stein in einer Rei­he von Ver­feh­lun­gen, die für vie­le Men­schen nun letzt­lich töd­lich enden könnten.

Die Warnungen waren da

Bereits Ende April wand­te PRO ASYL sich ange­sichts des ange­kün­dig­ten Abzugs der NATO-Trup­pen an ver­schie­de­ne deut­sche Minis­te­ri­en, um Vor­schlä­ge zur zügi­gen Auf­nah­me von Orts­kräf­ten zu machen – unter ande­rem mit der For­de­rung nach einer sofor­ti­gen Aus­rei­se mit Visa­er­tei­lung bei der Ankunft. Denn wir wis­sen aus den Erfah­run­gen beim lang­wie­ri­gen Fami­li­en­nach­zug, wie lan­ge sich Visa­ver­fah­ren in Aus­lands­ver­tre­tun­gen zie­hen kön­nen. Zeit, die die­se Men­schen nicht haben, wie vie­le Afghanistan-Expert*innen schon vor dem Abzug vorhersagten.

Als Ende Juni die letz­ten Bun­des­wehr­sol­da­ten das Land ver­lie­ßen, wur­den vor­her über 20.000 Liter Bier, Wein und Sekt sowie ein 27 Ton­nen schwe­rer Gedenk­stein »in Sicher­heit« gebracht. Nicht aber die Men­schen, die jah­re­lang ihr Leben riskierten.

Als Ende Juni die letz­ten Bun­des­wehr­sol­da­ten das Land ver­lie­ßen, wur­den vor­her über 20.000 Liter Bier, Wein und Sekt sowie ein 27 Ton­nen schwe­rer Gedenk­stein »in Sicher­heit« gebracht. Nicht aber die Men­schen, die jah­re­lang ihr Leben ris­kier­ten und für das deut­sche Mili­tär oder ande­re Insti­tu­tio­nen tätig waren. Auch zu die­sem Zeit­punkt gab es von zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen und ein­zel­nen Par­tei­en schon For­de­run­gen nach einer raschen Eva­ku­ie­rung und deut­li­che War­nun­gen vor dem Tali­ban-Vor­marsch. »Jetzt sind Schnel­lig­keit und unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren gefragt – es kommt auf jeden ein­zel­nen Tag an«, warn­te PRO ASYL am 24. Juni. Die­se War­nung ver­hall­te unge­hört – wie auch alle folgenden.

Die Chronik der Schande

Denn die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen in der Bun­des­re­gie­rung waren damit beschäf­tigt, aus wahl­kampf­tak­ti­schen Grün­den auf Teu­fel komm‘ raus wei­ter­hin Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan durch­zu­füh­ren. Am 6. Juli wur­den noch über 20 afgha­ni­sche Geflüch­te­te vom Flug­ha­fen Han­no­ver aus abge­scho­ben. Mit­te Juli erschien ein »neu­er« Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes, der die Gebiets­ge­win­ne der Tali­ban nach dem Abzug der NATO-Trup­pen über­haupt nicht berück­sich­tig­te, die kata­stro­pha­le Sicher­heits­la­ge igno­rier­te, Gefah­ren für Rückkehrer*innen her­un­ter­spiel­te und damit den Boden für die wei­te­re Mög­lich­keit von Abschie­bun­gen berei­ten sollte.

Am 3. August schließ­lich soll­te ein geplan­ter Abschie­be­flug sogar noch vor­ver­legt wer­den, um buch­stäb­lich in letz­ter Sekun­de noch Men­schen abzu­schie­ben. Erst ein EGMR-Urteil zu einem Betrof­fe­nen aus Öster­reich stopp­te den gemein­sa­men Flug der bei­den Län­der.

Am 9. August ver­fass­te Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer gemein­sam mit sei­nen Kolleg*innen aus Bel­gi­en, Öster­reich, Grie­chen­land, Däne­mark und den Nie­der­lan­den einen Brief an die EU-Kom­mis­si­on. Tenor: Ein Abschie­be­stopp sei ein »fal­sches Signal«, es müs­se unbe­dingt dafür gesorgt wer­den, dass Abschie­bun­gen wei­ter statt­fin­den kön­nen. Der ehe­ma­li­ge Bun­des­wehr­stand­ort Kun­dus war da schon in der Hand der Taliban.

Politiker*innen, die sich eben noch für Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan aus­ge­spro­chen haben, ver­gie­ßen nun Krokodilstränen.

Erst zwei Tage spä­ter, nach einem brei­ten zivil­ge­sell­schaft­li­chen Appell, kam – ansatz­wei­se – die Ein­sicht: Der Bun­des­in­nen­mi­nis­ter erklär­te die »Aus­set­zung« von Abschie­be­maß­nah­men nach Afgha­ni­stan. Aber anstatt den Ernst der Lage zu begrei­fen, die geplan­ten Char­ter­ma­schi­nen zum Aus­flie­gen gefähr­de­ter Per­so­nen zu nut­zen und eine Luft­brü­cke ein­zu­rich­ten, die PRO ASYL schon am 9. August gefor­dert hat­te, ließ die Bun­des­re­gie­rung auch die­se wert­vol­len Tage ver­strei­chen. Mit dem bekann­ten Resultat.

Dass die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen nun von der Ent­wick­lung in Afgha­ni­stan über­rascht sind, ist erstaun­lich bis absurd. Wenn Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen wie PRO ASYL in der Lage sind, die Situa­ti­on rea­lis­tisch ein­zu­schät­zen, soll­te dies den höchs­ten poli­ti­schen Ebe­nen die­ses Lan­des eben­falls mög­lich sein. Eben­so befremd­lich wirkt es, wenn Politiker*innen, die sich eben noch für Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan aus­ge­spro­chen haben, nun Kro­ko­dils­trä­nen vergießen.

Keine Hilfe für die Ortskräfte und andere

Vie­le der ehe­ma­li­gen Orts­kräf­te hat­ten sich indes auf die lee­ren Wor­te (»Wir wer­den denen hel­fen – und hel­fen ihnen schon – die uns gehol­fen haben« – Regie­rungs­spre­cher Sei­bert im Juli) ver­las­sen. Sie wen­de­ten sich an die spär­li­chen Anlauf­stel­len, gaben ihre Päs­se ab, bean­trag­ten Visa. Und blie­ben in Afgha­ni­stan, denn die Anträ­ge von Orts­kräf­ten konn­ten nur von dort gestellt wer­den und nicht aus dem Aus­land. Die Men­schen muss­ten also, anstatt sich schon ein­mal in Nach­bar­län­dern in Sicher­heit zu brin­gen, dort aus­har­ren und auf die Ant­wort der Deut­schen warten.

Vie­le haben schlicht­weg nicht ein­mal eine Rück­mel­dung erhal­ten, ange­kün­dig­te Büros für Orts­kräf­te wur­den nie eröffnet.

Bei den meis­ten geschah jedoch nichts – das zei­gen die etli­chen Zuschrif­ten von ver­zwei­fel­ten Afghan*innen an die PRO ASYL-Ein­zel­fall­be­ra­tung in den letz­ten Wochen und Mona­ten. Vie­le haben schlicht­weg nicht ein­mal eine Rück­mel­dung erhal­ten, ange­kün­dig­te Büros für Orts­kräf­te wur­den nie eröff­net. Noch nicht ein­mal eine Kon­takt-E-Mail Adres­se wur­de ver­öf­fent­licht. Das Ver­spre­chen der offi­zi­el­len Stel­len, Infor­ma­tio­nen zu lie­fern, die den hil­fe­su­chen­den Men­schen zugäng­lich gemacht wer­den kön­nen, wur­de eben­so­we­nig ein­ge­hal­ten, wie die Hilfs­zu­sa­gen an die Orts­kräf­te generell.

Etli­che ver­zwei­fel­te Afghan*innen mel­den sich bei uns. Wir ver­öf­fent­li­chen hier anony­mi­siert ihre #Stim­men­Aus­Ka­bul
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Etli­che ver­zwei­fel­te Afghan*innen mel­den sich bei uns. Wir ver­öf­fent­li­chen hier anony­mi­siert ihre #Stim­men­Aus­Ka­bul

Letzt­lich flo­hen vie­le der Betrof­fe­nen nach Kabul, mit der letz­ten Hoff­nung, von dort doch noch in Sicher­heit gebracht zu wer­den. Dort sit­zen sie nun fest. Eben­so wie Men­schen, die über Sub­un­ter­neh­men für deut­sche Insti­tu­tio­nen tätig waren und im Orts­kräf­te-Pro­gramm gene­rell nicht berück­sich­tigt wer­den sol­len. Eben­so wie die Fami­li­en von poli­tisch Ver­folg­ten, die in Deutsch­land Schutz erhal­ten haben und oft seit Jah­ren auf den ihnen zuste­hen­den Fami­li­en­nach­zug war­ten. Eben­so wie z.B. jun­ge, aber bereits voll­jäh­ri­ge Frau­en, die bei Eva­ku­ie­rungs­maß­nah­men allei­ne außen vor gelas­sen wer­den, weil sie angeb­lich nicht »zur Kern­fa­mi­lie« gehö­ren – als wür­den sich die Tali­ban für das deut­sche Kon­zept der Kern­fa­mi­lie und für die exak­te Aus­ge­stal­tung von Arbeits­ver­trä­gen interessieren.

Luftbrücke jetzt! Schafft sichere Fluchtwege aus Afghanistan!

Noch immer errei­chen uns Hil­fe­ru­fe aus Kabul – und meist wis­sen wir nicht, wie wir sie aktu­ell beant­wor­ten sol­len. Denn es gibt kei­ne trans­pa­ren­ten Infor­ma­tio­nen dar­über, wo sich gefähr­de­te Men­schen mel­den kön­nen, was dann pas­siert und ob und wie sie das Land noch ver­las­sen können.

Es braucht JETZT eine über die ers­te Eva­ku­ie­rung hin­aus­ge­hen­de Auf­nah­me von gefähr­de­ten Men­schen aus Afghanistan.

Wir for­dern: Es muss eine Luft­brü­cke mög­lich gemacht wer­den. Und es braucht JETZT eine über die ers­te Eva­ku­ie­rung hin­aus­ge­hen­de Auf­nah­me von gefähr­de­ten Men­schen aus Afghanistan.

Hier­zu gehö­ren die Orts­kräf­te deut­scher Minis­te­ri­en und Sub­un­ter­neh­men, Orga­ni­sa­tio­nen sowie deut­scher bzw. deutsch finan­zier­ter NGOs und Stif­tun­gen inklu­si­ve ihrer Fami­li­en; Journalist*innen, die für deut­sche Medi­en gear­bei­tet oder sich in ihnen kri­tisch geäu­ßert haben; Wissenschaftler*innen, die in Deutsch­land stu­diert oder geforscht haben; Frau­en- und Menschenrechtsverteidiger*innen, gefähr­de­te Autor*innen, Künstler*innen, Sportler*innen sowie Ange­hö­ri­ge reli­giö­ser, eth­ni­scher und sexu­el­ler Min­der­hei­ten. Hin­zu kom­men Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von in Deutsch­land leben­den Afghan*innen, die zum Teil bereits seit Jah­ren auf Visa zum Fami­li­en­nach­zug warten.